Weiche Schale, harter Kern. Vor 150 Jahren erschien der erste Band des »Kapitals« von Karl Marx

Von Ingo Stützle

»Das Kapital« sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski (1), er habe es deshalb nicht gelesen. Aber Karl Kautsky habe es gelesen und vom ersten Band eine populäre Zusammenfassung geschrieben. Diese habe er zwar ebenfalls nicht rezipiert, aber Kazimierz Kelles-Krauz, der Parteitheoretiker, habe Kautskys Buch gelesen und es zusammengefasst. Kelles-Krausz Abriss habe er zwar auch nicht gelesen, aber der Finanzexperte der Partei, Hermann Diamand, habe sie gelesen und ihm, Daszynski, alles darüber erzählt.

Die von Isaac Deutscher überlieferte Anekdote illustriert das Schicksal der wichtigsten Schrift von Karl Marx: »Das Kapital«. (2) Inzwischen haben sich die Zusammenfassungen und die jeweiligen Kontexte ihrer Entstehung geändert, ebenso warum und von wem sie geschrieben wurden und auf was sie jeweils einen Schwerpunkt legen – aber das Original steht sicher noch immer oft ungelesen im Regal. Aber welches Original eigentlich?

Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels meldete am 14. September 1867, dass »Das Kapital« erschienen ist. Die Leipziger Druckerei von Otto Wigand musste dafür 3,2 Tonnen Bleisatz in Bewegung setzen, um die 1.000 Exemplare »ordinär« zu drucken, wie es damals hieß, das heißt ohne Einband, eingeschlagen in einem gelben papiernen Umschlag. Wer ein »richtiges« Buch haben wollte, musste es erst einmal zum Buchbinder bringen. Die Seiten waren zudem ungeschnitten. Der Band kostete drei Taler und zehn Neugroschen. Das war der Wochenlohn eines qualifizierten männlichen Arbeiters. Fremdsprachige Zitate und Ausdrücke waren nicht übersetzt, es gab keinen Anmerkungsapparat, der irgendetwas erklärte. Das Buch war für normale Lohnabhängige weder bezahl- noch lesbar.

Welches Kapital eigentlich?

Die Erstauflage ist nicht das Buch, wie es die meisten kennen. Überhaupt lesen wir ein »Kapital«, das Marx so überhaupt nicht kannte. Marx war im April 1867 nach Hamburg zu seinem Verleger Otto Meissner gefahren. Er hatte Angst, dass dieser den Text zusammenstreichen würde. Es war nämlich ein etwas dünneres Buch ausgemacht. Meissner ließ in Leipzig drucken, damit Marx nicht neben der Druckerpresse stehen und in den Produktionsprozess eingreifen konnte. Marx besuchte deshalb seinen Freund Louis Kugelmann in Hannover. Dort trafen die ersten Druckbogen ein. Kugelmann schlug vor, in einem Anhang den Anfang übersichtlicher nachzuzeichnen. Dieser sei schwer verständlich. Friedrich Engels schloss sich der Kritik an. Obwohl das Buch also schon im Druck war, schrieb Marx einen Anhang, der den »kryptischen« Anfang aufbereitete. Engels war dennoch nicht zufrieden: »Aber wie hast Du die äußere Einteilung des Buches so lassen können, wie sie ist! Das 4. Kapitel ist fast 200 Seiten lang … Dabei der Gedankengang fortwährend durch Illustration unterbrochen und der zu illustrierende Punkt nie am Schluss der Illustration resümiert, so dass man stets … in die Aufstellung eines andren Punkts hineinplumpst. Das ist scheußlich ermüdend und bei nicht ganz scharfer Aufmerksamkeit auch verwirrend.«

Einen knappen Monat nach der Auslieferung des Bandes wandte sich Marx ungeduldig an Engels: »…nun (ist) die Zeit zur action gekommen. Du kannst besser über mein Buch … schreiben als ich selbst«. Engels schrieb zwei anonyme Rezensionen, die in »jede bürgerliche Zeitung passen«. Es ging darum, auf »Das Kapital« aufmerksam zu machen. An der Rezensionskultur schwer verständlicher Bücher hat sich in den letzten 150 Jahren also wenig verändert.

»Kapital« und Revolution

Der Verkauf lief schleppend. Es war immer die politische Konjunktur, die die Nachfrage nach Marx Hauptwerk beflügelte. Mit der Pariser Kommune 1871 stieg das Interesse am »Kapital« an. 1873 wurde eine Neuauflage nötig, für die Marx einen neuen Anfang schrieb, so dass der Anhang wegfiel und der ganzen Band neu gegliedert werden konnte. Im gleichen Jahr erschien der erste Teil der französischen Übersetzung, für die Marx etliche Veränderungen vornahm. In seinem Todesjahr kam eine unveränderte dritte Auflage auf den Markt, die bereits von Engels eingeleitet wurde und ankündigte, die marxschen Veränderungen in die vierte Auflage einzupflegen. Marx wollte »Das Kapital« sogar grundlegend überarbeiten und erwog, statt England die USA als Illustration heranzuziehen. Ihm war bewusst, dass sich das Zentrum kapitalistischer Entwicklung verschoben hatte. Dazu kam er nicht mehr, und Engels übernahm für die vierte Auflage zwar einige, aber längst nicht alle Veränderungen. Sie ist die Grundlage für die wohl bekannteste Fassung des »Kapitals«, den blauen Band MEW 23. Erst nach Marx Tod erschienen der zweite (1885) und dritte (1894) Band des »Kapitals«, aufbereitet und herausgegeben von Engels. Die dafür verwendeten Manuskripte waren inzwischen mitunter 30 Jahre alt. Die drei blauen Bände waren Marx also in ihrer Form völlig unbekannt.

Dass die »Kapital«-Lektüre immer im Zuge von sozialen Revolten, Revolutionen und Niederlagen Konjunktur hat, zeigt nicht nur die Niederschlagung der Pariser Kommune. Auch später, etwa nach 1918, als in Deutschland die Novemberrevolution zu einer breiteren Rezeption führte, waren bald mehrere Neuauflagen von Julian Borchardts »gemeinverständlichen« Zusammenfassung nötig. Ähnlich 1968, als es schon vor den massiven Revolten neue Aneignungen des »Kapitals« gab, nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich oder Italien. Seit den Protesten von Seattle (1999) und Genua (2001) stiegen die Verkaufzahlen beim Dietz-Verlag, der die blauen Bände verlegt, und wieder mit der jüngsten kapitalistischen Krise seit 2008.

Jede Generation las und liest das »Kapital« erneut. Jede schlägt sich mit den Lektüren der Generation davor herum. Deshalb gibt es kein Ende der Re-Lektüre. Nicht nur weil sich die zugängliche Manuskriptlage ändert, sondern auch, weil die historischen und politischen Situationen, in denen sich »Das Kapital« als Lektüre anbietet oder gar aufdrängt, jeweils andere und je spezifische sind.

In der Sowjetunion, plötzlich vor die Aufgabe gestellt, eine Planwirtschaft zu organisieren, wandten sich Ökonom_innen dem zweiten Band des »Kapitals« zu, um anhand des dort analysierten Reproduktionsprozesses schlauer zu werden. Georg Lukács verarbeitete seine Erfahrungen als Volkskommissar in der ungarischen Räterepublik in seinen Studien »Geschichte und Klassenbewußtsein« und nahm bestimmte Fragestellung eder Kritischen Theorie vorweg. Diese wendeten sich angesichts der massenhaften Unterstützung der Nazis, dem Ausbleiben einer proletarischen Revolution und der Niederlage der Arbeiterklasse der Frage zu, warum es nicht unmittelbar einsichtig ist, dass die kapitalistischen Verhältnisse überwunden werden mussten. Louis Althusser bot in Frankreich der KP-Orthodoxie die Stirn, ohne, wie damals üblich, sich vom »Kapital« ab- und dem »frühen Marx« zuzuwenden. In Italien mussten Marx und das Proletariat der mächtigen KPI entrissen werden, woraus die Strömung des Operaismus entstand. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Warum noch immer »Das Kapital« lesen? Die Herrschaft des Kapitals organisiert sich mitunter im Diskurs in der Wissenschaft der politischen Ökonomie. Sie übersetzt den Sachzwang des Marktes in »Argumente«, artikuliert die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Diese Wissenschaft kritisierte Marx als ganzes Wissensfeld in ihren Begrifflichkeiten und Prämissen, nicht in einzelnen Sachfragen (etwa »Lohnhöhe«). Marx formuliert die radikalste Ökonomiekritik. Radikal nicht einfach hinsichtlich der politischen Schlussfolgerungen, die sie zulässt, sondern hinsichtlich dessen, wie grundlegend er das Wissensfeld der Ökonomietheorie analysiert und in ihren Grundfesten erschüttert. Marx zeigt, dass der Kapitalismus aus sicher heraus krisenhaft und destruktiv, zerstörerisch gegenüber Menschen und Natur ist. Das ist kein wirtschaftspolitisch reparabler Konstruktionsfehler, der Fehler liegt im System.

Warum noch immer »Das Kapital« lesen?

Für die bürgerliche Ökonomietheorie bringen Konkurrenz, Warenproduktion, Profitstreben und Wachstum etc. noch immer quasi das menschliche Wesen zum Ausdruck, sind überhistorische Konstanten, nicht Resultate der spezifisch kapitalistischen Verhältnisse, die historisch entstanden sind und deshalb überwunden werden können. Genau das zeigt Marx’ Ökonomiekritik, deshalb ist sie hochaktuell. Darüber hinaus analysiert er die Destruktivität des Kapitals und die Form der Klassenkämpfe und Ausbeutung und kann zeigen, warum im Kapitalismus Geld »die Welt regiert«.

Im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream wird davon abgesehen, dass Geld für die Analyse kapitalistischen Wirtschaftens notwendig ist. Klügere Neoklassiker, wie etwa Frank H. Hahn, gestehen sogar ein, dass ihre Theorie keinen Platz für Geld habe – eine realitätsferne Modellierung der Wirtschaft. John Maynard Keynes, einer der wichtigsten Kritiker der Neoklassik, stellt zwar den monetären Charakter des Kapitalismus heraus, zeigt aber nicht, warum ausgerechnet der Kapitalismus wesentlich Geldwirtschaft sein muss. Er setzt Geld einfach voraus, statt zu begründen, warum es notwendig ist.

Die Herrschaft, so Marx, hat sich in sachlicher Form (Ware, Geld etc.) gegenüber den Menschen verselbstständigt, stellt sich als natürlich dar und ist unpersönlich. Das macht Befreiung komplizierter und die Frage, wie Aufklärung organisiert werden soll, um so dringlicher, schließlich weiß Marx, dass allein ein gutes Argument wenig politische Veränderung bewirkt. Aufklärung muss als politische Macht organisiert werden. Aufklärung muss Selbstaufklärung derjenigen sein, die sich vom Kapitalismus befreien wollen – keine Parteisache. »Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die Tat der Arbeiter selbst sein«, so Marx.

Das bedeutet auch, dass die Lektüre des »Kapitals« dem akademischen Elfenbeinturm entzogen werden muss. Die Universität ist eine zentrale Einrichtung des Bürgertums, das nicht mehr mit der Kirche, sondern mit der Wissenschaft im Rücken herrscht, sie ist institutionalisierter Ausdruck der Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Und es ist ein Mythos, dass sich »Kapital«-Lektüre und Organisierung ausschließen, dass hier nur geredet wird, dort die politische Praxis herrscht.

Paul Mattick, der 1926 in die USA migrierte Rätekommunist, der sich dort bei den Industrial Workers of the World (IWW) organisierte und sich nach der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in der aufkeimenden Arbeitslosenbewegung organisierte, schrieb: »In der Arbeitslosenbewegung kam natürlich die Frage auf, was mit den Leuten tun, die ja nichts zu tun haben. So richteten wir Studienkurse ein. Für diesen Zweck habe ich eine kleine Anleitung geschrieben, wie man Leuten »Das Kapital« beibringen oder es am besten gemeinsam mit ihnen lesen und diskutieren kann. Für zwei Jahre hatten wir regelmäßig Kurse zum Kapital von Marx, die von ungefähr achtzig bis hundert Leuten besucht wurden und die in jeder Hinsicht sehr erfolgreich waren. (…) Die Hauptsache waren die Arbeiter selbst – das heißt hier die Arbeitslosen -, die Selbstbestimmung lernen sollten und die selbst entscheiden mussten, was sie tun wollten. Wir überließen es ihnen, wir machten Vorschläge, wir versuchten aber nicht, eine Politik durchzusetzen, sondern einfach nur das, was die Arbeiter wollten. Wir versuchten, uns hinter sie zu stellen und sie zur gleichen Zeit ideologisch zu beeinflussen, aber nicht durch Parteipropaganda, sondern durch Marx’ Kapital, wogegen weder die Sozialisten noch die Kommunisten Einspruch erheben konnten.« (3)

Ingo Stützle war langjähriger Kapitalkurs-Teamer und unangefochtener Marx-Experte der ak-Redaktion. Heute ist er Redakteur bei Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft.

Anmerkungen:
1) Daszynski (1866-1936) war ein bekannter Sozialist um die Jahrhundertwende und der erste Ministerpräsident nach der Wiederherstellung des Staates Polen 1918.
2) Isaac Deutscher: Marxism in Our Time, London 1972, S. 257.
3) Paul Mattick: Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer. Münster 2013.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 630 vom 19.9.2017, S.3.