Die Leidenschaft am Eigeninteresse. Adam Smith und die Politische Ökonomie auf der Suche nach ihrem Gegenstand

Auch wer von Adam Smith noch nie etwas gehört hat, kennt wahrscheinlich die fixe Idee, dass die Marktkräfte wie eine „unsichtbare Hand“ wirken und dafür sorgen, dass die Wirtschaft effizient und gerecht funktioniert.[1] Diese Metapher wird gerne dann strapaziert, wenn wahlweise Staats- oder Marktversagen beklagt und eine neue „Balance“ angemahnt wird – oder Adam Smith gewürdigt werden soll, dessen 300. Geburtstag in diesen Tagen zu feiern wäre. Wann genau, weiß man bis heute nicht, denn der Tag seiner Geburt ist nicht überliefert. Das Datum, an dem er getauft wurde, hingegen schon. Es war der 5. Juni – zumindest nach dem julianischen Kalender, einem der ältesten Sonnenkalender, dem Vorläufer des heute gebräuchlichen gregorianischen.[2] Die Umstellung vom einen auf den anderen sollte dem Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr entgegenwirken – quasi zweier Zeitrechnungen, einer abstrakten und einer „natürlichen“, ein Gegensatzpaar, das geradezu symptomatisch für die Zeit steht, in der Smith sich den Kopf über den „Wohlstand der Nationen“ zerbrach.

Adam Smith wurde 1723 in Kirkcaldy geboren, am Meeresarm Firth of Forth, gegenüber von Edinburgh.[3] Dank eines Stipendiums konnte er eine Universität besuchen, wichtiger dürfte jedoch das „Selbststudium“ gewesen sein. In Oxford wurde er bei der Lektüre von David Humes „A Treatise of Human Nature“ erwischt und erhielt einen Verweis, das gottlose Buch wurde konfisziert. Mit Hume sollte ihn später eine lebenslange Freundschaft verbinden. Smith wurde bereits 1752 Professor für Logik, und acht Jahre später erschien sein erstes Buch, „Theory of Moral Sentiments“, das bis zu seinem Tod mehrfach neu aufgelegt werden musste, wofür Smith jedes Mal Korrekturen beisteuerte. Das Buch steht in der englisch-schottischen Tradition der sogenannten empiristischen Gefühlsethik, in der Emotionen als konstitutiv für die moralische Urteilsbildung gelten. Smith selbst hob hervor, dass es sich nicht um eine Sollens-Ethik handele. In einer Anmerkung führte er aus, „dass die vorliegende Untersuchung nicht eine Frage des Sollens betrifft, wenn ich so sagen darf, sondern eine Frage nach Tatsachen“.[4]

Die Tatsachen sind in diesem Fall die Natur der Dinge oder die menschliche Natur. Smith ist dem Empirismus verpflichtet. Zwar berief man sich damals in vielen Fragen noch auf Gott, doch wenn begründet werden sollte, wie die Menschen zu leben haben, wurden im Zuge der Aufklärung andere Maßstäbe relevant, nicht zuletzt die Vernunft, die erkennt, was ist, was die Natur der Sachen und des Menschen ausmacht. Smiths Terminologie lehnte sich an die des Naturrechts an, seine Argumente sind die des Utilitarismus, der sich damals allmählich durchzusetzen beginnt, also der Idee, dass moralisch richtig ist, was das Wohlergehen für alle oder doch möglichst viele steigert. Der Zweck heiligt die Mittel, auch und gerade ohne Gott. Stichwortgeber waren nicht zuletzt Smiths akademischer Lehrer Francis Hutcheson und sein Freund Hume.

Eine derartige „Nutzethik“ war zuvor kaum vorstellbar, da die Mittel noch nicht „geheiligt“ waren. Hier zeigt sich, dass 1723, als Adam Smith geboren wurde, eine alte und eine neue Zeit gleichermaßen herrschten. Als noch heftig darüber debattiert wurde, welche Zeitrechnung nun gelten sollte und dann die Reform des julianischen Kalenders in Angriff genommen wurde, vollzog sich in England eine Revolution, die dem modernen Kapitalismus zum Durchbruch verhalf. Vor diesem Hintergrund wurde Adam Smith retrospektiv zum Begründer der Politischen Ökonomie erklärt, die später – vor allem im deutschsprachigen Raum – auch Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre heißen würde. Diese Disziplin gab es im engeren Sinn noch gar nicht. Ein Lehrstuhl explizit für Politische Ökonomie wurde erst viele Jahre nach seinem Tod eingerichtet.

Auf einer mehrjährigen Reise nach Frankreich, Smith begleitete als Privatgelehrter einen jungen Adligen, begegnete er nicht nur Voltaire, sondern auch den beiden großen Vertretern der physiokratischen Schule, Anne Robert Jacques Turgot und François Quesnay, damals Leibarzt von Ludwig XVI. Während die sogenannten Merkantilisten Gewinn allein als Aufschlag auf das Produkt im Handel erklärten, eine Vorstellung, die unmittelbar der kaufmännischen Praxis entsprang, lenkten die Physiokraten das Interesse auf die Produktion: Preise seien nicht allein durch Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern auch vom den Waren hinzugesetzten Wert, der, so die zentrale Annahme, allein in der landwirtschaftlichen Arbeit entstand. Marx nannte sie die „ersten systematischen Dollmetscher des Capitals“.[5] Deren Überlegungen wird Smith später aufgreifen, weshalb der Ökonom Joseph A. Schumpeter sich zu der Behauptung hinreißen ließ, in „The Wealth of Nations“, dem 1776 veröffentlichten Hauptwerk von Adam Smith, seien „keine wirklich neuen Ideen“ zu finden.[6] Angesichts der nach Smiths Tod publizierten Mitschriften seiner Vorlesungen, Manuskripte hatte er vernichten lassen, ist diese Behauptung kaum haltbar. Smith hatte die zentralen Gedanken bereits vor seiner Reise nach Frankreich formuliert.[7]

Seine beiden wichtigsten Bücher – „The Theory of Moral Sentiments“ und „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations” – erschienen zu Beginn der Phase, die der Historiker Reinhart Koselleck „Sattelzeit“ genannt hat. In dieser Zeit vollzog sich ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel, begleitet von verschiedenen Erschütterungen des menschlichen Selbstverständnisses. Der soziale Sinn vieler Begriffe veränderte sich, die Zeiterfahrung erfuhr einen grundlegenden Wandel und es entstand überhaupt erst so etwas wie „die Geschichte“: „Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts häufen sich die Indizien, die auf den Begriff einer neuen Zeit im emphatischen Sinn hinweisen. Die Zeit bleibt nicht die Form, in der sich alle Geschichten abspielen, sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität. Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann die Geschichte. Die Zeit wird metaphorisch dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber.“[8]

Adam Smith lebte inmitten dieser Übergangszeit und bewegte sich daher entlang mehrerer Grenzen, die ihm nicht unmittelbar bewusst waren. Wie viele seiner Zeitgenossen, auch die Ökonomen Turgot und Quesnay, trug er gepuderte Perücken, auf die der jüngere David Ricardo, Jahrgang 1772, dann verzichten würde. Smith unterrichtete auf Englisch, nicht mehr auf Latein. Er war zwar zunächst Professor für Logik, später für Moralphilosophie, eine Ausdifferenzierung in die diversen Gesellschaftswissenschaften stand erst noch aus.[9] Während der 1755 verstorbene Philosoph Montesquieu von der vermeintlichen Stabilität Chinas fasziniert war, schreckte gerade diese Smith ab. Er hielt sie für rückschrittlich, für das Gegenteil von Dynamik und Fortschritt in der Geschichte. Mit der Idee, dass es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, konnte sich auch eine Vorstellung verallgemeinern, die auf die Physiokraten zurückgeht, dass es im Wirtschaftsprozess ein produit net oder surplus gibt, ein Mehr, dass Wirtschaft also kein Nullsummenspiel ist. Das musste begründet werden – der Sache nach und moralisch, angesichts der noch immer geltenden Annahme einer göttlichen Ordnung, die Bereicherung nicht vorsah. Heute scheint es – übersetzt als „Wachstum“ – unabdingbar, auch wenn die auf ihr gründende Wirtschaftsweise die Menschheit auf einen ökologischen Abgrund zu manövriert. Und erst für Adam Smith war es – auf der Suche nach Wert und Wertgröße in der Ökonomie – wissenschaftlich nicht nachvollziehbar, dass Gold oder Silber als Maßstab gelten sollte, ein Maß „dessen Größe ständig schwankt, wie etwa ein normaler Fuß, eine Armlänge oder eine Handvoll, kann niemals die Menge anderer Dinge exakt angeben.“[10]

Smith versuchte, die Verhältnisse in aufklärerischer Absicht auf den Begriff zu bringen, doch brachte die Aufklärung, nicht zuletzt die Politische Ökonomie, eine neue Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich. In dem Versuch, der Natur der Sachen auf den Grund zu gehen, organisierte sie begrifflich eine Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die im Vokabular der Politischen Ökonomie als Wert, Gebrauchswert, Ware, Preise, Kapital etc. erfasst wurden. Erst Karl Marx klärte mit seiner Kritik der Politischen Ökonomie über diese Verklärung auf: „Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewusstsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst. Vorbürgerliche Formen des gesellschaftlichen Produktionsorganismus werden daher von ihr behandelt wie etwa von den Kirchenvätern vorchristliche Religionen.“

Marx weiter in einer Fußnote, in der er sich selbst zitiert: „Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. – Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.“[11]

Adam Smith war einer der wichtigsten Ökonomen, die begründeten, warum die neue aufgeklärte Ordnung der Politischen Ökonomie eine „natürliche“ ist. Er habe, so Karl Marx, die politische Ökonomie „zu einer gewissen Totalität entwickelt, gewissermaßen das Terrain, das sie umfasst, abgeschlossen“[12]. Mit ihm entwickelte sich das Wissenschaftsfeld der Politischen Ökonomie zu einer der zentralen Instanzen gesellschaftlicher Selbstreflexion, mit ihr erhielt die bürgerliche Gesellschaft eine Anschauung von sich selbst. „Es war immer das dominierende Interesse der klassischen politischen Ökonomie, die ‚natürlichen Gesetze‘ dieser sich selbst regulierenden Ordnung zu formulieren.“[13] Wie Matthias Bohlender gezeigt hat, zeichnet sich die Politische Ökonomie jedoch nicht allein dadurch aus, dass sie sich mit dem aufkommenden Kapitalismus entwickelt, sondern auch dadurch, dass sie mit einer Kritik an einer bestimmten Rationalität des Regierens einherging.[14] Genau diese beiden Momente verband Smith.

Bis heute irritieren seine Ausführungen, weil sie die Trennung von Politik und Ökonomie noch nicht ganz vollzogen haben. Bei seinem Versuch, den Wert auf den Begriff zu bringen, ging Smith zwar radikaler als viele vor ihm vor, stiftete aber zugleich viel Verwirrung. Dank seiner Überlegungen konnten Politik und Ökonomie als einander äußerliche Sphären mit je eigener Rationalität begriffen und als solche kritisiert werden. Die später nur noch impliziten moralphilosophischen Prämissen, die die bürgerliche Gesellschaft auszeichnen, werden hier noch explizit diskutiert. Deshalb lohnt es auch heute noch, Adam Smith zu lesen und ihm sozusagen dabei über die Schulter zu sehen, wie er daran arbeitet, die modernen, bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse als eine vermeintlich natürliche Ordnung zu konzeptualisieren.

Trennung von Politik und Ökonomie

Adam Smith etablierte die Politische Ökonomie als eigenständigen Wissensbereich, während der neue „Gegenstand“ mit seiner Eigenlogik erst im Begriff war, gesellschaftlich Raum zu greifen und zu dominieren. Für den Merkantilismus war die Rationalität der Staatsräson noch immanent, der Zweck des Staates war der Staat selbst, der die gesellschaftliche Wirklichkeit nach seinem Willen formte. Das wurde infrage gestellt, sobald die Marktkräfte zu wirken begannen. Daraus folgte für die Physiokraten, so Foucault, dass „man die Reglementierung auf Grund polizeilicher Autorität durch eine Regulierung ersetzen [muss], die vom Preis der Dinge selbst ausgeht.“[15] Diese Preise konnten nicht einfach festgesetzt, sie mussten auf dem Markt ermittelt werden. Die Idee des „gerechten Preises“ löste sich auf, es begann die Zeit des „natürlichen Preises“.

Die Widerspenstigkeit der Preise deutete die Politische Ökonomie als Materialität einer eigenständigen ökonomischen Sphäre. Wie bestimmt sich der Preis und was macht den Wert der Dinge aus? Diese Fragen mussten beantwortet werden, sollte die Politik mit dieser neuen Realität regieren. Es galt also, die „Regierungskunst“ einer „höheren Logik“ zu unterwerfen. Der Staat sollte fortan der von der Politischen Ökonomie ausgerufenen „ökonomischen Vernunft“ Folge leisten. Dies sei die Voraussetzung für „gutes“ Regieren.

Die Bezeichnung „Politische Ökonomie“ stellte jedoch nicht den „politischen“ Charakter des Ökonomischen heraus, sondern markierte eine Differenz zum Wissenschaftskanon der Antike bis ins „Mittelalter“, in dem „Ökonomie“ für „Hauswirtschaft“ stand, für die Bewirtschaftung des einzelnen Hauses („oikos“) oder Hofes als herrschende Form der Subsistenz. Die Wirtschaft des gesamten Gemeinwesens, das ist der zentrale Unterschied, musste selbst begrifflicher Gegenstand werden.[16] So entstand ein ganzes „Wahrheitsfeld“, über das der Staat in Kenntnis sein musste. Bei der Politischen Ökonomie als Erkenntnisform handelt es sich also „nicht um eine irgendwie geartete Erkenntnis der Regierung selbst […], die der Regierung wesentlich wäre. […] Es handelt sich vielmehr um eine Wissenschaft, die gewissermaßen der Regierungskunst gegenübertritt, eine Wissenschaft, die ihr äußerlich ist“.[17] Die staatliche Regierung „kann nicht die Ökonomie als Prinzip, Gesetz, Richtlinie oder innere Rationalität haben. Die Ökonomie ist eine Hilfswissenschaft im Verhältnis zur Regierungskunst. Man muss mit der Ökonomie regieren, man muss an der Seite der Ökonomen regieren, man muss regieren, indem man auf die Ökonomen hört, aber es ist ausgeschlossen, unmöglich und steht außer Frage, dass die Ökonomie die Rationalität der Regierung selbst ist.“[18]

Adam Smith verstand sich als Hilfswissenschaftler in diesem Sinne. Sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ markiert den zentralen Durchgangspunkt für die Herausbildung des neuen Regierungswissens, von dem Foucault berichtet. Smith schrieb es eher als Handreichung für den Souverän, quasi noch in der Tradition der Fürstenspiegel, allerdings berief er sich nicht einfach auf Gottes Gnaden, sondern auf „die Natur“ – auf die Natur des Menschen, natürliche Preise, natürliche Ordnung.

Auch bedeutenden Ökonomen späterer Jahrhunderte war die Rolle als Hilfswissenschaftler durchaus bewusst. So gab der Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson, der mit „Economics. An Introductory Analysis“ ein weit verbreitetes ökonomisches Lehrbuch verfasste, zu Protokoll: „I don’t care who writes a nation’s laws […] if I can write its economics textbooks“.[19] Wie das Verständnis von Ökonomie und die kaum mehr hinterfragten Prämissen politisch wirksam werden, ist im politischen Diskurs der Gegenwart jedoch kaum präsent. Es herrscht die „Diskursregel“ (Foucault) der „Versachlichung“, die keine Interessen kennt, widersprüchliche schon gar nicht, und nur noch im Namen des „Wohlstands der Nation“ regieren will. Werden gesellschaftliche Widersprüche – die ökologische Krise eingeschlossen – zu stark, wird nur über das „richtige Verhältnis“ von Markt und Staat diskutiert, ohne zu verstehen, dass diese Gegenüberstellung Teil des Problems ist, ein Resultat verkürzter Analyse, die einer natürlichen Ordnung die gestaltende Politik gegenüberstellt. Wirtschaft wird nicht mehr oder weniger „regiert“, sondern immer nur anders. Der Staat stellt keine „räumliche“ Beschränkung des Privateigentums dar, sondern ist dessen Voraussetzung. Ökonomie und Staat sind zwei Seiten einer Medaille, etwas, was zur Zeit von Adam Smith im öffentlichen Bewusstsein durchaus noch präsent war. Schließlich grenzte sich die neue Regierungsweise, für die er eintrat von einer kritisierten alten ab und wollte damit den wirtschaftlichen Triebkräften Geltung verschaffen, die man als organisierendes Moment einer „natürlichen“ Ordnung identifizierte.

Smiths Revolutionierung der Werttheorie

Aufgrund der sich durchsetzenden kapitalistischen Logik sah sich Adam Smith auch gezwungen, einen Paradigmenwechsel in der Frage einzuleiten, was den ökonomischen Wert ausmacht und wie seine Größe zu bestimmen ist. Schon lange war diese Frage diskutiert worden. Eine Antwort lautete: Der Wert einer Sache ist durch ihre Nützlichkeit bestimmt. So sah es etwa Smiths Lehrer Hutcheson. Diese Antwort hatte eine gewisse gesellschaftliche Plausibilität, solange der herrschende Zweck der Produktion nicht, wie im Kapitalismus, der Profit, sondern die Befriedigung von Bedürfnissen war, wenn nicht der eigenen, dann der Bedürfnisse der Herren. Erst Adam Smith stellte diese Tradition infrage. Er formulierte die Trennung von Gebrauchswert („value in use“) und Tauschwert („value in exchange“) systematisch aus.[20] Hintergrund war das sogenannte Wertparadoxon, demnach etwas, was großen Nutzen besitzt (Wasser), kaum Wert habe und etwas, was kaum nützlich sei (Diamant), hingegen einen großen Wert.[21] Um letzteren zu verstehen, so Smith, müsse bei der Bestimmung des Werts der Nutzen konsequent ignoriert und vielmehr nach dem Grund der Tauschwertgröße gefragt werden. Das Maß für den Tauschwert sei die Arbeit, nicht die Nützlichkeit.

Als Maßstab für den Wert sei Gold nicht tauglich, da dessen Wert selbst schwanke. Aber die Frage nach einem Maß der Werte war für Smith weniger relevant, denn „tauscht und vergleicht man somit Waren weit häufiger mit anderen als mit Arbeit. Es ist daher nur ganz natürlich, wenn man ihren Tauschwert nach der Menge einiger Waren schätzt und nicht nach der Arbeitsmenge, die man damit kaufen kann. Sobald nun der unmittelbare Tausch aufhört und das Geld das übliche Tauschmittel beim Handel geworden ist, wird jede Ware häufiger gegen Geld als gegen eine andere Ware getauscht. So kommt es, dass der Tauschwert jeder Ware häufiger nach der Menge Geld geschätzt wird als nach der Menge Arbeit oder einer beliebigen anderen Ware, die man dafür eintauschen kann.“[22]

Smith untersucht hier den Tausch als einen isolierten Akt zweier Akteure, ganz im Sinne des von ihm vertretenen Empirismus, also im gedanklichen Nachvollzug dessen, was zu beobachten ist. Einerseits vollzieht er hier bereits Abstraktionen, für die er von Zeitgenossen kritisiert wurde; andererseits ist er noch nicht in der Lage, noch weiter zu abstrahieren, was ihm Ricardo und Marx vorwerfen sollten. Der Tausch ist bei Smith noch nicht das, was die moderne Gesellschaftlichkeit spezifisch ausmacht, als herrschende Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels. Smith geht vielmehr von einer anthropologisch verankerten „Neigung zum Tausch“[23] aus, die einerseits zu Arbeitsteilung führe und somit zu mehr Wohlstand, aber gleichzeitig die Abhängigkeit der Menschen untereinander erhöhe. Er fragt jedoch nicht nach dem gesellschaftlichen Charakter dieser Abhängigkeit – auch sie erscheint als: natürlich.

Für Smith realisiert sich der Wohlstand der Nationen gerade als nicht-intendiertes Resultat der Verfolgung eigener Interessen. „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“[24] Eigennutz ist also kein Laster mehr, keine Form der Habsucht wie noch in vorbürgerlichen Gesellschaften, sondern positiv besetzt. Auch in dieser Frage ist Smith ein Grenzgänger. Das Zusammenspiel der Eigeninteressen führt im Effekt zu Gemeinwohl, dank der unsichtbaren Hand des Marktes.

Was wir heute als „Interessen“ kennen, bildete sich erst im 17. und 18. Jahrhundert heraus. Davor hatte der Begriff eine andere Bedeutung, bezeichnete Zins oder Beteiligung. Im Zuge des Wandels wurde er Ausdruck dafür, dass menschliches Verhalten kalkulierbar ist. Diese Transformation zeichnete Albert O. Hirschman in seinem Buch „Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg“ nach.[25] Zuvor gab es keine Garantie für kalkulierbares menschliches Verhalten, nur die Hoffnung, dass der gemeinsame Glauben Verlässlichkeit stiftet. Das sich nun herausbildende Verständnis unterstellte Individuen, die ihre materiellen Lebensumstände sichern und verbessern wollen.

Smith arbeitet mit diesem Interessenbegriff, der jedoch nicht politisch verstanden wird, sondern die menschliche Natur auf den Begriff bringen soll, die sich zu einer natürlichen Ordnung fügt. Was an dieser Ordnung „natürlich“ ist, wurde schon bald Gegenstand theoretischer Debatten – nicht zuletzt aufgrund sozialer und politischer Konflikte und Kämpfe. Bei Smith waren die Produktionsverhältnisse und die Verteilung des produzierten Reichtums noch Teil der natürlichen Ordnung. Selbstredend gibt es bei ihm auch einen „natürlichen Lohn“. Die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen ist sachlich vermittelt, nimmt die Formen von Waren und Geld an. Es findet keine gesellschaftliche Absprache statt, sondern nur noch Ansprache, man muss hören, was die Märkte sagen oder wie es Heinz Dieter Kittsteiner formuliert hat: „Smith ist ein Prominenter in der großen Kette der Erfinder des Über-Ich“.[26]

Im 19. Jahrhundert unterschied John Stuart Mill dann zwischen Produktionsverhältnissen, die als Ausdruck technischer Notwendigkeiten unveränderlich, und Distributionsverhältnissen, die gesellschaftlich produziert und veränderbar seien. Das war auch das Ende der sogenannten Lohnfondstheorie, die nur einen begrenzen und vor allem festgelegten „Kuchen“ für die Löhne der Arbeiter vorsah. Dies musste jedoch nicht einfach aufgrund theoretischer Kritik aufgegeben werden, sondern angesichts der Erfolge der Gewerkschaftsbewegung zusammenbrach. So wurde ein Bereich der Ökonomie politisiert, dem Reich der „natürlichen“ Notwenigkeit entzogen. Voraussetzung war jedoch, dass auch Bedürfnissen politische Interessen wurden, weil die Bedürfnisse nur noch am und gegen den Markt durchgesetzt werden können.[27]

Adam Smith ist vor diesem Hintergrund eine ambivalente Figur der Ideengeschichte, der aufgrund seiner widersprüchlichen Antworten auf die von ihm aufgeworfenen Fragen für sich widersprechende Theorietraditionen anschlussfähig ist. Die marxistische Tradition sieht sich als Nachfolger der auf Smith begründeten Arbeitswerttheorie und diejenigen, die gerade in Abgrenzung davon die Theorie des Grenznutzens entwickelten (Marginalismus), kritisieren Smith dafür, dass er für die Bestimmung des Werts ausgerechnet den Gebrauchswert außen vor lasse, der es doch gerade erlaube, die „Nützlichkeit“ zu messen.

Es verhält sich damit durchaus so, wie Rosa Luxemburg anmerkte, wenn sie bezüglich Smiths Konzeption vom „Hang zum Tausch“ konstatierte, dass diese „wie so manche andere Stelle […] bekanntlich späteren bürgerlichen Ökonomen vielfach zu überlegenem Lächeln und Achselzucken Anlass gegeben [habe]. Die naseweisen Jünger Smiths ahnen gar nicht, dass in den von ihnen belächelten Naivitäten des alten Meisters gerade seine ‚klassische Deduktion‘ am klassischsten zum Ausdruck kommt und dass sie, die bürgerlichen Ökonomen, mit jener Naivität auch das Simsonshaar, den Urquell ihrer Forschungskraft, unwiederbringlich verloren haben.“[28]

Adam Smith ist, gerade zu Jubiläen, vor allem eine Projektionsfläche für unterschiedlichste Positionen. Dabei bietet er weit mehr, weil er begrifflich den Raum der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft vermessen hat. Dieser Raum existiert jedoch in der überkommenden Form nicht mehr, die weitere Ausdifferenzierung der Wissenschaften hat ihn fragmentiert. Im Zuge dessen hat sich die Ökonomietheorie weiter von ihren sozialwissenschaftlichen Wurzeln befreit. Tatsächliche Naturgesetze wurden zum Vorbild, um ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu formalisieren, wie der Wissenschaftshistoriker Philip Mirowski aufgezeigt hat.[29] Übrig geblieben ist fast nur noch die Mathematik, eine vom Sozialen befreite Disziplin, die mit den Sozialwissenschaften kaum mehr etwas gemein hat. „Ökonomische Wahrheiten“, so etwa Alfred Marshall (1842-1924), ein Gründungsvater der modernen Neoklassik, seien „so eindeutig wie die Geometrie“.[30]

Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus heißt es oft. Das liegt nicht allein daran, dass es angesichts von Klimakatastrophe, globaler Ungleichheit und Armut sowie autoritärer Formierung vieler Gesellschaften wenig Positives zu berichten gibt, sondern auch daran, dass sich die „natürliche Ordnung“, von der Smith anfing, Rechenschaft abzulegen, weiter gegen spontane wie wissenschaftliche Kritik immunisiert hat, nicht trotz, sondern dank der Wirtschaftswissenschaften. Das sollte jedoch kein Grund zur Resignation sein, sondern vielmehr Anlass eines interdisziplinär angelegten Forschungs- und Kritikprogramms. „Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts.“[31] – So Marx, der wie kein zweiter gezeigt hat, dass gerade wenn diese „Fiktionsweise ohne Phantasie“[32] zu einer „Religion des Alltagslebens“ wird, sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik werden muss.

Zuerst erschienen bei Soziopolis, 5. Juni 2023: https://www.soziopolis.de/die-leidenschaft-am-eigeninteresse.html | Bitte beziehen Sie sich beim Zitieren dieses Dokumentes immer auf folgenden Persistent Identifier (PID):
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Fußnoten

1] Weniger bekannt ist, dass Adam Smiths Metapher auf Shakespeares „Macbeth“ (III. Akt, 2. Szene) anspielt, wo „invisible hand“ für „fate“ steht.
2] Während Schottland bereits 1600 damit begann, das neue Jahr auf den 1. Januar zu datieren, was dem gregorianischen Kalender entsprach, zogen England und Großbritannien nach langen Debatten erst 1752 nach. Davor begann das Jahr mit dem 25. März – innerhalb des Königreichs herrschten also über Jahrzehnte selbst zwei Zeitrechnungen, was auch ein Ausdruck von Machtkämpfen zwischen den Kirchen war.
3] Ausführlicher zur Biografie vgl. Gerhard Streminger, Adam Smith – Wohlstand und Moral. Eine Biographie, München 2017; dazu die Besprechung von Timo Luks: www.soziopolis.de/markt-und-moral.html.
4] Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle [1759], übers., hrsg. und eingeleitet von Walther Eckstein, Hamburg 2004, S. 113.
5] Karl Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, MEGA2, Bd. II/4.2, S. 725; Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, S. 792.
6] Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse [1954], übers. von Gottfried Frenzel unter Mitarb. von Johanna Frenzel, nach dem Manuskript herausgegeben von Elizabeth B. Schumpeter, Göttingen 2009, S. 245,
7] Maurice Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith. Eine nationalökonomische Dogmengeschichte [1973], übers. von Cora Stephan, Frankfurt am Main 1977, S. 51f.
8] Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1984, S. 321.
9] Vgl. hierzu: Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Bd. IV, Der Siegeszug des Liberalismus (1789-1914) [2011], übers. von Gregor Kneussel, Wien 2012, S. 283ff.
10] Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen [1776], vollständige Ausgabe nach der 5. Auflage, letzter Hand, London 1789, übers. von Horst Claus Recktenwald, München 1978, S. 30. Vgl. hierzu auch Philip Mirowski, More Heat than Light. Economics as Social Physics, Physics as Nature’s Economics, Historical Perspectives on Modern Economics, Cambridge 1991, S. 109.
11] Karl Marx, Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S 139.
12] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Manuskript 1861–1863, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, MEGA2, Bd. II/3.3, S. 816; MEW, Bd. 26.2, S. 162.
13] Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith, S. 53.
14] Matthias Bohlender, Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauerismus, Weilerswist 2007.
15] Ebd., Herv. ISt.
16] Vgl. Alfred Bürgin, Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschichtliche und dogmengeschichtliche Betrachtungen, Marburg 1996; Terence W. Hutchison, Before Adam Smith. The Emergence of Political Economy 1662-1776, Oxford 1988.
17] Ebd.
18] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2, Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1979), übers. von Jürgen Schröder. Herausgegeben von Michel Senellart, Frankfurt am Main 2004, S. 393.
19] Zitiert nach: www.nytimes.com/2009/12/14/business/economy/14samuelson.html
20] Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 27.
21] Ebd.
22] Ebd., S. 29f.
23] Ebd., S 17.
24] Ebd.
25] Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg [1977], übers. von Sabine Offe, Frankfurt am Main 1987. Siehe die Erinnerungen an Albert O. Hirschman von Wolf Lepenies: www.soziopolis.de/leidenschaft-und-interessen.html.
26] Heinz D. Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht. Paderborn/München 2008, S. 23.
27] Eine Generation später sollte der sogenannte Marginalismus den Zusammenhang zur Arbeit ganz kappen, etwas, was ohne die Klassenkämpfe am 1830 und die Strömung der sogenannten ricardianischen Sozialisten kaum erklärt werden kann. Siehe u.a. Roland L. Meek, Der Untergang der Ricardoschen Ökonomie in England [1950], in: Ökonomie und Ideologie, übers. von Joska Fischer und Jürgen Ritsert, Frankfurt am Main 1973, S. 73–104; Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith, 110ff.
28] Rosa Luxemburg: Zurück zu Adam Smith! (1899/1900), in: Gesammelte Werke, Bd. 1.1, 8. überarbeitete Auflage, Berlin 2007, S. 735, online: rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/735.
29] Siehe Mirowski, More Heat than Light.
30] Zitiert nach Dobb, Wert- und Verteilungstheorien seit Adam Smith, S. 13.
31] Marx, Einleitung [zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“], MEW, Bd. 42, S. 19.
32] Der Begriff geht auf den Soziologen Sebastian Herkommer zurück, der die „Fiktionsweise ohne Phantasie“ (S. 31ff.) von der „Fiktionsweise mit Phantasie“ (S. 73ff.) abgrenzt: Sebastian Herkommer, Ideologie. Eine Einführung, Hamburg 1985.