Die Hausnummer als Herrschaftspraxis

In meinem Aufsatz zu Poulantzas lesen diskutiere ich den Staat als Wissensapparat. Wissen in unterschiedlichster Form als Herrschaftspraxis des Staates und zugleich als dessen Voraussetzung. Dazu gehört auch die so scheinbar simple Erfindung wie die Hausnummer. Im aktuellen MieterMagazin des Berliner Mietervereins ist nun ein kurzer Aufsatz von Birgit Leiß dazu erschienen: Die Hausnummer. om ungeliebten Kontrollsystem zur aufgeklärten Ordnung (Zum weiterlesen: Anton Tantner: Die Hausnummer – Eine Geschichte von Ordnung und Unordnung und einen Aufsatz in der jungle world).

Der Staat, das verflixte Ding. Warum materialistische Staatstheorie für linke Politik hilfreich sein kann

Linke Politik findet, so selbstbewusst und kämpferisch sie auch sein mag, immer in einem staatlichen Kontext statt. Entsprechend machen die Partei DIE LINKE, Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder linksradikale Organisationsansätze wie die Interventionistische Linke sehr verschiedene Erfahrungen mit dem Staat. Sie sind aber mit denselben staatlichen Organisationsprinzipien wie dem bürgerlichen Recht, bürokratischen Verfahren, der parlamentarischen Demokratie, der Parteienkonkurrenz, der Trägheit staatlicher Verwaltung und dem Gewaltmonopol konfrontiert. Diese Organisationsprinzipien kapitalistischer Staaten versucht die materialistische Staatstheorie genauer zu verstehen, wobei „materialistisch“ einen positiven Bezug auf die marxsche Ökonomiekritik meint. Dabei bricht sie mit den Vorstellungen vom Staat als einer von der Gesellschaft getrennten Sphäre. Stattdessen unterstreicht sie, dass der Staat kein Gegenprinzip zur kapitalistischen Ökonomie darstellt, sondern sich beide Momente gegenseitig voraussetzen. Holzschnittartig formuliert: Kein Kapitalismus ohne staatlich garantiertes Eigentums- und Arbeitsrecht, kein Staat ohne kapitalistisch erwirtschaftete Steuern.

Gramsci, Poulantzas, feministische Staatsforschung

Was wie ein theoretisches Gedankenexperiment erscheinen mag, ist in der Geschichte der materialistischen Staatstheorie eng mit den politischen Erfahrungen derjenigen verbundenen, die aus einer materialistischen Sicht den Staat begreifen wollten. Antonio Gramsci analysierte vor dem Hintergrund der Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung und dem Sieg des Faschismus das Verhältnis von Staatsapparaten und Zivilgesellschaft. Nicos Poulantzas markierte in Folge von 1968 und der Probleme der emanzipatorischen Kämpfe ab Mitte der 1970er die Grenzen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte, sich in die politische Ausrichtung des staatlicher Apparate einzuschreiben. Und die feministisch- materialistische Staatsforschung beschäftigte sich mit dem Staat, da sie vor dem Problem stand, dass die feministische Bewegung nicht nur repressiv unterdrückt, sondern auch politisch anerkannt wurde, und als Folge dessen feministische Bewegungsmomente in staatlicher Politik zu verschwinden drohten. Staatstheorie, die den Staat begreifen will, ist vor allem Begriffsarbeit, die sich in Begriffen wie dem „integralen Staat“ (Gramsci), dem Staat als der „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas), dem „Staat des Kapitals“ (Agnoli) oder dem „politischen Maskulinismus“ (Sauer) konkretisiert. Damit sind kapitalismus- und staatskritische Politikauffassungen verbunden, die eine andere Reflexion auf politisches Handeln zulassen, als die in der politischen Öffentlichkeit gängigen.

Linke Parteien

Dieses wollen wir anhand der Erfahrungen mit und von linken Parteien in aller Kürze skizzieren. Während im Mainstream die Gründung von Parteien als politische Option von interessierten BürgerInnen verhandelt wird, versteht die materialistische Staatstheorie sie primär als politischen Druck auf gesellschaftliche Akteure, die sich politisch organisieren wollen. Denn Parteien als Formen politischer Organisation kanalisieren, filtern und formatieren Interessen: Zur Parteiform gehören hierarchische Parteistrukturen, die Verfassungstreue (wozu u.a. auch die Unhinterfragbarkeit der Eigentumsordnung gehört), das parlamentarische Wirken innerhalb durch konservative Kräfte bestimmte parlamentarischen Strukturen und eine bürokratische Logik, die sich an den staatlichen Apparaten ausrichtet.

Prägend für die neuere staatstheoretische Debatte zur Frage von Parteien ist vor allem die Erfahrung mit den Grünen: Anfang der 1980er aus einer breiten, linken sozialen Bewegung zum „Marsch durch die Institutionen gestartet“, landete sie ab 1998 punktgenau bei der Zustimmung zum Kosovo-Krieg und zur neoliberalen Agenda 2010. Eine Erklärung für diese Entwicklung in Anschluss an Gramsci würde sich auf die Veränderung interner Positionen in der grünen Auseinandersetzung um hegemoniale Weltanschauungen fokussieren: Sie reichen von einer Transformation grüner Positionen von einer oppositionellen Bewegung zu einer oppositionellen Partei zu einer staatstragenden Partei, in der Positionen wie „außenpolitische Verantwortlichkeit“, „ökologische Modernisierung“ und „aktivierende Sozialpolitik“ schlussendlich wichtiger wurden als linke Positionen zu „Frieden“, “ökologischer Kapitalismuskritik”, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Selbstorganisierung“. Dabei ist zu beachten, dass das etablierte parlamentarische Spektrum durch die Parteienkonkurrenz und den daran angeschlossenen Medienapparat massiven Druck auf linke Kräfte ausübt, politische Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.

Poulantzas wiederum hat sich insbesondere mit der Materialität staatlicher Apparate beschäftigt, also der Frage, welche gesellschaftlichen Praktiken in Staatsapparate eingeschrieben sind, und inwiefern diese gesellschaftliche Kräfte formieren und Interessen verändern. Poulantzas beharrte darauf, dass politisches Handeln im Staat nicht in freien Willensbekundungen linker Kräfte aufgeht. Dies bezieht sich auf den existierenden Korpus an Gesetzen und Verfahren, an den linke Positionen „systematisch“ anschließen müssen, wollen sie „sinnvolle Politik machen“. Als Resultat davon kann es zu einer symbolischen Transformation linker Politik kommen, so dass diese auf Grund ihres staatstragenden Auftretens für rechtlich und verwaltungstechnisch nicht geschulte, außerparlamentarische linke Akteuren nicht mehr erkennbar ist.

Standbein und Spielbein

Soziale Bewegungen stellen über ihre eigenständige Selbstorganisierung hinaus eine gesellschaftliche Kraft dar, die linke politische Projekte legitimieren (z.B. Umweltpolitik entgegen bestimmter Kapitalinteressen) oder dafür sorgen können, dass linke Parteien gegenüber dem parlamentarischen Alltag politischen Rückhalt bekommen. Die grüne Partei diskutierte dieses in den 1980ern als Verhältnis von „Standbein und Spielbein“. Das Standbein stellt die organisierte außerparlamentarische Politik dar; das Spielbein die Repräsentation und Politik im Parlament. Diese Debatte war von dem Bewusstsein geprägt, dass dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsterrains von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik und den divergierenden Reichweiten linker Forderungen alles andere als unproblematisch und konfliktfrei ist. Gegenwärtig müsste es daher darum gehen, sich eine derartige Perspektive wieder anzueignen, da DIE LINKE nicht aus einer breiten sozialen Bewegung entstanden ist, gleichzeitig jedoch auch nicht als linke Kraft im neoliberal-konservativen parlamentarischen Spektrum ohne soziale Bewegungen als außerparlamentarische Bündnispartner überleben wird. Zentral hierfür ist, die zu Beginn des Artikels geschilderten Interessenswidersprüche zwischen linken Akteuren in einem solchen Bündnis auszuhalten. Dieses beinhaltet einerseits, eine Zusammenarbeit oder gar Bezugnahme von Teilen der außerparlamentarischen Opposition mit oder auf die Partei nicht für prinzipiell unmöglich zu erklären und andererseits von einer widerspruchsfreien Symbiose in einem gemeinsamen politischen Projekt abzurücken. Realistischerweise müsste es gegenwärtig somit darum gehen, überhaupt eine derartige Perspektive wieder aufzumachen und sich über die Bedingungen einer solchen mit dem nötigen staatskritischen Rüstzeug zu verständigen.

Lars Bretthauer/ Ingo Stützle

Erschienen in: prager frühling. Magazin für Freiheit und Sozialismus, Nr.3, 2009, 9-10.

Stamokap und Linkspartei revisited

Verärgerung war noch nie ein guter Ratgeber. Rainer Rilling hat sich nicht nur über scheinbar verfehlte Kritik an der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) geärgert, sondern auch über meine Kritik an der Linkspartei. Diese würde ich um ihrer selbst Willen kritisieren, will heißen diffamieren. Kritik, so verstehe ich das zumindest, nimmt den Gegenstand seiner Kritik ernst. Aber der Reihe nach. Continue reading “Stamokap und Linkspartei revisited”

Die FAZ lärmt und die politische Klasse zögert – Enteignung!?

Die Diskussion hat wieder einen neuen Höhepunkt und gleichzeitig einen intellektuellen Tiefpunkt erreicht. Ganz so als wäre darüber noch nie diskutiert worden, sehen KommentatorInnen, Teile der politischen Klasse sowie die VertreterInnen des Kapitals mit der wahrscheinlichen Verstaatlichung der Hypo Real Estate den Weg in den Staatssozialismus geebnet. Bei all der Aufregung lohnt dann doch mal ein Blick in staatstheoretische Klassiker. Bspw. in Otto Kirchheimers Aufsatz von 1930 “Die Grenzen der Enteignung. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung” (abgedruckt in: Funktionen des Staates und der Verfassung, Frankfurt/M 1972, 223-295). Kirchheimer zufolge schließt eine Enteignung keineswegs die Garantie des Privateigentum aus. Ganz im Gegenteil: Continue reading “Die FAZ lärmt und die politische Klasse zögert – Enteignung!?”

Stamokap: Alter Wein in alten Schläuchen

Tom Strohschneider macht in seinem immer lesenswerten weblog darauf aufmerksam, dass mit der gegenwärtigen Finanzkrise auch alte Zeiten wieder kommen. Will heißen: Alte Erklärungsmuster. Sich diese in Erinnerung zu rufen ist sicherlich wichtig. Vor allem deshalb, weil das eine oder andere Statement unausgesprochen und implizit auf scheinbar längst vergessenen Theorien beruht oder sich gar offen darauf bezieht. So wird gegenwärtig die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus wieder en vogue. Manche haben diese Theorie noch nie zu den Akten gelegt. Leider. Deshalb ist es in diesen Zeiten auch wieder wichtig, die Kritik an damals wie heute falschen Theorien wieder stark zu machen.

Eine nach wie vor brauchbare Kritik zur Frage von Monopolkapitalismus bietet Elmal Altvater in seinem Text “Wertgesetz und Monopolmacht” von 1975. Er schreibt dort: “Das Monopol kann demgegenüber als ein spezifischer Moment der Konkurrenz aufgefasst werden. […] Da die Konkurrenz nicht aufhört zu wirken, wenn einzelne Kapitale als Monopole existieren, wird das einzelkapitalistische Streben nach Monopolstellungen, weil diese einen überdurchschnittlichen Profit eintragen, immer wieder durch die Ausgleichsbewegung der Einzelkapitale – in denen sie sich als Teil des Gesamtkapitals konstituieren – konterkarieren. Monopol und Konkurrenz sind daher auf der Ebene der Ausgleichsbewegung bzw. der Durchsetzungsformen der Bewegungsgesetze der Produktionsweise nicht qualitativ Verschiedenes oder gar einander Ausschließendes.” (Altvater 1975: 159; siehe auch Altvater 1980)

Daran anschließend zeigte Ulrich Jürgens (1980) in seiner historisch-empirischen Studie zu Deutschland um die Jahrhundertwende, dass sich in der institutionellen Form des Kartells gerade eine Restrukturierung des Gesamtkapitals vollzieht, um die allgemeine Form des Kapitalverhältnis zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass gegenwärtig ein ähnlicher Prozess stattfindet – in globalem Maßstab.

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Proseminar zu materialistischer Staatstheorie

Johannes-Agnoli-Institut für Kritik der PolitikMaterialistische Staatstheorien teilen das gemeinsame Forschungsinteresse, eine Perspektive auf westliche Staaten zu entwickeln, die diese in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen Ökonomie analysiert. In diesem Seminar wollen wir uns diese fragmentierte Traditionslinie von ihren Anfängen bei Marx und Engels über die Arbeiten von Gramsci, Agnoli sowie Foucault und Poulantzas bis in die heutigen Debatten um Bob Jessop und Joachim Hirsch überblickartig erschließen. Dabei werden wir uns problemorientiert mit der politischen und wissenschaftlichen Implikationen dieser Theorietradition beschäftigen.
Zentrale Fragestellungen werden dabei sein: das Verhältnis von Staat und Ökonomie, die realpolitische Wirkmächtigkeit staatlicher Apparate, die Relevanz der Zivilgesellschaft als Terrain politischer Konfliktaustragung, die Unterscheidung zwischen theoretischer Begründung und historischer Konstitution des Staates, das Verhältnis von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Diese Fragen sind nicht von ihrem historischen Kontext zu lösen, in dem sie jeweils gestellt und beantwortet wurden, daher soll neben der theorieimmanenten Diskussion auch der historische Charakter der staatstheoretischen Interventionen herausgearbeitet werden.
Das Proseminar hat explizit einführenden Charakter, d.h. es sind keine Vorkenntnisse nötig.

Immer Mittwochs ab dem 23.April 2008, 12-14 Uhr, Otto-Suhr-Institut an der FU-Berlin

Den Staat diskustieren

Im Februar finden zwei Veranstaltungen zu Staat und Möglichkeiten linker Politik statt:

Mit Poulantzas die G8 verstehen. Das Gipfel- treffen der Industriestaaten als staatstheoretisches Problem

Die Kämpfe um und gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm sind vorbei. Während die Proteste ihre Erfolge gezeitigt haben, bleibt die Frage, gegen was sie sich eigentlich gerichtet haben. Öffentlich wahrgenommen wurden vor allem zwei Momente der Kritik: Das Treffen sei auf Grund der kleinen Anzahl von teilnehmenden Staaten illegitim, und die neoliberale und kriegstreiberische Politik der G8-Staaten sei abzulehnen. Welche konkrete Funktion der G8-Gipfel jedoch abseits einer umfassenden Gleichsetzung mit der neoliberalen Globalisierung hat, darüber herrscht Uneinigkeit. Im Folgenden wollen wir mit Nicos Poulantzas’ Staatstheorie die Politik der G8 zu verstehen versuchen.
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Endlich erschienen: Poulantzas lesen

Poulantzas LesenNach viel Arbeit ist endlich der Sammelband “Poulantzas lesen” beim VSA-Verlag erschienen. Dort kann der Band auch bestellt werden. Denkt aber bitte auch an die linken Buchläden bei Euch um die Ecke! Unter www.poulantzas-lesen.de werden wir weiteres Material und Besprechungen sammeln. Die Tage wird die Seite zudem komplett überarbeitet werden. Eine Mailingliste für Diskussionen ist bereits aufgesetzt und wird demnächst aktiviert werden. Den Spekulationen ist somit ein Ende gesetzt. Das Buch ist da!!!

Der Klassenfeind steht immer im Staat. Nicos Poulantzas zum 70. Geburtstag

“Die Geschichte selbst hat uns bis heute kein gelungenes Experiment des demokratischen Wegs zum Sozialismus gegeben. Stattdessen hat sie uns negative Beispiele gezeigt, die man vermeiden, und Irrtümer, über die man nachdenken muss.” Nicos Poulantzas, von dem diese Zeilen stammen, ist wie kaum ein/e andere/r marxistische/r TheoretikerInnen der Nachkriegszeit dieser Aufforderung nachgekommen. Dass er dabei den kapitalistischen Staat ins Zentrum seiner analytischen Anstrengungen stellte, ist sicherlich ein Grund dafür, warum er in den letzten Jahren – im Zuge des Abgesangs auf den Nationalstaat – verstärkt in linke Debatten zurückgefunden hat. Am 21. September wäre Poulantzas 70 Jahre alt geworden.
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Vortrag und Diskussion: Nicos Poulantzas – Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie

Nicos Poulantzas (1936-79) erkannte frühzeitig die Auflösungserscheinungen des fordistischen Vergesellschaftungsmodus. In Auseinandersetzung mit Marx, Gramsci, Foucault u.a. formulierte er Fragestellungen und Einsichten, die trotz ihrer Aktualität in linken Debatten lange Zeit nicht auftauchten. Seine Analyse der Durchsetzung des Neoliberalismus und seiner gegenwärtigen Hegemonie sind von großer Aktualität. Seine These, daß der Staat als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu verstehen ist, ist für das Verhältnis zum Staat für emanzipatorische Bewegungen ebenso zu überprüfen wie die Perspektive eines ‘demokratischen Sozialismus’, der innerhalb wie außerhalb staatlicher Institutionen entstehe. Die Veranstaltung soll auch Anfängerinnen und Anfänger Einstiegshilfen geben und zur weiteren Auseinandersetzung mit Poulantzas anregen.

Ingo Stützle (Politologe, Mitherausgeber von „Poulantzas lesen“, VSA 2006, AK-Redakteur, Berlin)

Do. 07.09.06 | 19:30 Uhr
Hamburg-Haus Eimsbüttel
Dormannsweg 12 | Raum 14

Teilnahmegebühr 2,- €

Zwischen Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zum Zusammenhang von bürgerlichem Staat und Krieg

Weder “Empire” noch “Imperialismus” lautet die These, mit der sich der folgende Beitrag in die Diskussion um die theoretische Einordnung des Irak-Krieges einmischt. Die Frage lautet, wann und warum der kapitalistische Normalzustand des Handelskrieges in einen militärischen Konflikt umschlägt.
Es ist eine Debatte darüber entbrannt, mit welchem theoretischen Werkzeug der Irak-Krieg zu deuten sei: Mit den Thesen, die Negri/Hardt mit “Empire” vorgelegt haben oder, gerade weil diese am aktuellen Konflikt offensichtlich scheitern, mit einer “fundierten Imperialismustheorie” (exemplarisch Binger und dk. in ak 471). Beide Ansätze laufen allerdings ins Leere.
Der Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus scheint selbst nicht mehr erklärungsbedürftig. Während die einen von einem “diffusen permanenten Kriegszustand” (Atzert/Müller, subtropen, Nr. 24) ausgehen, der die globalen Machtverhältnisse restrukturiert, ist für die anderen der Zusammenhang für den Kapitalismus konstitutiv, wird aber nicht erklärt.
Fast alle Kriege nach 1945 – ca. 200 an der Zahl – fanden in Ländern statt, in denen sich die bürgerliche Vergesellschaftung nicht etabliert und durchgesetzt hat. Die meisten Kriege finden in ehemaligen Kolonien statt. Krieg, so könnte die überspitzte und vorläufige These sein, hat mit bürgerlichem Staat erst einmal wenig zu tun.
Dennoch herrschen auch zwischen bürgerlichen Staaten “Kriege”: Handelskriege. Die USA haben Ende März 2003 eine Niederlage im Streit um die 30% Schutzzölle auf Stahlimporte vor der Welthandelsorganisation WTO einstecken müssen. Stahlerzeuger und Gewerkschaften seien angesichts des Schiedsspruchs der WTO beunruhigt. Zuspruch kam von der stahlverarbeitenden Industrie. (FAZ 28.03.03)
Die Handelskriege kommen ohne unmittelbare Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen aus, benötigen aber eine dritte, vermittelnde Instanz. Ausbeutung und Herrschaft findet nicht in der Form von Raubzügen und Plünderungen statt, sondern in der Form des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Und diese ist konstitutiv für den Kapitalismus.
In einer kapitalistischen Gesellschaft verhalten sich die Menschen als WarenbesitzerInnen und damit als PrivateigentümerInnen zueinander. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird ihr Eigentum von einer dritten Instanz garantiert – dem Staat, der relativ autonom von allen Klassen und Klassenfraktionen existiert.
Erst in dieser Form entsteht so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals. Davor stehen die Einzelkapitale in Konkurrenz zueinander. Erst über Aushandlungsprozesse in der “bürgerlichen Öffentlichkeit” und dem Diskurs um das “Allgemeinwohl” formuliert der Staat schließlich ein allgemeines Kapitalinteresse. Dieses wird nicht nur gegen, sondern auch mit der Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durchgesetzt. Der Staat muss alle Interessen in einen herrschaftsförmigen Konsens bringen. Die StahlproduzentInnen müssen sich ebenso wie die StahlarbeiterInnen damit abfinden, dass auch das Interesse der stahlverarbeitenden Industrie Berücksichtigung finden muss.
Die Staaten haben sich räumlich herausgebildet, als Nationalstaaten. Die Souveränität nach innen ist notwendig mit der Souveränität nach Außen, d.h. in Konkurrenz zu anderen Staaten verbunden. Dies ist die Sphäre des Völkerrechts, das auf der Anerkennung der Territorialstaaten als formell gleiche, als territoriale Rechtssubjekte beruht. Die Gleichheit bezieht sich aber allein auf das Grundrecht der Achtung und beschränkt sich auf die Respektierung der Souveränität als Form. Inzwischen wird selbst diese nicht mehr garantiert. Aber jedes Gerede vom Souveränitätsverlust übersieht, dass der (National-)Staat zum einen nie souverän gegenüber seiner ökonomischen Grundlage und die Souveränität nach außen immer nur eine der Form nach war.

Handelskrieg als kapitalistischer Normalzustand
Das Völkerrecht kann als Versuch der Rationalisierung von Herrschaftsverhältnissen zwischen den Staaten verstanden werden. Damit sind die internationalen Institutionen aber nicht Zweck an sich, sondern Mittel, die den “äußeren” sozialen Frieden garantieren sollen. Auch hier gilt, dass sich in einem konflikthaften Prozess eine Art kapitalistisches Allgemeininteresse herausbildet – und das nicht erst seit der Entdeckung des “Empire”. So 1900, als die USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Deutschland gemeinsam in China den “Boxer”-Aufstand niederschlugen, um ihrem gemeinsamem Interesse an der Existenz und Sicherung ihrer Kolonialherrschaft Geltung zu verschaffen.
Mit der Globalisierung hat sich die räumliche Struktur der Produktion, der Arbeitsteilung und damit der Wertschöpfungsketten grundlegend verändert – damit auch die Kräfteverhältnisse der Kapitalfraktionen in den Nationalstaaten. Die Staaten internationalisieren sich sozusagen von innen heraus. Aber dk. (ak 471) liegt mit einem seiner Bausteine – Imperialismus als globalisiertes und dynamisches Kapitalverhältnis – für eine Imperialismustheorie in so weit falsch, als hiermit überhaupt nicht geklärt ist, warum sich diese Dynamik kriegerisch äußern muss. Es müsste gezeigt werden, warum die Form des Handels der Reproduktion des Kapitalverhältnisses nicht mehr adäquat ist.
Vor diesem Hintergrund können die Argumente, warum ein Krieg wie der gegen den Irak geführt, diskutiert werden. Ich werde hier zwei herausgreifen und kurz skizzieren.
Nationalstaat und Völkerrecht
Erst müsste begründet werden, warum Öl so wichtig ist. Auch wenn es banal scheint, geht es im Kapitalismus nicht um den Stoff, sondern um Profit. Öl bildet die stoffliche Grundlage für den Großteil der gegenwärtigen Warenproduktion. Fünf Länder (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien) verbrauchen über 50% des weltweit geförderten Öls. Es muss also eine allgemeine Zugänglichkeit gewährt werden, um die Verwertung zu garantieren. Das bedeutet aber nicht, dass die USA per se an einem niedrigen Ölpreis interessiert wären. Vielmehr geht es um die Kontrolle des Marktes. Ein zu niedriger Ölpreis würde die Förderung in Alaska und Texas unprofitabel machen. Auch hier muss ein Kompromiss zwischen Kapitalfraktionen gefunden werden. Ebenso würde ein zu niedriger Ölpreis in den ölfördernden Ländern soziale Konflikte auslösen, die die Instabilität in der Region weiter erhöhen würde. Ähnliches ließe sich für einige Länder der “Koalition der Willigen” skizzieren. Auch hat es wenig Sinn immer wieder auf die Bush-Administration und ihre Verbindung zu der Ölindustrie zu verweisen. (1) Nach den Ausführungen sollte klar sein: Der bürgerliche Staat ist eine “subjektlose Gewalt” die keine unmittelbaren ökonomischen Interessen durchsetzen kann. Dies ist nicht die Form bürgerlicher Politik.
Gegenüber Europa als Wirtschaftsblock sieht die Sache etwas anders aus. Seit den 70er Jahren ist die Rolle des Dollars als Weltgeld geschwächt. Bereits der Iran handelt sein Öl in Euro und auch der Irak hat im Jahr 2000 die beschränkten Lieferungen in Euro abgerechnet. Der Dollar verliert somit eine wesentliche Basis als Öl-Handelswährung. Auch China will seine Devisen in breitem Rahmen in Euro tauschen und damit die Abhängigkeit vom Dollar verringern. Die Schwächung des Dollars als Weltgeld hätte negative Folgen für eine monetäre Durchdringung des Weltmarktes ohne kriegerische Mittel. Auch könnte sich die USA kein derartiges Zahlungsbilanzdefizit leisten, wie sie es zur Zeit aufweisen.
Ein weiteres Argument, das immer wieder fällt, ist der Drang der USA zur Weltherrschaft in Form eines harten Unilateralismus. (2) Ein strukturelles Merkmal der Weltordnung ist das Streben der bürgerlichen Staaten nach Ausdehnung von Handlungsoptionen. Aber mit ihrem “Beinahe-Alleingang” haben die USA gezeigt, dass sie keine Hegemonialmacht sind. Weder militärische noch ökonomische Macht reichen aus, um die Hegemonie eines Staates zu konstituieren. Ein Hegemoniekonzept sollte der traditionellen Imperialismustheorie gerade deshalb überlegen sein, weil es das Augenmerk auf das strategische Verhalten der dominanten Staaten richtet und auf die Art und Weise, wie die Interessen anderer Akteure berücksichtigt und eingebunden werden.
In der Gruppe der “Willigen” waren entweder die Staaten vertreten, die von dem USA vollkommen abhängig sind oder die, die sich daraus einen strategischen Vorteil erhoffen. Die osteuropäischen Staaten ebenso wie Spanien wollen die Dominanz von Frankreich und Deutschland in der EU brechen. Großbritannien hat durch sein Verhalten klar gemacht, dass die EU ihre “Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik” nicht ohne Zustimmung aus London realisieren kann.
Für die USA wie für Frankreich und Deutschland gilt, dass ihre Hegemonie Risse bekommen hat. Die Initiative von Belgien und Frankreich, einen gemeinsamen Außenminister zu installieren und die gemeinsame Kriegsfähigkeit voran zu treiben, zeugt nicht nur von dem Versuch, die eigenen Interessen gegenüber den USA nachhaltiger vertreten zu können. Es bedeutet auch eine institutionalisierte Form der Souveränität, aus der einzelne EU-Mitglieder nicht mehr einfach ausscheren können.
Die “normale” Form der Außenbeziehung bürgerlicher Staaten ist die des Außenhandels und nicht die des Krieges. Das bedeutet allerdings nur eine andere Form von Ausbeutung und Herrschaft. Auf Grund des expansiven und krisenhaften Charakters der kapitalistische Produktionsweise ist der Krieg dem Kapitalismus keineswegs äußerlich. Die These, dass bürgerliche Staaten mit Kriegen nichts zu tun haben, muss zurückgenommen bzw. präzisiert werden.
“Neue” Kriege zwischen Öl und Hegemonie
Allerdings muss gezeigt werden, warum eine “normale” Form zwischenstaatlicher Beziehung nicht bzw. nicht mehr möglich ist. Es können zumindest drei Formen von Krieg festgehalten werden. 1) Kolonialisierungskriege, die nicht-kapitalistische Gesellschaftsformationen in die warenförmige Reproduktion gewaltförmig integrieren wollen. 2) Kriege, die geführt werden, weil die Außenhandelsbeziehungen, die für die interne Reproduktion notwendig sind, nur über Gewalt aufrecht erhalten oder hergestellt werden können. Kriege benötigen immer eine materielle und soziale Grundlage. Diese sind nicht auf ökonomische Interessen zu reduzieren, sondern umfassen auch die Erlangung breiterer machtpolitischer Handlungsoptionen innerhalb des bestehenden Machtgefüges: 3) besteht der Kapitalismus als Weltsystem aus verschiedenen, hierarchisch strukturierten kapitalistischen Produktionsweisen. Dominante setzen sich in der Konkurrenz durch. Verweigern sich Staaten bei der Durchdringung, findet diese kriegerisch statt.
Wenn die AnhängerInnen von Negri und Hardt darüber klagen, dass die USA nicht auf der Höhe des “Empire” seien, so ist das skurril. Gleichzeitig sollte aber in der Linken endlich auch eingeräumt werden, dass auf eine “fundierte Imperialismustheorie” nicht “zurückgegriffen” werden kann. Das bedeutet keineswegs eine Absage an theoretische Anstrengungen, sondern unterstreicht vielmehr deren Notwendigkeit.

Ingo Stützle

Anmerkungen:

1) Ein solches leninistisch verkürztes Imperialismus-Verständnis ist mit “Empire” noch lange nicht überwunden (u.a. “Empire”, S. 241ff.). So verweist bspw. Negri auf die Interessen der “republikanischen Gruppe” um Bush, oder werden die globalen Institutionen wie IWF und WTO als “Instrumente” der Multis dargestellt (subtropen, Nr 23)..
2) “Amerikas Unilateralismus bedeutet weit mehr als eine imperiale Neuordnung der Welt – es geht um die absolute (sic!) Weltherrschaft.” Mohssen Massarrat, Freitag 7.3.03.

Erschienen in: ak – analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr.472 v. 18.04.2003

Von Stellungs- und Bewegungskriegen – Kämpfe in und um den Staat. Eine Einführung in die materialistische Staatstheorie

Dem Staat begegnet man überall: auf Demos, im Sozialamt oder in der Universität. Deshalb haben wir immer schon bestimmte Vorstellungen darüber, was er ist, welche Funktionen er hat und wie er zu anderen gesellschaftlichen Momenten in Beziehung steht. Wenn der Krieg gegen den Irak darauf zurückgeführt wird, dass bestimmte Regierungsfunktionäre der USA in er Ölindustrie beschäftigt sind oder waren, so steckt dahinter die Vorstellung, dass bestimmte Einzelkapitale unmittelbaren Einfluss auf die Staatsregierung haben und die Regierungsgeschicke lenken. Wenn in der globalisierungskritischen Bewegung eingeklagt wird, der Staat solle endlich seiner Funktion als Garant des Allgemeinwohls für alle BürgerInnen nachkommen, wird ihm eine Funktion unterstellt, die es nur zu verwirklichen gilt: wenn nötig durch Druck von der Straße. Das sind nur zwei Beispiele. Das politische Bewusstsein ordnet die gesellschaftliche Wirklichkeit nach bestimmten Vorstellungen von Staat, auch wenn keine Theorie vom Staat zugrunde liegt. (1)
Genau das ist der Einsatzpunkt für eine theoretische Beschäftigung mit der Form Staat und seinen Funktionen. Da trotz aller verstreuten, mehr oder weniger hilfreichen Anmerkungen eine Theorie des Staates bei Marx nicht zu finden ist, beginnt eine ausdrücklich materialistische Staatstheorie erst mit Antonio Gramscis Analysen der Oktoberrevolution und der Niederlage der revolutionären Prozesse in Westeuropa. Seine Kritik der Politik hat bis heute nichts an Aktualität verloren.

Gramsci – Schützengräben im Klassenkampf

Die zentrale Fragestellung im Werk von Antonio Gramsci (1891-1937) war: Warum gelang die Revolution in einem zurückgebliebenen Land wie Russland, nicht aber in den wirtschaftlich entwickeltsten Staaten des kapitalistischen Westens? Wie war diese Niederlage möglich? Die Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung musste er unter den Faschisten am eigenen Leib erfahren: er wurde ins Gefängnis gesteckt und starb an den Folgen der Haft.
Das Scheitern der revolutionären Bewegungen im Westen macht für ihn die Schwachpunkte der gängigen Revolutionstheorien deutlich. Er kritisiert den ”revolutionären Attentismus” der II. Internationale, die auf den großen und alles entscheidenden “Kladderadatsch” (Bebel) wartete. Aber in ihrer Hoffnung, die russische ”Revolution gegen das Kapital” lasse sich einfach auf den Westen übertragen, werden auch die theoretischen Ausführungen der linksradikalen Organisationen der komplexen Situation nicht gerecht. Deshalb versucht Gramsci, die begriffliche Apparatur der marxistischen Theorie zu erweitern. In seiner Staatstheorie kommt dem Begriff Hegemonie ein zentraler Stellenwert zu. Darunter versteht er die Fähigkeit der herrschenden Klassen, ihre Interessen so durchzusetzen, dass sie von den subalternen Klassen als Allgemeininteressen anerkannt werden und sich ein ”aktiver Konsens der Regierten” zu einem “historischen Block” materialisiert. Die Hegemonie der herrschenden Klasse in einem historischen Block bedarf allerdings eines realen, materiellen Kompromisses und ist kein bloßer ideologischer Schein. Beispielhaft für einen solchen historischen Block war der sozialstaatliche Klassenkompromiss in der Nachkriegszeit auf der Basis von Fordismus und Keynesianismus.
Den ”Ort”, an dem soziale Kräfte um Hegemonie ringen, bezeichnet Gramsci als Zivilgesellschaft. Damit meint er Institutionen wie Familie, Schule, Kirchen, Militär, und politische Gruppierungen, aber auch Sportverbände und andere Vereinigungen des “bürgerlichen” Lebens. In all diesen Institutionen materialisiert sich die herrschende Ideologie. Deshalb ist die Zivilgesellschaft kein neutrales Terrain, sondern herrschaftsförmig organisiert. Im Blick auf die Zivilgesellschaft unterscheidet Gramsci zwei Modalitäten staatlicher Macht: den Staat im engeren Sinn, d.h. den Regierungsapparat und die politisch-juridischen und repressiven Organisationen (“politische Gesellschaft”), und den “erweiterten” oder integralen Staat, der sich aus der ”politischen Gesellschaft” und der “Zivilgesellschaft” zusammensetzt.
Von dieser Unterscheidung her analysiert er dann den Sieg der Oktoberrevolution und die Niederlage der Revolution in Westeuropa. Während in Russland ein Zentrum der Macht erstürmt und zerstört werden konnte, bestand ”im Westen zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand” (GH 4, S. 874). Reduzierte sich im Osten Staatsmacht auf repressive Gewalt, war Staatsmacht im Westen ”Hegemonie, gepanzert mit Zwang” (GH 4, S. 783).

Die Krise des Marxismus –
die Interventionen Althussers

Nach dem II. Weltkrieg kam es im Kalten Krieg zu einer rasanten Restauration kapitalistischer Verhältnisse, während die etablierten kommunistischen Parteien vollständig unter der Hegemonie der KPdSU und damit des Stalinismus gerieten. Die ging so weit, dass sich die französische KP der “Entstalinisierung” der KPdSU nach dem XX. Parteitag widersetzte. Da sie gleichzeitig während der antikolonialen Kämpfe in Algerien keine klare Position bezog, führte sie die traditionelle Arbeiterbewegung in die Stagnation. Auf diese Krise antwortete Jean-Paul Sartres existenzialistischer Marxismus, der auf subjektives Handeln und eine aktivistische revolutionäre Praxis setzte. Die KPF öffnete sich dieser Herausforderung erst spät und orientierte sich in internen Debatten im Rückgriff auf den frühen und humanistischen Marx. Dagegen wollte Louis Althusser (1918 – 1990) Marx mit Erkenntnissen aus Psychoanalyse und Strukturalismus konfrontieren. Die Folge war eine Schule machende Neulektüre des Kapital, die bis heute zahlreiche ideologie- und subjekttheoretische Arbeiten inspiriert.

Ideologie und ideologische Staatsapparate (IISA)

Althusser greift in seinem programmatischen Aufsatz ”Ideologie und ideologische Staatsapparate” (IISA) die Ideen Gramscis auf. Ihm geht es um die Frage, wie sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in den (Alltags-) Ideologien der Subjekte reproduzieren. Die erste begriffliche Unterscheidung, die er trifft, ist die zwischen Staatsmacht und Staatsapparat. Der Staatsapparat ist relativ autonom vom Besitz der Staatmacht. Ferner unterscheidet er zwischen “repressiven” und “ideologischen Staatsapparaten” (RSA bzw. ISA). Funktionieren die ISA ”in erster Linie” mit Ideologie, arbeiten die RSA primär mit Gewalt. Dabei ist ihm bewusst, dass es keine ”reinen” Apparate gibt und sich die Unterscheidung von RSA und ISA nur im Blick auf ihre jeweils dominierende Funktionsweise treffen lässt.
Die Funktion der ISA ist es, obligatorische Verhaltensweisen hervorzubringen. Althusser konzipiert dies als Anrufung der Individuen als “Subjekte”. Subjekt ist, wer sich der ideologischen Anrufung freiwillig unterwirft und ihre “Rituale” befolgt. Der Machteffekt der Anrufung besteht darin, dass sich ein Individuum gerade dann für “frei” hält, wenn es sich als Subjekt erfährt. Auch die Parteien der ArbeiterInnenbewegung seien Elemente der ISA: Die Ideologie der Arbeiterparteien rufen die Mitglieder als ”Kämpfer-Subjekte” an (Althusser 1977, S. 164).
Während Althusser in IISA selbst von einer marxistischen Staatstheorie spricht, tritt er im Rahmen einer Konferenz, die sich mit der ”Krise des Marxismus” herumschlägt, die Flucht nach vorne an: ”Wir können es offen sagen: Es gibt eigentlich keine tatsächliche ‚marxistische Staatstheorie’” (Althusser 1978, S. 65). Eine Reihe von Faktoren trugen zu dieser Feststellung bei: Der Staat war in den realsozialistischen Staaten alles andere als abgestorben und in der Konfrontation mit dem stalinschen Erbe standen die kommunistischen Parteien – allen voran die italienische KPI und die französische KPF – unter Legitimationsdruck; nicht zuletzt auch aufgrund der neuen sozialen Bewegungen, die die Form Partei als solche in Frage stellten. Deshalb fordert Althusser im Anschluss an Marx’ ”Kritik der Politischen Ökonomie” eine ”Kritik der Politik” (ebd., S. 73).

Nicos Poulantzas – Der Staat als soziales Verhältnis

Anfang der 60er Jahre kam der in Griechenland geborene Poulantzas (1936 – 1979) nach München, um zu promovieren. Wegen der dort noch sehr von nationalsozialistischen Ideen geprägten Atmosphäre siedelte er schon bald nach Paris über. War er zu dieser Zeit noch vom exististenzialistischen Marxismus Sartres geprägt, weil dieser Handlung, Subjekt und soziale Auseinandersetzungen ins Zentrum rückte, näherte er sich ab Mitte des Jahrzehnts den Positionen Althussers an und entwickelt schließlich immer stärker eigene Positionen. Nach den Mairevolten von 1968 rezipierte er nicht nur Schriften, die die Frage von Massenbewegung und Kulturrevolution einbezogen, sondern beschäftigte sich auch mit anderen Theorien – vor allem mit den Arbeiten Foucaults.
Im Gegensatz zu Althusser sind die Arbeiten von Poulantzas stärker von strategischen Fragestellungen durchzogen. Im Mittelpunkt steht der Bezug der Klassenkämpfe zur konkreten Staatlichkeit einerseits unter faschistischer oder diktatorischer Herrschaft, andererseits in den parlamentarischen Demokratien. Seine theoretische Anstrengung gilt dem Verständnis der letzteren und der Frage nach einer adäquaten kommunistischen Praxis. Er kritisiert, dass alle bisherigen revolutionären Versuche die bürgerlichen Freiheitsrechte beseitigt hätten, eine emanzipatorische Linke diese aber nicht leichtfertig zur Disposition stellen dürfe. Stärker als Althusser bezieht er die neuen sozialen Bewegungen und die Krise der kommunistischen Parteien explizit in die theoretische Auseinandersetzung ein. Sein sehr viel konsequenterer Bruch mit dem immer noch verbreiteten marxistischen Dogmatismus zeigt sich in seiner Ablehnung zentraler Begriffe wie Basis/Überbau oder ”Diktatur des Proletariats”. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Theoretikern stellen diese Begriffe für ihn schon damals Sackgassen dar.

Der Staat als materielle Verdichtung sozialer Kräfte

Ausgangspunkt seiner Staatstheorie ist die Kritik an zwei grundlegenden Vorstellungen: Der Staat als Sache/Instrument und der Staat als Subjekt. Die letztere schreibt dem Staat eine eigene Rationalität zu oder konzipiert diesen als Träger und Durchsetzungsform der Vernunft. Eine größere Rolle spielen aber die Vorstellungen, die den Staat als neutrale Sache konzipieren, deren Gebrauch vom Willen des Besitzers abhängig ist. Diesem Kurzschluss entgeht Poulantzas, indem er im Anschluss an Althusser zwischen Staatsapparaten und Staatsmacht unterscheidet. Allerdings lehnt er Althussers Vorstellung des Staatapparats als “Festung” ab. Der kapitalistische Staat dürfe nicht ”als ein sich selbstbegründendes Ganzes” begriffen werden, “sondern, wie auch das ‚Kapital’, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt” (Poulantzas 1978, S. 119). Der Staat ist ein Kampffeld, das sich in formierten Institutionen verkörpert.
Den Zusammenhang von Politik und Ökonomie denkt Poulantzas immer als eine wechselseitige Konstitution. So ist der Staat durch seine Abwesenheit in der Ökonomie anwesend und ermöglicht gerade durch seine Abwesenheit die Konstitution einer autonomen ökonomischen Sphäre. Dabei kommt der Politik gegenüber der Ökonomie in so weit das Primat zu, als der Staat die zentrale Funktion hat, den Zusammenhalt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu organisieren: nur er kann die langfristige Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft garantieren. Zwar sind damit deren grundlegenden Widersprüche und Krisenhaftigkeit nicht beseitigt, doch gibt der Staat eine Form vor, in der sich diese bewegen können. So ist der Staat in allen Kämpfen als Struktur präsent, während zugleich die Kämpfe stets Kämpfe im Staat sind. Die Beziehung zwischen Staat und Ökonomie ist folglich keine äußerliche und der Staat selbst das zentrale Feld gesellschaftlicher Widersprüche. Indem er der ”Ort” ist, an dem ein von allen Klassen relativ unabhängiges, herrschaftsförmiges Kompromissgleichgewicht organisiert wird, gewinnt der Staat eine ”relativen Autonomie” gegenüber allen Klassen. Genauer: erst der Staat organisiert die Bourgeoisie zur Klasse. Zuvor stehen die bürgerlichen Klassenfraktionen in Konkurrenz zueinander und stellen dabei den jeweils erreichten Klassenkompromiss in Frage. Je stärker die Widersprüche zwischen den Fraktionen werden, desto stärker ist die Autonomie des Staates. Da der Kompromiss auch die subalternen Klassen einschließen muss, sind auch sie und ihre Interessen im Staat präsent. Deshalb schließt der Kompromiss unter anderem materielle Zugeständnisse an die Subalternen ein, die dadurch aber gerade nicht zur Klasse organisiert, sondern untereinander fragmentiert und gespalten werden.
Allerdings drücken sich die Kämpfe immer nur vermittelt, nie unmittelbar im Staat aus. Ihre Vermittlung denkt Poulantzas immer im Sinne einer Repräsentation: Etwas, das vorhanden ist, wird durch die Repräsentation politisch neu formatiert, d.h. modifiziert und organisiert. Auch deshalb ist der Staat kein ”monolithischer Block ohne Risse” (ebd., S. 122), sondern durch Klassenwidersprüche gespalten, in die sich die Klassen im Maß ihrer Macht einschreiben. Das findet seinen Ausdruck dann auch im unterschiedlichem Gewicht und in den Grenzlinien zwischen den Staatsapparaten.
Ist der Staat in vielen marxistischen Ansätzen stets Klassenstaat, geht Poulantzas einen entscheidenden Schritt weiter und weist in seinem Buch Staatstheorie ausdrücklich darauf hin, dass der Staat nicht nur durch Klassenkämpfe, sondern durch verschiedene soziale Kämpfe bestimmt wird. Ohne genauer darauf einzugehen, hebt er dabei die Geschlechterverhältnisse hervor. Er verweist auf die Probleme, vor die die neuen sozialen Bewegungen die traditionellen Arbeiterparteien stellen, die aufgebaut sind, als könne die Gesellschaft auf die Fabrik reduziert werden. Jedoch geht er nicht so weit, auf die Autonomie der Bewegungen zu setzen: ”Ich halte es durchaus für notwendig, dass diese sozialen Bewegungen eine reale Autonomie besitzen, aber zugleich müssen die Parteien der Linken in ihnen auf geeignete Weise präsent sein. Allerdings macht gerade diese Forderung eine radikale Umwandelung eben dieser Parteien erforderlich.” (1979, S. 135)

Nützliche Gegengifte

Da materialistische Staatstheorie die Probleme emanzipatorischer Praxis vor dem Hintergrund konkreter Kämpfe und der spezifischen Verfasstheit kapitalistischer Produktionsweise bearbeitet, dürfen ihre konkreten Erkenntnisse nicht einfach verallgemeinert werden. Statt dessen müssen sie in ihrer Besonderheit behandelt werden und immer nach ihren Konstitutionsbedingungen und ihrer Verallgemeinerbarkeit hin befragt werden. An den Fragen und Problemen, an denen die genannten Autoren stehen und in denen sie stecken geblieben sind, gilt es auch in den heutigen Debatten anzusetzen. Um so erstaunlicher aber ist es, dass weder Hardt/Negri (2002) noch Holloway (2002) auf Poulantzas Staatstheorie eingehen. Beide haben die Tendenz zu vereinfachenden, instrumentalistischen Staatsvorstellungen, in denen wichtige Differenzierungen wieder verloren gehen. Diese Differenzierungen dürfen umgekehrt nicht dazu führen, die Herrschafts- und Gewaltförmigkeit der staatlichen Apparate auszublenden, wie dies historisch sowohl in den diversen Stamokap-Theorien als auch in den Vorstellungen vom ”Marsch durch die Institutionen” der Fall war. In sträflicher Weise wurde vor allem in den 90er Jahren der Herrschaftscharakter der kapitalistischen Staaten in den Theorien von Global Governance und der Weltbürger- und –zivilgesellschaft ausgeblendet. Als Gegengift zu solchen Ansätzen, die den Staat als ein grundsätzlich herrschaftsfreies Terrain begreifen, ist die Lektüre der hier vorgestellten Autoren nach wie vor unverzichtbar.

Ingo Stützle ist Aktivist bei FelS (Für eine linke Strömung) in Berlin und arbeitet dort in der AG Sozialer Widerstand.

Der Artikel wurde von der Redaktion stark gekürzt. Die Langfassung ist unter www.akweb.de/Fantomas nachzulesen.

Anmerkung:
1) Die arranca!-Redaktion (2002) hat das Verhältnis an mehreren Punkten durchdiskutiert: Organisationsfrage, Existenzgeld, Staats-Antifa und Globalisierungskritik.

Literatur:
arranca!-Redaktion (2002): Staatsangelegenheiten, in: arranca! Für eine linke Strömung, Nr. 24
Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg
Althusser, Louis (1978): Die Krise des Marxismus, Hamburg
Gramsci, Antonio (1990ff.): Gefängnishefte, 10 Bde., zitiert: GH, Hamburg
Hardt, Michael / Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Darmstadt
Holloway, John (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster
Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie, Hamburg
Poulantzas, Nicos (1979): ‘Es geht darum, mit der stalinistischen Tradition zu brechen!’, in: Prokla 37, 127 – 140.

Erschienen in: fantômas, Nr.5, 2004, 7-10.