Die Leidenschaft am Eigeninteresse. Adam Smith und die Politische Ökonomie auf der Suche nach ihrem Gegenstand

Auch wer von Adam Smith noch nie etwas gehört hat, kennt wahrscheinlich die fixe Idee, dass die Marktkräfte wie eine „unsichtbare Hand“ wirken und dafür sorgen, dass die Wirtschaft effizient und gerecht funktioniert.[1] Diese Metapher wird gerne dann strapaziert, wenn wahlweise Staats- oder Marktversagen beklagt und eine neue „Balance“ angemahnt wird – oder Adam Smith gewürdigt werden soll, dessen 300. Geburtstag in diesen Tagen zu feiern wäre. Wann genau, weiß man bis heute nicht, denn der Tag seiner Geburt ist nicht überliefert. Das Datum, an dem er getauft wurde, hingegen schon. Es war der 5. Juni – zumindest nach dem julianischen Kalender, einem der ältesten Sonnenkalender, dem Vorläufer des heute gebräuchlichen gregorianischen.[2] Die Umstellung vom einen auf den anderen sollte dem Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr entgegenwirken – quasi zweier Zeitrechnungen, einer abstrakten und einer „natürlichen“, ein Gegensatzpaar, das geradezu symptomatisch für die Zeit steht, in der Smith sich den Kopf über den „Wohlstand der Nationen“ zerbrach.

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Marx-Engels-Werke: Keine unschuldige Lektüre

Im Interview mit neues deutschland spricht Ingo Stützle vom Karl Dietz Verlag Berlin über Mühen und Erkenntnisgewinn der Überarbeitung der Marx-Engels-Werke.

Sebastian Klauke: Ende März 2023 ist die überarbeitete Neuauflage des Bands 21 der Marx-Engels-Werke (MEW) erschienen. Warum sollte dieser heute noch gelesen werden?

Ingo Stützle: Der Band umfasst die Texte, die nach Marx’ Tod im März 1883 entstanden sind. Engels war in dieser Zeit mit dem Nachlass von Marx und ihrem gemeinsamen politischen und publizistischen Erbe betraut. Wie er dieses Erbe annahm und was er daraus machte, lässt sich in dem Band nachvollziehen. Es findet sich darin etwa Engels’ »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« sowie »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«. Dies sind zwei Texte, die vor allem aufgrund der politischen Umstände zu dem wurden, als das sie bis heute gelten: zu Referenzwerken des historischen Materialismus, wie er sich nach Marx’ Tod herausbildete.

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Material für Theoriearbeit: Was Karl Marx und Friedrich Engels in England suchten und fanden

»In England ist immer Wales eingeschlossen, in Großbritannien England, Wales und Schottland, im Vereinigten Königreich jene drei Länder und Irland.«

Karl Marx: Das Kapital, MEW, Bd. 23, S. 683, Fn. 107.

Im Vorwort zur Erstauflage des »Kapitals« von 1867 schreibt Karl Marx, dass die »klassische Stätte« der kapitalistischen Produktionsweise England ist. Dies sei der Grund, warum er es zur »Hauptillustration« seiner »theoretischen Entwicklung« herangezogen habe. Wer glaube, mit den Achseln zucken zu müssen, so Marx weiter, dem rufe er zu: »Über dich wird hier berichtet!« Sein Hauptwerk »Das Kapital« erschien fast 20 Jahre nachdem er auf die Insel geflüchtet war; die englische Übersetzung des ersten Bandes des »Kapitals« sollte er jedoch nicht mehr erleben. Sie erschien vier Jahre nach seinem Tod im Jahr 1883. Warum fand Marx England so zentral für die Analyse des Kapitalismus, stellte diese aber auf Deutsch an?

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Silvester: Die Unsitte des Einschlagens der Zylinderhüte scheint abgenommen zu haben

Auch vor über 100 Jahren wurde heftig über Silvester-Bräuche diskutiert, jedoch nicht über Böllern.

Ein Standardbericht sah folgendermaßen aus: „Die Silvesternacht ist in Berlin, begünstigt vom besten Wetter, im großen und ganzen recht lebhaft, aber ohne besonderen Radau verlaufen. Verhaftungen sind weniger als sonst vorgekommen, und auch die Zahl der Sistierten war geringer als in früheren Jahren. Auf den Straßen wurde es um Mitternacht lebhafter, besonders wie immer in der Friedrichstraße, Ecke Behren- und Französischen Straße, wo schließlich mehrere Tausend Personen sich eingefunden hatten, die zum Ulken aufgelegt waren, aber von der zahlreich versammelten Schutzmannschaft fortwährend zum Weitergehen veranlaßt wurden, wodurch Ausschreitungen vermieden wurden. Harmloser Unfug, wie das Werfen von Konfetti, das Benutzen von allerhand Dingen zum Radaumachen und Singen wurde nur bei Übertreibungen verboten. Über solch scherzhaften Ulk amüsierten sich selbst die Wachleute und duldeten ihn selbst dann, wenn er einmal auf ihre Kosten getrieben wurde. Der Verkehr in den Straßen und Lokalen war in der ganzen Nacht lebhaft; erst gegen Morgen wurde es ruhiger, so daß die Schutzmannschaft zurückgezogen werden konnte. Die Unsitte des Einschlagens der Zylinderhüte scheint abgenommen zu haben. — Ein amtlicher Bericht lautete: Die Sylvesternacht ist in gewohnter Weise verlaufen. Größere Exzesse haben nicht stattgefunden. Im ganzen wurden 278 Personen wegen Unfugs festgenommen, davon 180 in der Gegend der Friedrichstraße und Unter den Linden; in den äußeren Stadtbezirken ging es verhältnismäßig ruhig zu.“ […]

Den Ursprung des großstädtischen Silvesterbrauchs zu ergründen, ist diese Untersuchung nicht der geeignete Ort. Über seine unmittelbare Vorgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert lassen sich jedoch einige Informationen zusammenstellen, die die fortwährende Rede von seinem Rückgang zumindest im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als Wunschvorstellung erscheinen lassen. Die seit 1890 von der Schutzmannschaft geführten Nachweisungen über die Anzahl der Sistierungen während der Silvesternacht zeigen, daß 1904 der Höhepunkt des polizeilichen Einschreitens mit 331 erreicht wurde.

Aus: Thomas Lindenberger: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung [link zum PDF] in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995

Digitales Geld als money proper

Seitdem es Bitcoin & Co gibt, sind auch Politik und Zentralbanken gefragt. Bereits 2013 hat das deutsche Finanzministerium Bitcoin als privates Geld anerkannt; die digitalen Geldinnovationen wurden beobachten und letztes Jahr rief die »Bank der der Zentralbanken«, die Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), sogar ihre mehr als 60 Mitglieder dazu auf, endlich nachzuziehen, ein digitales Geld zu entwickeln und anzubieten. Während viel über technische Fragen (Blockchain) oder Datenschutz diskutiert wurde, waren geldtheoretische Fragen bisher kaum Thema. Nun scheint der EZB-Rat schon bald beschließen zu wollen, in eine sogenannte Gestaltungsphase eintreten zu wollen (ähnlich die US-amerikanische Fed). Auch wurden weitere Details bekannt:

Der große Unterschied des digitalen Euro in der jetzt geplanten Version zum bestehende elektronischen Geld ist, dass er eine Forderung der Bürger unmittelbar gegen die Zentralbank darstellt, so wie bislang nur das Bargeld.

faz.net (27.5.2021)

Dieser Punkt wurde bisher geldtheoretisch viel zu wenig ausgeleuchtet, immer nur – wie auch im angeführten FAZ-Artikel – als Antwort auf die Gefahr einer Bankpleite. Es geht aber um mehr, um die Frage, was Geld ist, um das, was John M. Keynes in »Vom Gelde« als »money proper« bezeichnet und in der deutschen Fassung einfach als »Bargeld« übersetzt wurde, Keynes meinte damit jedoch »wirkliches Geld« und aus heutiger Perspektive zeigt sich: es kann nicht allein Bargeld sein, aber: Wenn wir Guthaben bei Geschäftsbanken oder digitalen Zahlungsdienstleistern (paypal & Co) haben, dann ist das eben Buchgeld oder Guthaben, eine Forderung, kein Geld. Die aktuellen Entwicklungen sind nicht nur geldtheoretisch interessant, denn es zeigt sich auch, wie die Geldgeschichte weitergeschrieben wird, wie sie Marie-Thérèse Boyer-Xambeau, Ghislain Deleplace und Lucien Gillard in ihrem Buch »Private Money and Public Currencies. The 16th Century Challenge« (1994) nachgezeichnet haben, als Zusammenspiel und Prozess zwischen privaten Akteuren und politischer Herrschaft.

Hexen verbrennen, Geldfälscher hängen

»Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.« (MEW 23: 783)

Karl Marx stimmt mit diesem Satz an, wie die moderne Eigentums- und Geldordnung durchgesetzt wurde, blut- und schmutztriefend, als Resultat eines gewaltsamen Prozesses. Er wendet sich damit gegen die Selbstverklärung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte – etwa in der Politischen Ökonomie – gern als eine von Fortschritt und Zivilisation zeichnet und idealisiert. Dieses Bild zurecht zu rücken, fällt vor allem bei den Kategorien Geld und Eigentum schwer, die als etwas Selbstverständliches, immer schon Vorhandenes gelten. In der Vergangenheit werden nur die modernen Formen wiedererkannt, statt diese in ihrer historischen Spezifik zu begreifen. Marx hatte für diese Form der Rückprojektion oft beißenden Spott übrig. Während Marx die historische Durchsetzung der modernen Eigentumsordnung im Kapital kritisch nachzeichnet, bleiben seine Ausführungen zu Geld auffällig spärlich. Für die PROKLA bin ich der Genese nachgegangen und wollte dem historischen Hintergrund des Zitats zu Hexerei und Geldfälschung nachgehen. Leider war hierfür kein Platz und der Exkurs hätte etwas vom Thema des Beitrags weggeführt. Deshalb möchte ich meine Notizen hier zugänglich machen.

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Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben

Sie war eine der wichtigsten englischsprachigen Marxistinnen: Ellen Meiksins Wood. Geboren 1942 in New York, studierte die Tocher lettischer Flüchtlinge Politikwissenschaften in Los Angeles, lehrte später in Toronto und publizierte in vielen linken Theoriezeitschriften. Ellen Meiksins Wood war Redaktionsmitglied der New Left Review, neben unter anderem Paul M. Sweezy Mitherausgeberin der »Monthly Review« und Autorin für das »Socialist Register« und »Against the Current«. Hierzulande sorgte sie unter anderem mit dem Buch »Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus« für Aufmerksamkeit. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch »Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche«. Continue reading “Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben”