Sozialdemokratischer Ideen-Parcours

Trotz des Plädoyers für einen »partizipativen Sozialismus« bleibt Thomas Piketty auch in seinem neuen Buch ein bürgerlicher Ökonom

Kein neuer Marx, sondern am Ende och nur ein bürgerlicher Ökonom: Thomas Piketty. Foto: Sue Gardner / Wikimedia, CC BY-SA 3.0
Kein neuer Marx, sondern am Ende och nur ein bürgerlicher Ökonom: Thomas Piketty. Foto: Sue Gardner / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Viele werden es nicht einmal geschafft haben, die Lektüre von Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« abzuschließen, das 2014 auf deutsch erschien und international eine breite Diskussion über Ungleichheit lostrat. Nun hat der französische Wirtschaftswissenschaftler bereits ein neues Buch veröffentlicht: »Kapital und Ideologie«. Es sorgt bis dato, obwohl explizit politischer, nicht für vergleichbaren Wirbel. Pikettys jüngstes Werk »befasst sich mit der Geschichte und Zukunft von Ungleichheitsregimen«. Seine zentrale These ist, dass der »Kampf für Gleichheit und Bildung … die Wirtschaftsentwicklung und den menschlichen Fortschritt möglich gemacht hat, nicht die Heiligsprechung von Eigentum, Stabilität und Ungleichheit.« Der Autor führt sein Projekt  eine Analyse der Ungleichheit und ihrer Dynamiken  demnach fort, diskutiert jedoch vertieft deren Ursache  die Eigentumsverhältnisse  und deren Rechtfertigung  die Ideologie. Sie ist der zentrale Begriff im neuen Buch. Piketty versteht darunter ein »Gefüge von Ideen und Diskursen«, die »auf grundsätzlich plausible Weise beschreiben wollen, wie die Gesellschaft zu organisieren sei.« Der Begriff bezeichnet somit weder eine Illusion oder einen falschen Schein, angesiedelt im Reich der Ideen. Ideologie ist für Piketty wesentlich eine Praxis der Legitimierung, etwa der Ungleichheit. Grundlegend seien hier »politisch-ideologische Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Gruppen und Diskursen« in der Gesellschaft. Diese seien nicht allein »materielle«, sondern »vor allem intellektuelle und ideologische Kräfteverhältnisse«.

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Aufgeblättert: Keine Kapitalismuskritik ist auch keine Lösung. In ihrem neuen Buch kritisiert Ulrike Herrmann den ökonomischen Mainstream

ulrike-herrmann-193x300In ihrem neuen Buch kritisiert Ulrike Herrmann den ökonomischen Mainstream – mit Smith, Marx und Keynes. Leider bleibt sie dabei auf halber Strecke hängen.

Um die blamable Rolle der Wirtschaftswissenschaften angesichts der Krise ab 2008 zu illustrieren, wird gern eine Frage von Queen Elisabeth II. zitiert, die sie an die Zunft der britischen ÖkonomInnen richtete: »Wie konnte es passieren, dass niemand diese Krise vorhergesehen hat?« Die Antwort ließ auf sich warten, kam aber in unerwarteter Deutlichkeit: »Um die Sache zusammenzufassen, Ihre Majestät; hier hat die kollektive Vorstellungskraft vieler kluger Menschen versagt.«

Für die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann liegt das Versagen mitunter daran, dass viele WissenschaftlerInnen die ökonomischen Klassiker nicht zur Kenntnis nehmen.

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Aufgeblättert: Kaputtalismus

Fast zehn Jahre nach Beginn der Krise hat sich die Aufregung etwas gelegt, und nachdem lange die Ursachen im Fokus standen, wenden sich viele Autor_innen den vermeintlich »langfristigen Tendenzen« des Kapitalismus zu. So auch der Vielschreiber Robert Misik. Da ist er nicht allein, wenn wir an Paul Mason, Wolfgang Streeck, Jeremy Rifkin oder Immanuel Wallerstein denken, die Misik alle referiert. Der Kapitalismus stoße an seine eigenen Schranken – deshalb auch Kaputtalismus -, habe seine »besten Zeiten hinter sich«, und es sei »sehr unwahrscheinlich«, »dass wir den Kapitalismus, wie wir ihn in den vergangenen 300 Jahren kannten (…) noch einmal flottbekommen«. Da liegt schon ein Problem: Wollen wir das überhaupt? Misik schon. Er will den Kapitalismus vor sich selbst retten, will, wie schon Keynes, die destruktiven Momente des Kapitalismus beseitigen oder regulieren, die vermeintlich positiven aber beibehalten. Auf die Konkurrenz will er nicht gänzlich verzichten, denn sie habe auch ihr Gutes. Zerstörerisch wirkten vor allem die Finanzmärkte, während Gütermärkte zu Stabilität tendierten. Auch wenn das Buch gut geschrieben ist und viele Debatten einem breiten Publikum zugänglich macht, zeigt es einmal mehr, dass es innerhalb der Linken einer grundlegenden Diskussion darüber bedarf, was den Kapitalismus eigentlich ausmacht – und was nicht. Denn so schnell werden wir ihn leider nicht loswerden, den Kaputtalismus.

Ingo Stützle

Robert Misik: Kaputtalismus. Wird der Kapitalismus sterben, und wenn ja, würde uns das glücklich machen? Aufbau Verlag, Berlin 2016. 224 Seiten, 16,95 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 616 vom 24.5.2016.

Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung

Vor mehr als 20 Jahren erschien der erste Band des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM). Das erste Vorwort im ersten Band ist noch geprägt vom Ende des »Nominalsozialismus« (Agnoli) und dem sogenannten Ende der Geschichte. Es sei, so heißt es gleich auf der ersten Seite, hinsichtlich eines Vergleichs mit anderen Wörterbüchern, als spräche das HKWM »in ein gähnendes Schweigen hinein«. Seitdem hat sich einiges verändert. Der Stille folgte ein Gemurmel und das Bedürfnis vieler Linker, sich positiv auf »den« Marxismus zu beziehen. Angesichts der Krise 2008ff. wurde Marx wiederentdeckt, ebenso vom Feuilleton und damit auch so manches Ressentiment. Viele Jüngere haben es mitunter schwer, sich die Traditionslinien des Marxismus anzueignen, ohne sich an antikommunistischen Abziehbildchen abzuarbeiten. Orientierung könnte das Historisch-kritischen Wörterbuch (HKWM) bieten, von dem nun Band 8.I vorliegt.

Während im ersten Band die Grenzen noch recht eng gefasst scheinen, bleibt unklar, warum in den folgenden Bänden die Stichworte »Jeans« und »Klonen« oder »Lüge« und »Mafia« im aktuellen Band zu finden sind. Sicher, es sind durchaus interessante Texte, und sicher lässt sich auch mit einer an Marx orientierten Kritik zu vielem etwas sagen – nur warum muss das in ein Wörterbuch? (1) Vor diesem Hintergrund ist es schließlich verwunderlich, dass ein paar Begriffe fehlen, die man als Kopie etwa gerne in einem Kapital-Lektürekurs verteilen könnte. Etwa die Frage nach der »Grenznutzentheorie«, auch »Marginalismus« genannt (beide Begriffe fehlen). Die ist heute die vorherrschende Form der Erklärung von »Wert«, die Marx’ Ansatz fundamental widerspricht. Dass Marx, der diese Ansätze noch nicht kennen konnte, deren Vorläufer einfach als »Vulgärökonomie« links liegen ließ, macht die Sache nicht einfacher. Die Begriffe »Lohnform« und »Lumpenproletariat« im neuen Band (oder »Krisentheorie« im vorherigen) bieten hingegen eine sehr gute Orientierung für das marxsche Werk und die anschließenden Debatten bzw. dafür, welche unrühmliche Funktion Begriffe mitunter im Marxismus erfüllten (»Lumpenproletariat«). Continue reading “Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung”

Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach

MirowskiMit der Krise vor über fünf Jahren witterten so manche Linken Morgenluft. Die Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus würden größer. Inzwischen ist deutlich geworden, dass der Neoliberalismus alles andere als infrage steht. Dieser Hartnäckigkeit widmet Philip Mirowski sein neues Buch. Der Wirtschaftswissenschaftler war bereits zu Beginn der Krise gern gesehener Interviewpartner oder Autor in der FAZ, als noch der verstorbene Frank Schirrmacher dem Feuilleton vorstand. Dieser verstand jedoch nie, dass Konservative wie er für Mirowski ein Teil des Problems sind – nämlich als Verteidiger des Status quo. (1) Das zeigt das neue Buch, das bereits 2013 in englischer Sprache erschien.

Das Buch »soll die Strategien der Neoliberalen dokumentieren und ihre Erfolge begutachten, zu denen häufig auch die Wirtschaftswissenschaftler beigetragen haben.« Hierfür hält der Autor einen ganzen Strauß an Erklärungen bereit. Ein Großteil davon besaß jedoch auch schon vor der Krise Gültigkeit: Mirowski zeichnet nach, wie sich der Neoliberalismus etablierte und festigte und nach und nach alle Poren der Gesellschaft besetzte. Continue reading “Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach”

Aufgeblättert: Wider die Logik der Austerität. Zwei neue Bücher räumen mit den neoliberalen Dogmen auf

 0457Auch wenn das Geschrei angesichts eines möglichen Wahlsiegs von SYRIZA in Griechenland groß ist, schätzten in den letzten Monaten nicht mehr alle Meinungsmacher_innen in Presse, Politik und Wissenschaft den europäischen Sparkurs als ökonomisch vernünftig ein. Garniert war die leichte Verschiebung des Diskurses mit den breit diskutierten Thesen von Thomas Piketty über die wachsende Ungleichheit. Sparen und Ungleichheit schaden der Wirtschaft, war plötzlich nicht nur von den Gewerkschaften zu hören. Die neoliberale Politik wurde für gescheitert erklärt. Ein Anzeichen dafür ist, dass vor 2009, zu Beginn der Eurokrise, deutlich weniger Menschen als heute mit dem Wörtchen »Austerität« etwas anfangen konnten. Man hätte eher von »Sparen« gesprochen. Aber »Austerität«? Was soll das sein? Continue reading “Aufgeblättert: Wider die Logik der Austerität. Zwei neue Bücher räumen mit den neoliberalen Dogmen auf”

Aufgeblättert: Wahlen im Maßnahmenstaat Griechenland

»Seit den Kreditverträgen vom Mai 2010 zwischen Griechenland, der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds stehen alle zentralen Entscheidungen des griechischen Parlaments unter dem Vorbehalt der Gläubiger« – so der Klappentext zu Gregor Kritidis Buch »Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmenstaat«. Und man möchte ergänzen: Selbst die Wahl des Parlaments steht unter Vorbehalt. Zumindest wenn man den deutschen Pressekommentaren lauscht. Denn seit dem klar ist, dass im Januar Neuwahlen anstehen und die Linkspartei SYRIZA laut Umfragen die stärkste Kraft ist, dreht vor allem die deutsche Politikelite am Rad. Obwohl klar ist, dass es keine rechtlichen Möglichkeiten gibt, dass Griechenland die Eurozone verlässt, wird das Grexit-Szenario angerufen und somit deutlich gemacht: die EU und auch der Euro beruhen vor allem auf Machtverhältnissen, die Deutschland bestimmt und bestimmen will. In den kommenden Wochen wird sich deshalb auch zeigen, wie es EU- und Euro-Institutionen gelingt, sich gegen Deutschland durchzusetzen.

Die gegenwärtige Debatte ist die Spitze eines Eisbergs, Ausdruck der autoritären Krisenpolitik der letzten Jahre, die Kritidis in seinem Buch in neun Abschnitten nachzeichnet. Griechenland, so die Frage im Titel, auf dem Weg in den Maßnahmenstaat? Den Begriff Maßnahmenstaat hat Kritidis von Ernst Fraenkel übernommen, der in seiner Analyse des Faschismus nachzeichnet, wie sich die Logik eines Maßnahmenstaats gegenüber dem Normenstaat zunehmend Bahnen bricht.

Wer wissen will, wie die »verordnete Schocktherapie« (Kritidis) Griechenland in eine soziale und politische Krise trieb, sollte das Buch zur Hand nehmen. Der Zerfall der demokratischen Institutionen, die Verelendung und der Aufstieg der extrem rechten Kräfte sind kein Zufall, sondern Ergebnis der Troika-Politik zugunsten der Gläubiger-Institutionen und -Staaten. Die gesammelten Beiträge verstehen sich als Aufklärung und Form von Gegenöffentlichkeit in einer Zeit, in der Unwissenheit und Ressentiments die Berichterstattung und Deutung der Eurokrise prägt. So kurz vor den Wahlen in Griechenland, sind dem Buch noch viele LeserInnen zu wünschen.

Aufgeblättert: Stefan Beck zur deutschen Exportorientierung

Im Zuge der Eurokrise wurde oft kritisiert, dass Deutschlands Wirtschaft stark auf den Export ausgerichtet ist, eine sogenannte merkantilistische Strategie fährt. Die dadurch entstehenden Handelsungleichgewichte, wenn einige Länder mehr exportieren als importieren, wirken destabilisierend – vor allem dann, wenn man eine gemeinsame Währung hat: den Euro. Dass die deutsche Strategie kein neues Phänomen ist, zeigt Stefan Beck in seiner wichtigen Studie über die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1950er Jahren. Er stellt dabei zwar einen Wandel innerhalb der Exportorientierung ab den 1980ern fest, als Deutschland verstärkt auf den europäischen Binnen- und den Weltmarkt setzte, aber der Export spielte seit dem Koreakrieg Anfang der 1950er Jahre immer eine besonders wichtige Rolle. Während in der ersten Phase hohe Löhne und Wirtschaftswachstum noch keinen Widerspruch zur Exportorientierung darstellten, ist die Phase seit den 1990er Jahren von einer »Unterdrückung lohngetriebener Wachstumsimpulse« geprägt. Ein sogenannter selektiver Korporatismus, der Teile der Gewerkschaften und der Lohnabhängigen auf Kosten anderer Teile einbindet, sicherte selbst bei sinkenden Löhnen das »Modell Deutschland«. Beck zeigt also, dass das, was die Gewerkschaften derzeit beklagen – schwache Binnenwirtschaft aufgrund niedriger Löhne – etwas ist, was sie aktiv mitgetragen haben bzw. das gegenwärtige wettbewerbsorientierte Modell gerade ausmacht.

Ingo Stützle

Stefan Beck: Vom Fordistischen zum Kompetitiven Merkantilismus. Die Exportorientierung der Bundesrepublik Deutschland zwischen Wirtschaftswunder und Europäischer Krise. Metropolis, Marburg 2014. 426 Seiten, 38 EUR.

Erschienen in: ak — ana­lyse & kri­tik. Zei­tung für linke Debatte und Pra­xis, Nr. 600 vom 16.12.2014.

Des Teufels großer Haufen. Der französische Ökonom Thomas Piketty plädiert für mehr Leistungsgerechtigkeit

Piketty-KapitalDer Volksmund weiß: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Was man wahlweise als Verdacht oder als Erfahrungswissen deuten kann, das hat der französische Ökonom Thomas Piketty nachgewiesen. Zumindest wollte er das. In einem dicken Buch (1) mit viel statistischem Material legt er dar, wie, wann und warum die Vermögensverteilung immer ungleicher wurde und wird. Piketty zeigt, dass die Ungleichheit immer dann zunimmt, wenn die Kapitalrendite (r) das Wirtschaftswachstum (g) übersteigen. Auf eine Formel gebracht: r > g. Die Ungleichheit habe in den letzten Jahrzehnten zugenommen, und zwar derart, dass sie die kapitalistische Wirtschaftsweise selbst untergrabe: Nicht mehr Arbeitsleistung, sondern vor allem Erbschaften würden sich lohnen, d.h. dazu beitragen, Vermögen aufzubauen.

Damit bewegten sich die westlichen Industriegesellschaften wieder hin zu Verhältnissen, wie sie im 19. Jahrhundert herrschten. So hätte Piketty den mittellosen Karl Marx zitieren können, der 1852 an seinen Freund Friedrich Engels uber seinen Onkel schrieb: »Stirbt der Hund jetzt, so bin ich aus der Patsche heraus. « Marx erhoffte sich eine Erbschaft, nachdem er beim Tod seines Vaters »leer« ausgegangen war. Engels antwortet Marx: »Zu der Nachricht von der Krankheit des alten Braunschweiger Erbschaftsverhinderers gratuliere ich und hoffe, dass die Katastrophe endlich eintreten wird.«

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Aufgeblättert: Tödliche Austerität

Stuckler-BasuEs geht um Leben und Tod in der groß angelegten Studie der beiden Autoren, die Gesundheit als genuin politisches Thema verstehen. David Stuckler und Sanjay Basu analysieren nicht nur die Entwicklungen in Island und Griechenland nach Ausbruch der jüngsten Krise, sondern nehmen sich auch älteres Material vor. Nach 1929 weigerten sich in den USA einige Bundesstaaten, den New Deal umzusetzen. Was zeigt: »Die eigentliche Gefahr für die Gesundheit der Allgemeinheit lauert nicht in Rezessionen an sich, sondern in den Sparprogrammen, mit denen diese häufig bekämpft werden.« Wie für angelsächsische Sachbücher mit wissenschaftlichem Anspruch üblich, handelt die gut geschriebene Studie von Selbstmordraten, Lebenserwartungen, Krankheiten, aber auch Stress und Krankheit infolge von drohenden Zwangsräumungen: »Schon einige Zeit, bevor jemand sein Haus verliert, kann bereits eine drohende Zwangsräumung das Krankheitsrisiko erhöhen.« Aber nicht nur kapitalistische Krisen wirken sich negativ auf Leib und Leben aus. Das Buch zeigt eindringlich, dass in ehemaligen realsozialistischen Ländern, die nach 1990 sich dem IWF unterwarfen oder sich möglichst schnell zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft transformieren wollten, die Lebenserwartung teilweise dramatisch zurückging. Leider wollen sich die Autoren weder rechts noch links positionieren und hoffen stattdessen auf einen »demokratischen Weg«, der allein Zahlen und Fakten gehorcht.

Ingo Stützle

David Stuckler und Sanjay Basu: Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit. Wagenbach Verlag, Berlin 2014. 224 Seiten, 19,90 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 594 vom 20.5.2014, Seite 36.

200. Geburtstag von Jenny Marx

Heute vor 200 Jahren wurde Jenny von Westphalen geboren, eine Frau, die als Jenny Marx bekannt ist: die Ehefrau im Schatten von Karl Marx. Sie aus dem Schatten herauszuholen, wurde immer wieder versucht und ging oft nach hinten los (was allerdings ausgerechnet die taz nicht so sieht). Patriarchale Verhältnisse durch Biografien und Würdigungen aufzuheben, obwohl sie in Leben, Arbeiten und Schreiben von Karl Marx so tief verankert waren, ist eigentlich unmöglich, jedenfalls wenn sie nicht selbst Gegenstand der Analyse und Darstellung werden.

Jenny von Westphalen um 1835. Gemälde von unbekannter Hand.

Klaus Theweleit hat patriarchale Produktionsverhältnisse in seinem mehrbändigen Werk Das Buch der Könige thematisiert. Darin zeichnet er anhand der Geschichte mehrerer Autoren nach, wie »die Frau« zur »Assistentin der männlichen Geburtsweise« (es geht um die »Geburt« künsterischer Werke) wird.

Die Produktion künstlicher Wirklichkeit geht nicht allein vor sich; zweite sind beteiligt, dritte. … Männer wie Frauen sind ›Orpheus‹ verbunden in Verhältnissen, die teils aussehen wie Liebesverhältnisse, womöglich aber Produktionsverhältnisse sind.

Weiter schreibt Theweleit:

– mit einem Wort, ob das Frauenopfer, das in abstrakter Weise allen Produktionen des Patriarchats zugrunde liegt oder inhärent ist, auch in bestimmten Kunstproduktionen nicht nur als ›Symbolisches‹ da ist, nicht nur als Imaginäres im Stoff und in der ›Handlung‹ der Werke, sondern auch in wirklichen Paaren zwischen den beteiligten Männern und Frauen vor sich ging und geht.

Der geistigen Produktion liegen Theweleit zufolge also Abzapfungs- und Auszehrungsprozesse, Menschenopfer zugrunde, Prozesse und Entbehrungen, von denen Jenny Marx in ihren Briefen viel berichtet, Prozesse und Verhältnisse, die auch si auf sich genommen hat.

An Wilhelm Liebknecht schrieb sie 1872:

Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere, weil kleinlichere Teil zu. Der Mann, er kräftigt sich im Kampf mit der Außenwelt, erstarkt im Angesicht der Feinde, und sei ihre Zahl Legion, wir sitzen daheim und stopfen Strümpfe. Das bannt die Sorge nicht, und die tägliche kleine Not nagt langsam aber sicher den Lebensunterhalt hinweg. Ich spreche aus mehr als 30jähriger Erfahrung, und ich kann wohl sagen, dass ich den Mut nicht leicht sinken ließ. Jetzt bin ich zu alt geworden, um noch viel zu hoffen… (MEW 33, S. 702)

Jenny Marx schrieb Bettelbriefe, besorgte Karl Marx bezahlte Jobs, wimmelte die GläubigerInnen ab und musste Pfändungen ihres Hab und Gut miterleben. Sie machte sich Sorgen darüber, wie sie und die Kinder durchkommen. Von sieben geborenen Kindern überlebten nur drei. Schulden waren ihr ein Graus. Das erfährt man aus einem Eintrag im Poesiealbum ihrer Tochter. Jenny Marx war es auch, die soziale Kontakte pflegte, wenn sich Karl Marx mal wieder mit jemandem überworfen hatte.

Sicherlich war Jenny Marx mehr als eine besorgte Mutter, nicht nur weil sie auch selbst schrieb (etwa über Londons Theater, Shakespeare,  sogar eine Autobiograhie verfasste sie; vgl.  Jenny Marx oder: Die Suche nach dem aufrechten Gang). In einer neuen Jenny-Marx-Biographie ist zu lesen: »Jenny Marx war für ihre Zeit eine über die Maßen emanzipierte und couragierte Frau.« Was aber ist der Maßstab? Antonia Bakunin, André Leo, Anna Jaclard? Oder Bettina von Arnim, Flora Tristan und Louise Otto? Ein Vergleich mit anderen Sozialistinnen und Aktivistinnen der Frauenbewegung wäre hilfreich gewesen.

Leider fehlt auch in der neuen Biographie zu Jenny Marx ein Schritt zurück, der es möglich gemacht hätte, die Frage zu stellen, was es eigentlich heißt, die Biografie einer Frau wie Jenny Marx zu schreiben. Einer Frau, die nicht nur unter sozial beschissenen, sondern auch unter patriarchalen (Produktions-)Verhältnissen lebte. Dass diese Dimension kaum Thema von Biografien ist, ist eine häufige Leerstelle, in der marxistischen Diskussion. FeministInnen haben sie oft und zurecht kritisiert. Auch die an Marx orientierte Ökonomiekritik blendet oft die Sphäre der Reproduktion der Ware Arbeitskraft aus, ebenso wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und asymmetrischen Geschlechterverhältnisse, die den Kapitalismus als ganzes durchziehen.

Auf dem Umschlag der neuen Jenny-Marx-Biographie ist zu lesen, das Karl Marx’ wissenschaftliches Hauptwerk Das Kapital sei. Marx‘ Kapital sei hingegen seine Frau Jenny gewesen – der mitschwingenden Doppelsinn ist wahrscheinlich ungewollt.

Klaus Theweleit macht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Kulturproduktion unter anderem daran fest, wer zum Diktat bittet – und wer die Schreibmaschine bedient. Zu Marx Zeiten war die Automatisierung des Schreibens unter Denkern noch nicht weit verbreitet. Friedrich Nietzsche soll der erste Philosoph gewesen sein, der sich eine zugelegt hatte. Und dennoch: 1852 wurde Jenny Marx offiziell Karl Marx‘ Sekretärin. Karl diktierte auch, wenn er unter Zeitdruck war. Viele seiner Schriften brachte sie für ihn in Reinschrift und redigierte sie: Die Heilige Familie, Das Elend der Philosophie, das Kommunistische Manifest, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Zur Kritik der politischen Ökonomie und viele Zeitungsartikel und  kleinere Schriften. Das Kapital hingegen hat Marx selbst in Reinschrift gebracht – das wollte er wohl ungern aus der Hand geben. Zum achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte sagt sie: »die Erinnerungen an die Tage, an denen ich in Karls‘ Stübchen saß, seine kritzlichen Aufsätze kopierte, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.« Das Produktionsverhältnis beruhte also durchaus auf gegenseitigem Einvernehmen.

Zu ihrem 200. Geburtstag findet nun in Jenny Marx‘ Geburtsstadt Salzwedel eine Sonderausstellung statt, sie wird im Fernsehen und Radio gewürdigt. Eine neue Biographie und ein Briefband sind erschienen, in dem etwa 100 Briefe erstmals veröffentlicht werden. Vor allem der Briefband ermöglicht einen Blick auf das, was Jenny Marx umtrieb, was sie dachte und tat. Beide Bücher sind sehr wichtige Puzzleteile in der biografischen Forschung. Mehr Sensibilität für die Geschlechterverhältnisse sind aber nötig, um ein vollständiges Bild von Jenny Marx zu bekommen.

Angelika Limmroth: Jenny Marx. Die Biographie. 303 Seiten. Karl Dietz Verlag Berlin
Rolf Hecker/Angelika Limmroth (Hg.): Jenny Marx. Die Briefe. 607 Seiten. Karl Dietz Verlag Berlin

»Copyright & Copyriot« von Sabine Nuss befreit

nuss»Die Frei­heit ist immer die Frei­heit der Eigen­tums­ord­nung« – so überschrieb ich meine Buchbesprechung von Sabine Nuss’ Studie »Copyright & Copyriot«. Das war 2007. Angesichts der Entwicklung im Bereich der digitalen Welt liegt es nahe, dass ein Buch über die »Aneignungskonflikte um geistiges Eigentum im informationellen Kapitalismus« ebenso schnell veraltet wie die Prozessorleistung in einem Computer (Tablets waren 2007 noch Zukunftsmusik) oder die Speicherkapazitäten von Festplatten – dem ist aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil.

Nuss geht nicht dem Gerede vom »ganz Neuen« und »Revo­lu­tio­nä­ren« auf den Leim, son­dern zeigt auf, dass der Kapi­ta­lis­mus trotz aller Ände­run­gen bestän­dig geblie­ben ist. (ak 516)

Weil Sabine Nuss das Thema geistiges Eigentum allgemeiner und damit grundsätzlicher angeht, ist ihre Studie trotz aller oberflächlichen Veränderung – Apps, Streaming und Tablets – nach wie vor hoch aktuell. Das Buch stellt zwar keine »neuen« Maß­stäbe für die Debatte »Aneignungskonflikte um geistiges Eigentum« auf, aber ein Maßstab ist die Studie  allemal und nach wie vor. Deshalb ist es besonders erfreulich, dass Sabine Nuss »Copyright & Copyriot« befreit und zum freien Download auf ihre Website gestellt hat.

 

Linke Literatur mit politischem Rahmenprogramm: Der Verleger Jörg Sundermeier im Interview

Jedes Jahr im Oktober findet in Frankfurt die Buchmesse statt. Der Büchermarkt ist in einem Umbruch begriffen – nicht nur, weil sich mit Internet und E-Books das Leseverhalten verändert hat. Auch weil es Zentralisierungsprozesse gibt, was kleineren Verlagen mehr Spielraum gibt und sie zugleich unter Druck setzt. Über den Büchermarkt, kritisches Potenzial von Literatur, dicke Bücher und E-Books sprach ich für ak – analyse & kritik mit Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher Verlag. Wenige Wochen vor der Buchmesse in Frankfurt am Main, im Biergarten des Clash im Berliner Mehringhof, ergab sich bei ein paar Bieren folgendes Gespräch. Continue reading “Linke Literatur mit politischem Rahmenprogramm: Der Verleger Jörg Sundermeier im Interview”

Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago

»An Marx interessiert mich wirklich nur dieser eine Gedanke, die Entdeckung der immanenten Widersprüche im kapitalistischen Produktionssystem.« (Paul Mattick)

Der 1904 geborene Paul Mattick emigrierte 1926 in die USA. Ihm verhalf damals der Kölner Bürgermeister zum nötigen Kleingeld, Deutschland zu verlassen – Konrad Adenauer. Mattick rechnete dem Bürgermeister vor, dass die zukünftige finanzielle Unterstützung mehr Kosten verursachen würde, als das Geld, das er für die Ausreise brauche. Das leuchtete Adenauer ein und sorgte umgehend für eine unbürokratische Lösung.

Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Michael Buckmiller dem Rätekommunisten Mattick im Sommer 1976 in einem dreitägigen Gespräch entlockte. Das Interview ist nun zusammen mit literarischen Texten von Paul Mattick und einem Nachwort von Michael Buckmiller in der Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung im Unrast-Verlag erschienen. Dafür ist dem Verlag, Michael Buckmiller, den Herausgebern Marc Geoffroy und Christoph Plutte und vielen HelferInnen zu danken. Das Buch eröffnen Einblicke in einen fast vergessenen Alltag der proletarischen Weimarer Republik, Kämpfe jenseits von KPD und SPD und Intellektualität, die mehr mit Punk als mit Universität zu tun hat. Continue reading “Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago”

Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde – eine Lesung

Nach der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt am Main müsste ein Name bekannt sein: Luiz Ruffato. Er war literarischer Eröffnungsredner, das Gastland war Brasilien. Sein Buch »Es waren viele Pferde« erschien 2012 im Hamburger Verlag Assoziation A. Am 27. Oktober 2013 las der Schauspieler Jörg Pohl im Hamburger GOLEM aus dem Roman. Im Anschluss führt Roger Behrens ein Gespräch mit Luiz Ruffato.

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Die Soundcloud-Seite des Golem (mit vielen anderen Mitschnitten) findet ihr hier.