FAQ. Noch Fragen? Der Kampf gegen die Zeit des Kapitals

Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander arbeiten. Die Formen, wie Arbeitsteilung organisiert ist, sind sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind es recht unterschiedliche soziale Logiken, die da am Werke sind.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen, dass vor allem Frauen ihre Lebenszeit dem Haushalt opfern müssen. Damit überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen einen Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Arbeit hat: Das Arbeitsamt will nicht, dass man in Urlaub geht, man soll sich vielmehr »zur Verfügung« halten. Die sozialen Logiken, die über Teile unserer Lebenszeit verfügen, sind aber durchaus verschieden – und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen institutionalisiert: (Sozial-)Staat, Haushalt oder Kapital.

In seinem Hauptwerk Das Kapital konzentriert sich Marx auf die Analyse der Herrschaft des Kapitals. Wie aber sieht die Herrschaft des Kapitals aus und was hat das mit Arbeitszeitverkürzung zu tun? Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nimmt im Kapitalismus eine besondere Form an: Sie ist sachlich vermittelt und bekommt einen natürlichen Anstrich. Dass das Essen auf dem Tisch vorher mal Ware war, für die man Geld bezahlen muss, erscheint als das Natürlichste der Welt. Ist aber nicht so. Das Perfide daran: Erstmals erscheint die Ausbeutung als beglichen. Wie das?

Marx stellt sich die Frage, wie in einer Tauschgesellschaft aus Geld überhaupt mehr Geld werden kann, das heißt Profit. Schließlich werden beim Warentausch immer gleiche Wertgrößen ausgetauscht. Wo soll da ein »Mehr« herkommen? Marx ist es zu einfach, Ausbeutung dadurch zu erklären, dass irgendwer irgendwen aufgrund irgendwelcher Gewaltverhältnisse übers Ohr haut. Marx will der Ausbeutung in einer Gesellschaft auf die Schliche kommen, die keine persönlichen Knechtschaftsverhältnisse kennt, sondern in der die Menschen formal frei und gleich sind. Wie ist Ausbeutung hier möglich?

Unter all den Waren, die getauscht werden, gibt es eine Ware, die einen besonderen Gebrauchswert hat, nämlich den, die Quelle von Wert zu sein: die Arbeitskraft. Marx macht im weiteren seiner Analyse deutlich, dass »Arbeitskraft« eben nicht »Arbeit« sei. Die Arbeitskraft sei Arbeitsvermögen, also eine Potenz. Arbeit sei dagegen der Vorgang selbst. Marx führt süffisant hinzu: »Wer Arbeitsvermögen sagt, sagt nicht Arbeit, so wenig, als wer Verdauungsvermögen sagt, Verdauen sagt. Zum letzteren Prozess ist bekanntlich mehr als ein guter Magen erfordert.«

Fürs Arbeiten braucht es bekanntermaßen auch mehr, nämlich Produktionsmittel. Im Kapitalismus sind die Arbeitskraft und die Produktionsmittel getrennt und es liegt beim Kapital, dass das Arbeitsvermögen auch realisiert, gearbeitet wird. Wie findet nun Ausbeutung statt? Die Arbeitskraft bekommt nur das als Lohn, was ihre Reproduktion ermöglicht. Die Zeitspanne, die dafür gearbeitet werden muss, nennt Marx »notwendige Arbeit«. Sagen wir bei einem Acht-Stunden-Tag vier Stunden. Alles, was darüber hinausgeht, also die restlichen vier Stunden, ist die »Mehrarbeit«. Das in der Zeit entstandene Wertprodukt (Mehrprodukt) streicht das Kapital ein – die Arbeitskraft verkauft sich zu ihrem Wert, wird nicht beschissen und dennoch ist Profit möglich. Im Lohn gilt der Acht-Stunden-Tag als entgolten, die geleistete Arbeit. Als Skandal erscheint nur, dass zu lange oder zu intensiv gearbeitet wird.

Der Kampf für eine kürzere Wochenarbeitszeit und weniger Lebensarbeitszeit ist dennoch ein sehr wichtiger gesellschaftlicher Kampf. Er hat zum Ziel, die Kontrolle des Kapitals über die Lebenszeit zurückzudrängen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das, was als lebensnotwendig gilt, nicht gleichermaßen sinkt. Und nicht erst seit Hartz IV wird genau hier Hand angelegt. Wenn die Politik über »Zumutbarkeitsregelungen«, das »Lohnabstandsgebot« und soziale Leistungen oder die Höhe der menschenwürdigen Mindestsicherung diskutiert, dann hat sie immer auch das Lohnniveau im Blick. Ein gewerkschaftlicher Kampf für kürzere Arbeitszeit muss deshalb einhergehen mit einem Kampf für gute Lebensbedingungen für diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen, nicht ihre Arbeitskraft verkaufen.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 610 vom 17.11.2015.