Pausenlose Profitlogik

Wer die Ursachen für die Erwerbszentrierung der Gesellschaft ergründen will, kommt am Mehrwert nicht vorbei

»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf« heißt es in Karl Marx‘ »Grundrissen «. Was meint er damit? Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander »arbeiten«. Die Formen, wie diese Arbeitsteilung organisiert ist, sind jedoch sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, also über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind da recht unterschiedliche soziale Logiken am Werk.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Wird sie von wem ignoriert, kann man zumindest daran erinnern, dass man sich einmal gemeinsam auf diese Form der Arbeitsteilung verständigt hat. In Haushalten von Kleinfamilien gibt es eine Putzuhr eher selten. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen hier, dass meist Frauen ihre Lebenszeit für reproduktive Arbeiten opfern müssen. Vor allem an Wochenenden, so zeigen Studien, haben Männer Freizeit – Frauen weniger. Damit aber auf dem Herd überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen ein Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt – als Arbeitszeit in einem Unternehmen, indem die eigene Arbeitskraft verkauft wird, gegen Lohn. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Lohnarbeit hat, arbeitslos ist: Das Jobcenter will nicht, dass man unangekündigt in Urlaub geht, man soll sich »zur Verfügung« halten.

Der Staat garantiert jedoch auch, dass Arbeitsprodukte, etwa die durch Lehrkräfte verrichtete Bildungsarbeit an einer Schule, nicht die Form einer Ware annehmen, nicht der Profitlogik von Einzelunternehmen unterworfen sind, sondern als öffentliches Gut zur Verfügung stehen. Das Gleiche gilt für Polizei, Justiz, Militär – all die in diesen Institutionen verrichteten Arbeiten sollen nicht der Logik des Marktes gehorchen. Sie gehören zu dem, was Marx die allgemeinen Produktionsbedingungen des Kapitals nennt, »travaux publiques«. (Sozial-)Staat und die öffentlichen Güter, der Haushalt, die Reproduktionsarbeit und die privatkapitalistische Ökonomie mit den dort agierenden Einzelkapitalen sind die sozialen Formen, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung organisieren. Ihre sozialen Logiken, wie wer was mit welchem Zweck arbeitet, sind verschieden – ebenso die zugehörigen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die in diesen unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen institutionalisiert sind. Hinzuzuzählen ist noch die Zivilgesellschaft, die in Vereinen, Kirchen, NGOs etc. verrichteten Arbeiten, die der einfachhalthalber im Folgenden ausgeblendet werden. Wie und in welchen Formen eine Gesellschaft ihre Arbeitszeit aufteilt, wie sie füreinander arbeitet, ist eine historische und damit politische Frage. Diese Fragen dem Raum des Politischen zu entziehen, ist eine zentrale Art und Weise, wie Herrschaft im Kapitalismus funktioniert, Herrschaft über die Organisierung der gesellschaftlichen Arbeit, die Verfügung über die Lebens- und Arbeitszeit.

Hat ein kapitalistisches Unternehmen die Verfügungsmacht über die Arbeitszeit, wird sie »produktiv« genutzt, um aus investiertem Geld mehr Geld zu machen, einen Profit zu realisieren. Die Profitlogik kennt keine Grenzen, weshalb ihr Anspruch auf Arbeitszeit ebenso unstillbar ist – die nie enden wollenden Konflikte über die Länge des Arbeitstags, ja des Erwerbslebens (Rentenalter), haben hier ihre Ursache. Hat die öffentliche Hand die Verfügungsmacht, ist das Ziel nicht Profit, sondern ein öffentliches Gut gesellschaftlich bereitzustellen. »Steht es frei«, so Marx, der hierfür ein passendes Beispiel, nämlich das einer Schule wählt, eines »außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion«, »so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letztrer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis.« Ist die Schule keine private, sondern eine öffentliche, dann mögen zwar folgsame und disziplinierte Staatsbürger: innen herangezogen werden, aber es findet weder Warenproduktion statt, noch wird hier Profit erwirtschaftet. Der Sache nach passiert in öffentlichen und privaten Schulen nichts wesentlich anderes – es mag nur anders zugehen. Die gesellschaftliche Form ist zentral, ob Kapital verwertet oder ein öffentliches Gut zur Verfügung gestellt werden soll. Dass die Schulausbildung zumindest bis zu einer bestimmen Jahrgangsklasse frei zugänglich ist, ist Resultat eines gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses, dass die Bildungsarbeit in dieser und nicht in jener Form organisiert sein soll.

In seinem Hauptwerk »Das Kapital« konzentriert sich Marx auf die Analyse der Herrschaft des Kapitals und dessen Kommando über die Arbeitszeit. »Die Zeit ist in fact [tatsächlich] das aktive Dasein des Menschen. Es ist nicht nur das Maß seines Lebens. Es ist der Raum seiner Entwicklung. Und das encroachment of capital over time of labour [Übergriff des Kapitals auf die Arbeitszeit] ist Aneignung des Lebens, geistigen und physischen, des Arbeiters.«

So Marx in Manuskripten, die in Vorbereitung auf das »Kapital« entstanden sind. Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nimmt im Kapitalismus eine besondere Form an: Sie ist sachlich vermittelt (Ware, Geld, Kapital) und erscheint als Naturgegebenheit. Dass das Essen auf dem Tisch zuvor einmal Waren waren, dass man dafür Geld bezahlen muss, scheint das Normalste der Welt – und schon immer so gewesen zu sein. Diesen Schein zu zerstören, ist Ziel von Marx‘ Analyse im »Kapital« und dass das gar nicht so einfach ist, zeigen die von ihm verwendeten Begriffe, die man sich besser in einem Lesekreis gemeinsam erarbeitet als in einem Zeitungsartikel zur Schau stellt.

Als normal erscheint auch, dass vor allem Frauen das Essen kochen – und natürlich auch Geschirr abspülen. Dafür hat sich Marx jedoch kaum interessiert. So wichtig es ist, dass diese beide sozialen Formen (kapitalistische Ökonomie und Haushalt) ineinandergreifen, so wichtig ist es, zu verstehen, dass es zwei unterschiedliche Logiken sind, die hier organisieren, wer wie wo seine Arbeitszeit einbringen muss. Denn, hier hat Teresa Bücker, Autorin des kürzlich erschienenen Buchs »Alle_Zeit«, ganz recht, wer wie über Zeit verfügen kann, ist eine Machtfrage. Aber die von ihr angeprangerte gesellschaftliche »Erwerbszentrierung« existiert eben nur, weil diese Gesellschaft kapitalistisch formatiert ist, das Kapital auf der Verfügungsmacht über unsere Arbeitszeit gründet und die Menschen, frei von Produktionsmitteln, ihre Lebenszeit dem Kapital verkaufen müssen, um ihre Existenz sichern zu können. Die Erwerbszentrierung ist selbst erklärungsbedürftig – ebenso die sozialen Formen, in denen das Kommando über fremde Arbeitszeit organisiert ist.

Fürs Arbeiten braucht es bekanntlich mehr als Arbeitskraft, nämlich Produktionsmittel. Im Kapitalismus sind die Arbeitskraft und die Produktionsmittel getrennt und es liegt beim Kapital, den Eigentümer: innen der Produktionsmittel, dass das Arbeitsvermögen auch realisiert, gearbeitet wird, Kontrolle über fremde Arbeit ausgeübt wird. Wie findet nun Ausbeutung statt? Die Arbeitskraft bekommt nur das als Lohn, was ihre Reproduktion ermöglicht. Die Zeitspanne, die dafür gearbeitet werden muss, nennt Marx »notwendige Arbeit«. Sagen wir, bei einem Achtstundentag vier Stunden. Alles, was darüber hinausgeht, also die restlichen vier Stunden, ist die »Mehrarbeit«. Das in der Zeit entstandene Wertprodukt (Mehrprodukt) streicht das Kapital ein – die Arbeitskraft verkauft sich zu ihrem Wert, wird nicht beschissen und dennoch ist Profit möglich.

Während in vorkapitalistischen Gesellschaften die Ausbeutung immer auf Grundlage persönlicher Herrschaftsverhältnisse organisiert war, ersichtlich war, wann (auf dem Feld des Herrn) und was (»Zehnter«) für die »Herren« geschuftet wurde, sind die Verhältnisse im Kapitalismus sachlich vermittelt und die Mehrarbeit erscheint als bezahlt: Im Lohn gilt der Achtstundentag als entgolten, die geleistete Arbeit – kaum eine Gewerkschaft unterscheidet heutzutage zwischen Arbeitskraft und Arbeit, sondern in ihren Forderungen (»gerechter Lohn für Arbeit«) nähren sie die Vorstellung, man werde für die geleistete Arbeit, nicht für die Arbeitskraft bezahlt. Als Skandal erscheint nur, dass zu lange oder zu intensiv gearbeitet wird. Marx hingegen wollte auch die Ausbeutung, die auf Grundlage »gerechter Löhne« organisiert wird im Museum wissen.

Der Kampf für kürze Wochenarbeitszeiten und weniger Lebensarbeitszeit ist dennoch ein sehr wichtiger gesellschaftlicher Kampf. Er hat zum Ziel, die Kontrolle des Kapitals über die Lebenszeit zurückzudrängen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das, was als lebensnotwendig gilt, nicht gleichermaßen sinkt. Und nicht erst seit Hartz IV bzw. Bürgergeld wird genau hier Hand angelegt. Ein gewerkschaftlicher Kampf für kürzere Arbeitszeit muss deshalb einhergehen mit einem Kampf für gute Lebensbedingungen für diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen, nicht ihre Arbeitskraft verkaufen. Wenn die Politik über »Zumutbarkeitsregelungen«, das »Lohnabstandsgebot « und soziale Leistungen oder die Höhe der menschenwürdigen Mindestsicherung diskutiert, dann hat sie immer auch das Lohnniveau im Blick – ein Grund, warum sich gewerkschaftliche Kämpfe nicht allein um Arbeitszeit und Löhne drehen sollten, sondern auch um ein gutes Leben ohne Arbeit.

»Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung «, schreibt Marx im Manuskript zu seinem Vortrag »Lohn, Preis und Profit«, gehalten am 27. Juni 1865 vor dem Provisorischen Zentralrat der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA). »Ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit – abgesehn von rein physischen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw. – von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur Produktion von fremdem Reichtum, körperlich gebrochen und geistig verroht. Dennoch zeigt die ganze Geschichte der modernen Industrie, dass das Kapital, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, ohne Gnade und Barmherzigkeit darauf aus ist, die ganze Arbeiterklasse in diesen Zustand äußerster Degradation zu stürzen.« Die verelendungstheoretischen Töne einmal ausgeblendet, so bleibt die Tatsache, dass dieses Szenario immer droht, gibt es keine Gegenmacht: »Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.« Deshalb ist die Verkürzung der Arbeitszeit, wie Marx notiert, »unerlässlich, um der Arbeiterklasse mehr Zeit für die geistige Entwicklung zu geben«. Gesetzliche Beschränkungen des Arbeitstages seien der erste Schritt zum geistigen und physischen Aufschwung und zur endgültigen Befreiung der Arbeiterklasse. Und darum sollte es schließlich gehen – und um das Ende der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Erschienen in: OXI. Wirtschaft anders denken, Nr. 7/2023, S. 3/4.