Hexen verbrennen, Geldfälscher hängen

»Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.« (MEW 23: 783)

Karl Marx stimmt mit diesem Satz an, wie die moderne Eigentums- und Geldordnung durchgesetzt wurde, blut- und schmutztriefend, als Resultat eines gewaltsamen Prozesses. Er wendet sich damit gegen die Selbstverklärung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte – etwa in der Politischen Ökonomie – gern als eine von Fortschritt und Zivilisation zeichnet und idealisiert. Dieses Bild zurecht zu rücken, fällt vor allem bei den Kategorien Geld und Eigentum schwer, die als etwas Selbstverständliches, immer schon Vorhandenes gelten. In der Vergangenheit werden nur die modernen Formen wiedererkannt, statt diese in ihrer historischen Spezifik zu begreifen. Marx hatte für diese Form der Rückprojektion oft beißenden Spott übrig. Während Marx die historische Durchsetzung der modernen Eigentumsordnung im Kapital kritisch nachzeichnet, bleiben seine Ausführungen zu Geld auffällig spärlich. Für die PROKLA bin ich der Genese nachgegangen und wollte dem historischen Hintergrund des Zitats zu Hexerei und Geldfälschung nachgehen. Leider war hierfür kein Platz und der Exkurs hätte etwas vom Thema des Beitrags weggeführt. Deshalb möchte ich meine Notizen hier zugänglich machen.

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Wie unwissenschaftlich ist die Arbeitswerttheorie?

Ich habe mir den Wohlstand-für-alle-Podcast zum Kapital angesehen und es gäbe viel zu sagen, aber die Bitte, mich zu Wort zu melden, war nicht der Podcast, sondern ein Twitter-Thread bzw. ein Reply darauf. Auch hier gäbe es viel zu sagen und zu erwidern. Ja, der Thread bietet Anlass, einen längeren Text zum Thema zu schreiben, denn es stimmt: In jedem Kapital-Kurs ist die Frage danach, ob die Arbeitswerttheorie noch gilt, eine gern diskutierte Frage, eine, die sich bis zum dritten Band zieht, wie das Trafo-Problem zeigt (worauf ich gar nicht eingehen will). Ich will nur zwei Anmerkungen machen, die viel zu lang geraten sind, um sich bei Twitter wohl zu fühlen. Es ist aber auch noch kein längerer Text.

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Sammelband »Work-Work-Balance« erschienen

»Die deutsche Wirtschaft braucht mehr als bloße Experimentierräume, wir fordern mit Nachdruck ein grundlegendes Update des Arbeitszeitgesetzes.«
Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

»Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.«
Karl Marx

Mit dem Untertitel «Marx, die Poren des Arbeitstags und neue Offensiven des Kapitals« ist der von mir herausgegebene Sammelband »Work-Work-Balance« bei Dietz Berlin erschienen.

Wie im Kapitalismus aus Geld mehr Geld werden kann, zeigt Marx im »Kapital«. Das Zauberwort lautet Ausbeutung. Sie umfasst auch immer die Verfügungsmacht über die Arbeits- und Lebenszeit derjenigen, die ausgebeutet werden. Es wundert also nicht, dass eines der zentralen Kapitel im »Kapital« den Arbeitstag und seine Grenzen diskutiert. Ebenso wenig verwundern die immerwährenden Forderungen von Unternehmensverbänden nach längeren und flexibleren Arbeitszeiten inkl. längerer Lebensarbeitszeit. »Work-Work-Balance« geht vor diesem Hintergrund auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits von Selbstoptimierung und Arbeitsverdichtung den historischen und vor allem aktuellen Kämpfen um Lebens- und Arbeitszeit nach.

Mit Beiträgen von Christian Brütt, Christian Christen, Christoph Deutschmann, Lukas Eggert, Norman Jakob, Leo Kühberger, Kalle Kunkel, Hanna Meißner, Gabriela Muri, Gisela Notz, Claudia Sorger und Regina Wecker.

Inhaltsverzeichnis und Bestellmöglichkeit gibt es direkt im Dietz-Berlin-Online-Shop.

Ein nagelneuer blauer Band, die MEW Nummer 44, ist aus dem Druck

Nach fast 30 Jahren ist es jetzt wieder soweit: Ein nagelneuer blauer Band, die MEW Nummer 44, ist aus dem Druck und glänzt, nicht nur mit den goldenen Lettern auf dem Titel, sondern auch mit Vorwort, Register, etc.pp., ediert und kommentiert von Rolf Hecker und mir – mit einem interessanten Entstehungskontext.

Rechtzeitig zum 200. Geburtstag von Karl Marx erscheint damit erstmals ein weiterer Band der Marx-Engels-Werke. Mit dem neuen Band MEW 44 liegt das 23 Hefte umfassende Manuskript »Zur Kritik der politischen Ökonomie« in den Marx-Engels-Werken nun fast vollständig vor. Teile davon sind bereits in den Bänden MEW 26.1-3 und 43 erschienen. Marx schrieb dieses Manuskript in den Jahren 1861 bis 1863. Es ist die größte zusammenhängende Ausarbeitung, die Marx zwischen den »Grundrissen« und dem »Kapital« verfasst hat. Die Manuskripte, die jetzt als MEW 44 erscheinen, erlauben einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Marx mit der Darstellung der Mehrwertproduktion und der Akkumulation des Kapitals gerungen hat. Aus der Perspektive des »Kapital« gelesen, kann man hier nachvollziehen, wie Marx manchen theoretischen Problemen bei der Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse einerseits einen Schritt näher war, andere Probleme, wie die Verwandlung von Mehrwert in Profit, jedoch noch nicht lösen konnte. Die Manuskripte gewähren damit einen intimen Blick in das Forschungslabor von Marx. → Zum Karl Dietz Verlag.

Soft Shell, Hard Core: On the 150th Anniversary of the Publication of Karl Marx’s Capital, Vol. 1

Isaac Deutscher once told the following story about reading Capital:

I was relieved to hear that Ignacy Daszynski,1 our famous member of parliament, a pioneer of socialism, … admitted that he too found hard a nut. “I have not read it,” he almost boasted, “but Karl Kautsky has read it. I have not read Kautsky either, but Kelles-Krauz, our party theorist, has read him, and he summarized Kautsky’s book. I have not read Kelles-Krauz, either, but … Herman Diamond, our financial expert, has read Kelles-Krauz, and he has told me all about it.”2

Deutscher’s anecdote illustrates the fate of Karl Marx’s most important work, Das Kapital. Since then, the summaries and their contexts of origin have changed, as well as why and who wrote them and what they focus on—but the original still often sits unread on the shelf. But which original actually? Continue reading “Soft Shell, Hard Core: On the 150th Anniversary of the Publication of Karl Marx’s Capital, Vol. 1”

Weiche Schale, harter Kern. Vor 150 Jahren erschien der erste Band des »Kapitals« von Karl Marx

Von Ingo Stützle

»Das Kapital« sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski (1), er habe es deshalb nicht gelesen. Aber Karl Kautsky habe es gelesen und vom ersten Band eine populäre Zusammenfassung geschrieben. Diese habe er zwar ebenfalls nicht rezipiert, aber Kazimierz Kelles-Krauz, der Parteitheoretiker, habe Kautskys Buch gelesen und es zusammengefasst. Kelles-Krausz Abriss habe er zwar auch nicht gelesen, aber der Finanzexperte der Partei, Hermann Diamand, habe sie gelesen und ihm, Daszynski, alles darüber erzählt.

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Einblicke in Marx’ Laboratorium – Neuerscheinung

Im April 1867 fährt Karl Marx nach Hamburg. Im Gepäck befindet sich das Manuskript zum »Kapital«. Zu Besuch bei seinem Freund Ludwig Kugelmann in Hannover treffen die ersten Druckfahnen ein und Kugelmann setzt Marx einen Floh ins Ohr: Der Anfang des »Kapitals« sei derart kompliziert, dass Marx einen erläuternden Anhang schreiben soll. Zurück in London macht sich Marx an die Arbeit. Viele, die sich mit der Wertformanalyse beschäftigen, kennen nur die MEW 23, die sich an der Auflage von 1890 orientiert. Anlässlich 150 Jahre »Das Kapital« wird nun der Anfang der Erstauflage erstmals allgemein zugänglich gemacht.

Der Band enthält die in der ersten Ausgabe von 1867 veröffentlichten beiden Fassungen des Wertformabschnitts, einen Teil des Überarbeitungsmanuskripts für die 2. Auflage (1873) und den  entsprechenden Teil aus der Broschüre »Kapital und Arbeit« von Johann Most, den Marx redigiert hat. Die unterschiedlichen Fassungen verdeutlichen, wie Marx darum gerungen hat, den logisch-systematischen  Zusammenhang im »Kapital« klar herauszuarbeiten, im Unterschied zur populären Darstellung in »Kapital und Arbeit«, wo eine historische Abfolge der Kategorien, also sozusagen die Herausbildung des Warenaustausches in den vorkapitalistischen Gesellschaften, illustriert wird.

Karl Marx: Die Wertform
Hrsg. von Rolf Hecker und Ingo Stützle
224 Seiten, Bruschur
ISBN 978-3-320-02334-8
Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2017

(Die kleine Schwester der MEW – demnächst komplett im Schuber)

Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung

Vor mehr als 20 Jahren erschien der erste Band des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM). Das erste Vorwort im ersten Band ist noch geprägt vom Ende des »Nominalsozialismus« (Agnoli) und dem sogenannten Ende der Geschichte. Es sei, so heißt es gleich auf der ersten Seite, hinsichtlich eines Vergleichs mit anderen Wörterbüchern, als spräche das HKWM »in ein gähnendes Schweigen hinein«. Seitdem hat sich einiges verändert. Der Stille folgte ein Gemurmel und das Bedürfnis vieler Linker, sich positiv auf »den« Marxismus zu beziehen. Angesichts der Krise 2008ff. wurde Marx wiederentdeckt, ebenso vom Feuilleton und damit auch so manches Ressentiment. Viele Jüngere haben es mitunter schwer, sich die Traditionslinien des Marxismus anzueignen, ohne sich an antikommunistischen Abziehbildchen abzuarbeiten. Orientierung könnte das Historisch-kritischen Wörterbuch (HKWM) bieten, von dem nun Band 8.I vorliegt.

Während im ersten Band die Grenzen noch recht eng gefasst scheinen, bleibt unklar, warum in den folgenden Bänden die Stichworte »Jeans« und »Klonen« oder »Lüge« und »Mafia« im aktuellen Band zu finden sind. Sicher, es sind durchaus interessante Texte, und sicher lässt sich auch mit einer an Marx orientierten Kritik zu vielem etwas sagen – nur warum muss das in ein Wörterbuch? (1) Vor diesem Hintergrund ist es schließlich verwunderlich, dass ein paar Begriffe fehlen, die man als Kopie etwa gerne in einem Kapital-Lektürekurs verteilen könnte. Etwa die Frage nach der »Grenznutzentheorie«, auch »Marginalismus« genannt (beide Begriffe fehlen). Die ist heute die vorherrschende Form der Erklärung von »Wert«, die Marx’ Ansatz fundamental widerspricht. Dass Marx, der diese Ansätze noch nicht kennen konnte, deren Vorläufer einfach als »Vulgärökonomie« links liegen ließ, macht die Sache nicht einfacher. Die Begriffe »Lohnform« und »Lumpenproletariat« im neuen Band (oder »Krisentheorie« im vorherigen) bieten hingegen eine sehr gute Orientierung für das marxsche Werk und die anschließenden Debatten bzw. dafür, welche unrühmliche Funktion Begriffe mitunter im Marxismus erfüllten (»Lumpenproletariat«). Continue reading “Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung”

Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben

Sie war eine der wichtigsten englischsprachigen Marxistinnen: Ellen Meiksins Wood. Geboren 1942 in New York, studierte die Tocher lettischer Flüchtlinge Politikwissenschaften in Los Angeles, lehrte später in Toronto und publizierte in vielen linken Theoriezeitschriften. Ellen Meiksins Wood war Redaktionsmitglied der New Left Review, neben unter anderem Paul M. Sweezy Mitherausgeberin der »Monthly Review« und Autorin für das »Socialist Register« und »Against the Current«. Hierzulande sorgte sie unter anderem mit dem Buch »Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus« für Aufmerksamkeit. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch »Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche«. Continue reading “Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben”

FAQ. Noch Fragen? Der Kampf gegen die Zeit des Kapitals

Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander arbeiten. Die Formen, wie Arbeitsteilung organisiert ist, sind sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind es recht unterschiedliche soziale Logiken, die da am Werke sind.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen, dass vor allem Frauen ihre Lebenszeit dem Haushalt opfern müssen. Damit überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen einen Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Arbeit hat: Das Arbeitsamt will nicht, dass man in Urlaub geht, man soll sich vielmehr »zur Verfügung« halten. Die sozialen Logiken, die über Teile unserer Lebenszeit verfügen, sind aber durchaus verschieden – und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen institutionalisiert: (Sozial-)Staat, Haushalt oder Kapital. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Der Kampf gegen die Zeit des Kapitals”

Der Gott der Waren. Die ökonomische Theorie und ihr Geld

PROKLA 179: Illusion und Macht des GeldesIn Krisensituationen wird der gesellschaftliche Umgang mit Geld‬ verstärkt zum Problem – und ein politisches prisantes Thema. So auch in den letzten Jahren. Das hat die PROKLA zu einem Schwerpunktheft zu Geld motiviert. Unbestritten spielt Geld eine zentrale Rolle, die kapitalistische Wirtschaft ist wesentlich Geldwirtschaft: Geld regiert die Welt. Aber hier beginnt bereits die Unübersichtlichkeit. Es herrschen sehr unterschiedliche Auffassungen davon, in welchem Sinne Geld relevant ist. Mein einführender Beitrag »Der Gott der Waren. Die ökonomische Theorie und ihr Geld« soll im ersten Teil einen Überblick über die großen Paradigmen der politischen Ökonomie geben – Neoklassik‬, Keynes‬ und Marx‬. In einem zweiten Teil werden drei relevante Problemfelder diskutiert (Inflation‬, Kredit‬, gegenwärtiges Geldsystem). Der Beitrag ist jetzt im Volltext online. Das Editorial und der Inhalt findet sich hier.

Ein typischer Fall von Prokrastination: Vor 150 Jahre hielt Karl Marx einen Vortrag »Value, price and profit«

Vor genau 150 Jahren, am 27. Juni 1865, hielt Karl Marx den zweiten Teil eines Vortrags vor dem Provisorischen Zentralrat der Internationale Arbeiterassoziation (IAA), der später als Value, price and profit bekannt wurde. [1.]  Marx selbst hatte das Vortragsskript nicht veröffentlicht und es war auch nicht dafür vorgesehen. Vielmehr war es wirklich das Vortragsmanuskript, denn entgegen so manchen Mythen war Marx nämlich alles andere als ein guter Redner – er las ab. Die Blätter trugen keine Überschrift. Angefangen zu schreiben hatte Marx bereits im Mai. Der erste Teil des Vortrags (20.6.1865) arbeitete sich an John Weston ab, der zuvor ein Vortrag hielt. Von ihm ist wenig bekannt. Laut Thomas Kuczynski nicht einmal die Lebensdaten. Er war Gründungsmitglied der IAA, Arbeiter, »old Owenist« (Marx) und Aktivist, der auch nach 12 Stunden Arbeit für den Sozialismus agitierte. Bei der Spaltung der IAA 1872 folgte er nicht dem von Marx angeführten Flügel. Weston war also ein IAA-Genosse, dessen Thesen Marx so nicht stehen lassen wollte. Schließlich ging es um die politische Ausrichtung der IAA, die in diesen Jahren viele Grundsatzdebatten führte, etwa wie sich zu Gewerkschaften und ihren Kämpfen verhalten sollte. Continue reading “Ein typischer Fall von Prokrastination: Vor 150 Jahre hielt Karl Marx einen Vortrag »Value, price and profit«”

Das Geld, Gott der Waren. Zur Debatte über die Abschaffung des Bargeldes

Greece EuroDie Debatte über die Abschaffung des Bargeldes hat viele Leerstellen. Und Lehrstellen: Sie fördert das Kapitalismusverständnis – und befähigt zu Kritik an den Verhältnissen.

Um es kurz zu machen: Ja, es ist sinnvoll, Bargeld abzuschaffen. Schon aus hygienischen Gründen. Eine Untersuchung der New York University identifizierte etwa 3000 Bakterientypen allein auf einem US-Dollar-Schein – nur 20 Prozent der nichtmenschlichen DNA konnten genauer bestimmt werden. Und natürlich hat man auch Kokain gefunden.

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Das Kapi­tal ist außer sich. Luxem­burgs Begrün­dung der Not­wen­dig­keit nicht­ka­pi­ta­lis­ti­scher Milieus

»Ich … hasse Ber­lin und die Deut­schen schon so, dass ich sie umbrin­gen könnte. Über­haupt braucht man anschei­nend zum Leben eine Reserve an Gesund­heit und Kräf­ten.« (Rosa Luxem­burg an Leo Jogi­ches, 16. Mai 1898)

Am 10. Mai referierte ich auf Einladung der jour fixe initia­tive berlin zu Rosa Luxemburg. In der Ankündigung hieß es:

Im zweiten Band des Kapital verdeutlicht Karl Marx, dass die kapitalistische Produktionsweise zu ihrem Funktionieren vieler Voraussetzungen bedarf. Bis heute wird im Anschluss an Rosa Luxemburg darüber diskutiert, ob Marx hierbei nicht vernachlässigt habe, dass dies nur auf Grundlage kapitalistischer Expansion in nichtkapitalistische Milieus möglich sei. Luxemburg argumentiert im Anschluss an die Marxschen Reproduktionsschemata, dass der Kapitalismus nicht nur krisenhaft, sondern immer auch expansiv sein müsse. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, die Trennung der unmittelbaren Produzent_innen von ihren Produktionsmitteln, habe den Kapitalismus demnach nicht nur in die Welt verholfen, sondern bleibe eine systematische Voraussetzung des Kapitalverhältnisses. Die Veranstaltung soll Luxemburgs Marx-Kritik kritisch diskutieren.

Nach dem Vortrag wurde ich mehrmals gebeten, die Folien, die ich dort präsentierte, zugänglich zu machen. Das möchte ich hiermit tun.

Die Grafik am Ende der Folien ist von Urs Lindner (»Macht Arbeitsteilung Sinn? Zur Relevanz von Marx für die gegenwärtige Sozialtheorie«, in: Bude, Heinz/ Damitz, Ralf M., et al. (Hg.): Marx. Ein toter Hund? Gesellschaftstheorie reloaded, Hamburg 2010, 175-197.).

Die detaillierte Auseinandersetzung mit den Reproduktionsschemata findet ihr hier. An anderer Stelle bin ich aus Anlass von 100 Jahre Erster Weltkrieg nochmal auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg eingegangen und habe unter anderem den Ansatz von Luxemburg kritisch diskutiert.

Zudem möchte ich die Gelegenheit nicht verpassen, auf Ursula Schmiederers Text zum Verhältnis von Organisation und Spontaneität bei Rosa Luxemburg hinzuweisen.

Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren neun Exzerpthefte.

Vor ziemlich genau 150 Jahren, um den 23. März 1865 herum, bekam Karl Marx Post aus Deutschland. Der Philosoph und Ökonom lebte da bereits seit 15 Jahren in London. Mit dem Schreiben des Otto-Meißner-Verlags kamen auch die Vertragsunterlagen für ein Buch, das später zu einem der weltbekanntesten werden sollte: »Das Kapital«. Ein Erscheinen war für den Herbst 1867 geplant.

Etwa 20 Jahre vor diesem einschneidenden Ereignis betrat Marx das erste Mal englischen Boden. Eine Studienreise führte ihn zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels nach Manchester, wo Engels schon einige Zeit verbracht hatte. Beide planten die Herausgabe einer »Bibliothek der vorzüglichsten sozialistischen Schriftsteller des Auslandes« und wollten hierfür Material sichten. Marx plante zudem eine Schrift, die nie erschien: »Zur Kritik der Politik und Nationalökonomie«.

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren jedoch neun Exzerpthefte. Vier der sogenannten Manchester-Hefte sind jetzt in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erschienen (die Hefte 1 bis 5 bereits 1988) – sie markieren einen Übergang in Marx’ Arbeit und Selbstverständnis. Die Herausgeber des neuen MEGA-Bandes bezeichnen die Zeit ab 1845 deshalb auch als »formative Phase«: »Marx begibt sich in dieser Phase ganz bewusst auf das Feld der politischen Ökonomie und damit auf die Ebene eines Wissenstyps, der gerade erst seine Formierung und Kanonisierung abgeschlossen hat und maßgeblich das Gesellschaftsdenken des 19. Jahrhunderts prägen wird.« Der Untertitel des Kapitals wird nicht ohne Grund »Kritik der politischen Ökonomie« sein.

1845 rechneten Marx und Engels mit ihrem »philosophischen Gewissen« ab, wie Marx es selbst formulierte. Marx lässt ein bestimmtes theoretisches Selbstverständnis hinter sich, wendet sich zunehmend der Ökonomiekritik zu – und auch das »Proletariat« ist nicht mehr einfach ein philosophischer Begriff, sondern eine reale, soziale Größe, die wirkliche Assoziation der kämpfenden Arbeiterklasse. »Man muss die ›Philosophie beiseite liegen lassen‹«, schrieben Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie«, die fast zeitgleich entstand. Beide sind geradezu berauscht von der gesellschaftlichen Realität und der Empirie, von realen Auseinandersetzungen und der Materialität gesellschaftlicher Praxis – und »der Produktion« im umfassenden Sinn. Etwas, was 1845 in Manchester auch außerhalb der Studierstube zu erfahren war. Manchester war eines der industriellen Zentren der Welt. Aber nicht nur deshalb gingen die beiden Revolutionäre nach Manchester und nicht etwa nach London. Die englische Weltmetropole hatte zwar ungleich mehr Literatur zu bieten, aber ein Bibliotheksbesuch hätte nicht nur Geld gekostet, sondern er war zudem alles andere als einfach: Man brauchte eine persönliche Empfehlung, um überhaupt eine Besucherkarte zu bekommen. In Manchester kannte sich Engels zudem gut in den Bibliotheken aus, Bücher waren einfach auszuleihen und auch Genossen im Vorort hatten Material, das man sichten konnte. Continue reading “Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«”