Betr.: Regierungswechsel in Chile

An die
Farbwerke Hoechst AG,
Postfach 800320,
6230 Frankfurt/Main 80:
Santiago de Chile

17. September 1973

Der so lang erwartete Eingriff der Militärs hat endlich stattgefunden … Säuberungsaktion ist immer noch im Gange… Wir sind der Ansicht, daß das Vorgehender Militärs und der Polizei nicht intelligenter geplant und koordiniert werden konnte, und daß es sich um eine Aktion handelte, die bis ins letzte Detail vorbereitet war und glänzend ausgeführt wurde… Chile wird in Zukunftein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein … Die Regierung Allende hatdas Ende gefunden, das sie verdient […] In den drei Jahren marxistischen Systems haben die hiesigen Hoechster Unternehmen viele schwierige Probleme und Epochen überwinden müssen; ohne Ihre Unterstützung und Ihr Verständnis für unsere Situation wäre dies nicht möglich gewesen. Wir möchten Ihnen bei dieser Gelegenheit hierfür allerherzlichst danken und der Überzeugung Ausdruck geben, dass es der Mühe wert war, dass Sie und wir die Sorgen und Probleme dieser Jahre auf uns genommen und sie durchgestanden haben.

Mit freundlichen Grüßen
(Unterschrift unleserlich)

Auszüge aus einem siebenseitigen Brief der chilenischen Tochtergesellschaft an die Farbwerke Hoechst AG

Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung – zu Wolfgang Streecks »Gekaufte Zeit«

#29 von kritisch-lesen.de ist erschienen und widmet sich dem Thema Neoliberalismus. Die HerausgeberInnen schreiben:

»In dieser Ausgabe wollen wir uns einiger Facetten dieses neoliberalen Projekts widmen und eine vorläufige und unabgeschlossene Bestandsaufnahme aktueller und vergangener Analysen zum Neoliberalismus liefern und sowohl auf Formen der Unterdrückung und Ausbeutung eingehen als auch darauf, wie sich Neoliberalismus in den Alltag einschreibt und sich auch in Bereichen wie Psychologie oder in Liebesbeziehungen niederschlägt. Schließlich geht es uns auch darum, Perspektiven gegen den neoliberalen Kapitalismus zu diskutieren.«

Für die kritisch-lesen.de-Ausgabe habe ich von Wolfgang Streeck »Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus« besprochen:

Wolfgang Streeck hat zwar noch bei Adorno studieren können und auch ein paar Vorlesungen besucht, aber, so gibt Streeck in der Einleitung von „Gekaufte Zeit“ zu, wenig verstanden. Streecks Vorlesungen sind hingegen einfach geschrieben und gut zu verstehen – dafür über weite Strecken problematisch.

>>> Weiterlesen bei kritisch-lesen.de

Mitterrands Albtraum: Ein Europäisches Währungssystem ist keine Alternative

François Mitterrand 2099 bei der Université d’été du parti socialiste.

Als Oskar Lafontaine in einem Interview beiläufig sagte, er wäre dafür, Euro-Ländern den Ausstieg aus der Gemeinschaftswährung zu ermöglichen, wusste die Öffentlichkeit noch nicht, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung gerade dabei war, eine Studie zum Thema zu veröffentlichen – u.a. von Lafontaines ehemaligem Staatssekretär Heiner Flassbeck. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Debatte geriet auf jeden Fall ins Rollen (lange vor Veröffentlichung der Flassbeck-Lapavitsas-Studie). Ausführliche Dossiers beim nd und der rls versammelt wichtige Beiträgen und Berichte. Continue reading “Mitterrands Albtraum: Ein Europäisches Währungssystem ist keine Alternative”

Prema solidarnoj ekonomiji?

LMD-hrDer Text »Wie wir leben wollen. Die zentralen Konfliktfelder des alternativen Wirtschaftens« aus ak 580 (mit dem Schwerpunkt Solidarische Ökonomie) ist in der kroatischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique erschienen. Danke an Stipe Ćurković für die Übersetzung. Den Text findet ihr als pdf-Datei hier.

 

Mitterrands Albtraum. Ein Europäisches Währungssystem ist keine Alternative. Das zeigt Frankreichs Politik der achtziger Jahre

Von Ingo Stützle

Am selben Sonntag im März 1983, an dem Helmut Kohl seine erste Wahl zum Bundeskanzler gewann, war der Hoffnungsträger der französischen Linken, François Mitterrand, am Ende. Bei den Kommunalwahlen hatten seine Sozialisten eine herbe Schlappe einstecken müssen, die Folge von steigender Arbeitslosigkeit und Inflation. Mitterrand brach daraufhin das keynesianisch-sozialistische Experiment ab, das er nach seiner Wahl zum Präsidenten 1981 begonnen hatte, und leitete einen harten Austeritätskurs ein. Mit Kohl, so glaubte man in Frankreich, war der Neoliberalismus endgültig auch in Deutschland angekommen – und gegen Deutschland angesichts der Dominanz der D-Mark keine Politik zu machen.

Lafo: zurück Richtung EWS

Mitterrands Scheitern ist ein spannender Fall, um Sinn und Unsinn des Euro-Austritts zu diskutieren, wie er momentan nicht nur von rechten Parteien wie der AfD, sondern auch von links gefordert wird. Aber solche historischen Rückblicke sind momentan nicht allzu sehr en vogue: Man müsse “die einheitliche Währung aufgeben und zu einem System zurückkehren, das, wie beim Vorläufer der Europäischen Währungsunion, dem Europäischen Währungssystem (EWS), Auf- und Abwertungen erlaubt”, so Oskar Lafontaine im April. Frankreich war aber zu Mitterrands Zeiten im EWS. Die mangelnden Möglichkeiten, die dieses damals Paris bot, waren der Hauptgrund für den französischen Präsidenten, stattdessen auf eine gemeinsame europäische Währung zu drängen. Ohne diese, verbunden mit einer gemeinsamen Geldpolitik, seien die europäischen Staaten “dem Willen der Deutschen unterworfen”, glaubte er.

Das EWS sorgte ab 1979 bis zur Gründung des Euro für relativ stabile Wechselkurse in Europa. Zugleich erlaubte es Ländern, ihre Währung abzuwerten, wodurch Exporte billiger und damit eher nachgefragt wurden. Genau diese “Flexibilität” sehen viele Eurokritiker heute als Vorteil. Eine Abwertung könne fehlende Wettbewerbsfähigkeit ausgleichen. Im EWS waren solche Abwertungen nur nach politischer Übereinkunft möglich, wobei Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke den Ton angab. Deshalb bedeutete bereits das EWS “eine weitgehende Aufgabe” der “geldpolitischen Autonomie” der EWS-Mitgliedstaaten, so der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl.

Mitterrands “Keynesianismus in einem Land” hatte 1981 mit der Verstaatlichung von zwölf Unternehmensgruppen und 39 Banken und Finanzinstitutionen begonnen. Der Staat besaß danach 13 der 20 wichtigsten französischen Unternehmen. Gleichzeitig wurde der Mindestlohn um 10 Prozent erhöht, die Mindestrente um 20. Im öffentlichen Dienst schuf der Staat 150.000 neue Stellen. Zum Problem wurden die Kosten. Die öffentlichen Ausgaben stiegen zwischen 1981 und 1982 um fast 12 Prozent, allein 1982 wuchs das staatliche Defizit um fast 3 Prozent.

Gegenspieler Pöhl

Der Regierung Mitterrand war klar, dass das keynesianische Experiment mit einer Stabilisierung der Währungsverhältnisse flankiert werden musste. Frankreich war hinsichtlich der außenwirtschaftlichen Abhängigkeit nicht so naiv, wie oft vermutet wird – allerdings nach dem Ende von Bretton Woods international sehr isoliert. Das Land plädierte nun für die Neuauflage eines solchen Systems fester Wechselkurse, fand aber einen seiner wichtigsten Gegenspieler in Deutschland – in Karl Otto Pöhl.

Aufgrund der fehlenden Koordinierung der Wechselkurse halbierten sich die französischen Devisenreserven von 1981 bis 1983 auf 30 Milliarden Franc. Frankreich musste seine unter Druck geratene Währung allein stützen, mit seinen Währungsreserven Franc aufkaufen. Als die Devisen zur Neige gingen, blieb nur eine Abwertung des Franc. Gegenüber der D-Mark sank sein Wert in zwei Jahren um 27 Prozent, womit auch der Spielraum der Politik schwand. Zum einen wurden die Importe teurer, was die Inflation befeuerte. Mit der schwindenden Konkurrenzfähigkeit Frankreichs stiegen die Importe um 40 Prozent, das Handelsbilanzdefizit Frankreichs hatte einen historisch einmalig schlechten Wert. Dies hing auch mit der gezielten Unterbewertung der D-Mark durch die Bundesbank zusammen, die den deutschen Export befeuern sollte.

Auch wenn Frankreich 1983 unter Druck stand, war es nicht selbstverständlich, dass es sich den neuen Bedingungen beugte. Mitterrand ließ alternative Optionen prüfen. Sein außenpolitischer Berater Jacques Attali schlug einen aggressiven Kurs gegenüber Deutschland vor: Würde nach der Bundestagswahl die D-Mark nicht aufgewertet, solle Frankreich das EWS verlassen und den Kurs des Franc freigeben. Mitterrand fürchtete aber, dass sich bei einem EWS-Austritt die Bedingungen für Frankreich weiter verschlechtern würden.

Deutsche Bedingungen

De facto hatte Frankreich zwei Optionen: entweder den Franc weiter abzuwerten oder Zinssenkungen der Bundesbank beziehungsweise eine Aufwertung der D-Mark. Auf freiwilliges Nachgeben Deutschlands konnte Mitterrand aber nicht rechnen. Finanzminister Jacques Delors warf Deutschland daher politische Arroganz vor: ein Vorwurf, den man in Bonn ungern hörte. Frankreich wollte so Deutschland eine gewisse Kooperationsbereitschaft abringen – was auch gelang. Nicht nur wurde der Franc schließlich um 2,5 Prozent abgewertet, gleichzeitig erfuhr die D-Mark eine Aufwertung um 5,5 Prozent. Deutschland machte seine Aufwertung aber von einem französischen Austeritätskurs abhängig. Laut Libération gehörten dazu Haushaltskürzungen um 20 Milliarden Franc.

Ab 1983 wurde somit nicht nur deutlich, dass gegen den kapitalistischen Weltmarkt keine Politik zu machen war, sondern auch nicht gegen Deutschland als stärkster Wirtschaftsmacht Europas. Mit einer Auflösung des Euro wäre daher nicht viel gewonnen, solange nicht die Zielsetzung der europäischen Wirtschaft selbst infrage gestellt wird: die Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und die Ausrichtung an Profitabilität. Eine Debatte, die entlang der Frage geführt wird, ob der Euro abgeschafft gehört, ist da wenig hilfreich.

Erschienen in: taz. die tages­zei­tung, 28.6.2013.

In der taz-Eurodebatte schrieben Winfried Wolf, Elmar Altvater und Steffen Lehndorff.

Prokla 171 erschienen! Demokratie und Herrschaft, Parlamentarismus und Parteien

Für die Prokla 171 habe ich mich erneut als Gastredakteur nützlich gemacht. Nach den Debatten im letzten Jahr zur Linkspartei war es mir wichtig, dass die Debatte weitergeht bzw. auf angemessenem Niveau erstmal beginnt. Nun ist die Ausgabe erschienen – passend zum anstehenden Wahkampf im Vorfeld der Bundestagswahlen im September.

»Demokratie, Öffentlichkeit, Parteien sind in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden. Es sind insbesondere die sozialen Bewegungen vom “arabischen Frühling” bis zum Protest gegen “Stuttgart 21”, die den Mangel an Demokratie und Beteiligung beklagen, die kritisieren, dass in der repräsentativen Demokratie die Interessen der Bevölkerung nicht ausreichend vertreten sind. Auch die Kritik an der Repräsentation ist nicht neu. Immer wieder kommt es zur Bildung von Protest- und Anti-Partei-Parteien. PROKLA 171 fragt u.a.: Welchen Illusionen über neue und alte Formen der Öffentlichkeit, welchen Illusionen über die Möglichkeiten parlamentarischen Einflusses sitzt man auf? Ist Demokratie “nur” die adäquate Form bürgerlicher Herrschaft oder steht sie potenziell dem “Zwang der ökonomischen Verhältnisse” entgegen, eröffnet sie eine Perspektive zur Überwindung von Ausbeutung und Herrschaft? Welche Rolle spielen die Parlamente, die Parteien, die Wahlen, die Öffentlichkeit im bürgerlichen Herrschaftsapparat? Was können linke Parteien zu emanzipatorischen Prozessen beitragen?nsnationalen Konzerne und den multiplen globalen Krisen fragen.«

Das Inhaltsverzeichnis findet ihr hier.

FAQ. Noch Fragen? War das EWS besser als der Euro?

DMark
War die D-Mark mit dem EWS keine Mittel der deutschen Hegemonialpolitik? Foto: CC-Lizenz, oxfordian

Die Debatte innerhalb der Linken hat nochmals Fahrt aufgenommen: Soll am Euro festgehalten werden? Der Euroausstieg wird als Antwort auf die Krisenpolitik »von oben« präsentiert. Zumindest wird behauptet, der Euro sei mitverantwortlich dafür, dass der Austeritätskurs möglich ist. Der Vorschlag: zurück zum Europäischen Währungssystem (EWS), das, zumindest formal, von 1979 bis zur Einführung des Euro 2002 herrschte. Was jedoch gerne unter den Tisch fällt: auch hier dominierte Deutschland.  Continue reading “FAQ. Noch Fragen? War das EWS besser als der Euro?”

Hätte, müsste, könnte: Politik im Konjunktiv. Statt radikaler Pose bedarf es organisierter Lernprozesse

klassenlos
Die Geschichte ist eine Geschichte von klasse Kämpfen (Muhammad Ali).

 

 

Bei mir hat sich etwas Polemik gegen Politik im Konjunktiv angestaut. In der neuen Ausgabe von ak – analyse & kritik antworte ich den Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft.

Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft setzten in ak 580 nochmals zur Debatte über linke Strategien in der Krise an und provozierten einige Repliken. In ihrem Text kritisieren sie verschiedene linke Gruppen und Einzelpersonen dafür, dass sie nicht nur der Illusion staatlicher Politik verfallen seien, sondern diese sogar schüren würden – darunter war auch ich. Statt die Frage nach der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise in der Prioritätenliste ganz nach oben zu setzen, schaffe diese »Staatslinke« den Kitt für die von der Krise produzierten Risse im System. Verwunderlich ist, wie die FreundInnen einen reformistischen Einheitsbrei aus recht unterschiedlichen ProtagonistInnen und Gruppen anrühren – und warum.

>>> Weiterlesen bei ak – analyse & kritik

Out now! Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise

»Nicht der Schuldner ist die entscheidende Figur bei den Anleihen des Schuldnerstaates. Gewiss ist sein Verhalten für seinen Kredit nicht unwesentlich, ja sogar von sehr großer Bedeutung; aber von welcher Bedeutung es ist, darüber entscheidet eben nicht der Schuldnerstaat, sondern darüber entscheiden seine Gläubiger.« (Sultan, Herbert, 1932)

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Endlich liegt meine Promotion zwischen zwei Buchdeckeln vor. Die Euro-Krise führt einmal mehr die Dominanz Deutschlands innerhalb der Europäischen Union vor Augen. Zudem zeigte sich in der Krise, dass das Leitbild des »ausgeglichenen Staatshaushalts« nach wie vor stark die politische Agenda prägt und als Disziplinierungsinstrument wirkt, nachdem es zwischenzeitlich als überholt erschien. Ich reflektiere zwar die jüngeren Wendungen in der europäischen Politik, habe aber die Arbeit jedoch langfristiger und grundlegender angelegt (und sie bereits vor der Euro-Krise begonnen). Ich ergründe, wie seit Mitte der 1970er Jahre der finanzpolitische Grundsatz »ausgeglichener Staatshaushalt« als Leitbild europäisiert wurde und welche ökonomischen, gesellschaftlichen Bedingungen sowie Interessens- und Akteurskonstellationen dazu führten.

Aus der Einleitung:

»Wir sind mit Griechenland dadurch solidarisch, dass wir die Athener Haushaltspolitik genauestens überwachen.« Diesen interessanten Satz sprach der ehemalige EU-Währungskommissar Joaquín Almunia Anfang 2010 angesichts der bisher schwersten Krise der Euro-Zone. (FAZ, 4.2.2010) Ist ›Überwachung‹ der orwellsche Neusprech für ›Solidarität‹? Die ›Stabilisierung‹ der Krisenregion Europa stand jedenfalls unter dem gleichen Motto wie seinerzeit die Gründung des Euro: deutsche Stabilitätspolitik. »Das einzige, was jetzt zählt, ist die konsequente Anwendung der Regeln« des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), so Almunia weiter. Der 1997 unterzeichnete SWP war Deutschlands ›ordnungspolitische‹ Bedingung für die Einführung des Euro. Die Dominanz Deutschlands zeigte sich in der jüngsten Krise darin, dass die Bundesregierung den Austeritätskurs als Bedingung für den Euro-Rettungsschirm festschrieb. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder konnte deshalb zu Recht feststellen, dass in Europa wieder »deutsch gesprochen« werde – eine Aussage, mit der er das europäische Ausland erzürnte.

Auf europäischer Ebene wurde bereits mit der Gründung des Euro der restriktive finanzpolitische Grundsatz festgeschrieben, dass die Euro-Länder einen »mittelfristig nahezu ausgeglichenen oder überschüssigen Haushalt« vorweisen müssen. Diese quasi-verfassungsrechtliche Regel ist ein ordnungspolitisches Standbein der vergemeinschafteten Währung. Sie ist der Kern der politischen Kontrolle und Disziplinierung der Mitgliedsstaaten, die zwar über eine gemeinsame Währung und eine Geldpolitik verfügen, in ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik jedoch weitgehend als unabhängige und konkurrierende ›nationale Wettbewerbsstaaten‹ agieren. Mit dem SWP wurde die Vergemeinschaftung der Verschuldungspolitik festgeschrieben, die konstitutives Moment der Euro-Architektur wurde, aber ohne einen vollständig ausgebildeten europäischen Staat und ohne europäische Regierung auskommen muss. Obgleich die im SWP verankerten Grundsätze eine Regel für alle Euro-Staaten darstellen, ist ihre Sanktionierung von den politischen Machtverhältnissen innerhalb der EU abhängig. Deutschland konnte mehrmals einen ›blauen Brief‹ der EU-Kommission wegen zu hoher Verschuldung abwenden, zugleich drängte es bei anderen Euro-Staaten auf ein strikte Einhaltung des SWP. Der Pakt hat demnach nicht nur einen ökonomischen, sondern vor allem einen politischen Charakter.

Dem ›ausgeglichenen Staatshaushalt‹ kommt im Rahmen des SWP eine besondere Rolle zu. Er ist zugleich Leitbild staatlichen Handelns und politisches Projekt. Als politisches Projekt kann eine konkrete politische Initiative gelten, die sich selbst als Lösung drängender sozialer, ökonomischer und politischer Probleme darstellt . Ein solches Projekt hat die Funktion, verschiedene soziale Kräfte durch ein ›messianisches‹ Moment zu ›versöhnen‹. Als zentrales strategisches Leitbild markiert es einen diskursiven Knotenpunkt, auf den sich alle Akteure beziehen müssen, wollen sie in der politischen Auseinandersetzung anerkannt werden. Und mehr noch: Das ordnungspolitische Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts strukturiert unmittelbar die politischen Handlungsmöglichkeiten. Die Euro-Krise ab 2010 führte dies in extremer Form vor Augen. Aussagen über mögliche wirtschaftspolitische Alternativen im Rahmen der Euro-Krise lassen sich aber nur dann treffen, wenn die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und die Interessenlagen bei der Durchsetzung des Konzepts des ausgeglichenen Staatshaushalts offen liegen sowie dessen Widersprüchlichkeiten herausgearbeitet sind. Deshalb stehen in der vorliegenden Arbeit die Fragen im Mittelpunkt, wie der finanzpolitische Grundsatz ›ausgeglichener Staatshaushalt‹ als Leitbild europäisiert werden konnte und welche ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen einerseits sowie Interessens- und Akteurskonstellationen andererseits dazu führten.

Das Inhaltsverzeichnis als pdf-Datei findet ihr hier.

Auch an dieser Stelle nochmals Dank an alle helfende Kräfte.

Gerne stelle ich die Arbeit im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung oder einer Buchvorstellung vor. Schreibt mich einfach an. Besprechungsexemplare können beim Verlag angefragt werden.

innen dank

 

 

 

 

 

FAQ. Noch Fragen? Deutschland arm gerechnet

Nach dem 1. Mai 2013 titelte die Süddeutsche Zeitung: »Trotz europäischer Schuldenkrise: Deutsche so reich wie nie«. Nur einen Monat zuvor war in der gleichen Zeitung zu lesen: »EZB-Studie zu Wohlstand in Europa: Zyprer reicher als Deutsche«. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, weiß der Volksmund.

Statistiken sind mit der Durchsetzung bürgerlicher Herrschaft entstanden. Bereits Marx stellte fest: »Die Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.« Der Staat muss wissen, wie er seine Bevölkerung möglichst produktiv im Sinne des Kapitals zurichten kann. Dafür bedurfte es einheitlicher Längen (in Preußen galten im 18. Jahrhundert noch über 20 unterschiedliche Definitionen des Längenmaßes Fuß), Menschen wurden gezählt und ihre Wohnstätten dem postalischen und polizeilichen Zugriff gefügig gemacht: die Hausnummer wurde geboren. Menschen wurden Rechtspersonen und zur Steuerbasis. Die Entstehungsbedingungen des Wissens über »Land und Leute«, die Statistik, ist in diesem Sinne auch eine Form von Politik und Herrschaft. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Deutschland arm gerechnet”

Die wissenschaftliche Basis der Sparpolitik bröckelt (nicht) – Disziplinierungsinstrument Staatsverschuldung

»Zahlen sind unbestechlich, sie schaffen Klarheit und Orientierung. Vor allem in der Wirtschaft« schreibt Stephan Kaufmann einleitend zu seinem Artikel, der die Rechenfehler des US-Starökonomen Kenneth Rogoff referiert. Er hatte in einem Papier behauptet, dass die Wirtschaft in den Ländern schrumpfe, deren Staatsverschuldung 90 Prozent erreiche.

Jetzt ist überall zu lesen, dass die wissenschaftliche Basis der Sparpolitik bröckele – endlich! Denn eben wo Widerstand und Protest fehlen, da stellt ein Argument zur rechten Zeit sich ein. Gab es je den Zwang zu Wissenschaftlichkeit des Sparens? Braucht es die denn?

Bei der Frage, ob eine Umschuldung besser für Griechenland wäre oder eher dauerhafte Transferleistungen, wurden 2011 die WissenschaftlerInnen von M.M.WARBURG & CO plötzlich offen und attestieren ihren KollegInnen folgendes Verhältnis zur oft gebranntmarkten Staatsverschuldung:

»Zudem ist für viele Ökonomen die hohe Verschuldung ein wichtiges Disziplinierungsinstrument zur Durchsetzung struktureller Reformen, die sonst nicht zielstrebig durchgeführt würden.« (Studie Konjunktur und Strategie (21.4.11) von M.M.WARBURG & CO)

Ähnlich bereits vor über zehn Jahren der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in ihrem Jahresgutachten von 2001:

»Am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht gerüttelt werden. Zwar sind seine Referenzwerte wissenschaftlich nicht begründbar; sie haben aber erstaunliche Konsolidierungsbemühungen und Konsolidierungserfolge bewirkt und sollten unbedingt beibehalten werden.« (JG 01: Ziff. 28)

Die Idee, die Angst vor den Folgen der Verschuldung für die Politik zu nutzen, nannte Roland Reagans ehemaliger Direktor des Office of Management David Stockman »strategisches Defizit«. In einem Interview machte er deutlich, dass Reagan nie so recht an die Angebotspolitik glaubte, sondern einen »schlanken Staat« zum Ziel hatte. Ähnliches gibt es aus Großbritannien zu berichten. Der leitende Wirtschaftsberater von Margaret Thatcher, Alan Budd, gab dem Observer Anfang der 1990er Jahre zu Protokoll:

»Die Politik der 1980er Jahre, die Inflation durch Druck auf die Wirtschaft und Kürzung der öffentlichen Ausgaben zu bekämpfen, war ein Vorwand, um die Arbeiter abzustrafen. Das Ansteigen der Arbeitslosigkeit war sehr erwünscht, um die Arbeiterklasse zu schwächen. […] Seitdem konnten die Kapitalisten immer größere Profite machen.« (Zitiert nach Harvey 2010: 318)

Vor diesem Hintergrund steht ein finanzpolitisches Regimes der Austerität nicht im Widerspruch zur permanenten Staatsverschuldung europäischer Staaten – vielmehr sind es die zwei Seiten derselben Medaille. In die Wissenschaft sollten JournalistInnen und KritikerInnen von Merkel & Co derzeit nicht all zu viel Hoffnung setzen. Ideen müssen sich an der Wirklichkeit blamieren und die soziale und politische Wirklichkeit akzeptiert das Mantra vom Sparen – und die Deutschen lieben die Disziplin.

FAQ. Noch Fragen? Zypern: Eine Bank mit Badestrand

Bereits im Juni 2012 bat Zypern die EU um Hilfe. Zwei große Banken verzeichneten aufgrund der Griechenlandkrise Verluste von insgesamt 4,5 Milliarden Euro. Zyperns damalige linke Regierung verzögerte die Verhandlungen über Finanzhilfen mit der Troika bis Herbst. Und welch Überraschung: Anfang November 2012 berichtete Der Spiegel, dass eine Hilfe für zyprische Banken vor allem russische Schwarzgelder in einem Umfang von etwa 20 Milliarden Euro retten würde. Die Quelle der Information war der Bundesnachrichtendienst (BND).

Noch gibt es ihn, den zyprischen Euro. Foto: CC-Lizenz, L. Seidler.

Im März 2013 spitzte sich die Krise zu, und Zypern sah sich nach einer über zehnstündigen Verhandlung aufgrund von »Erschöpfung« gezwungen, dem Rettungsplan der Troika zuzustimmen, so Maltas Finanzminister Scicluna. Zypern wurden zehn Milliarden Euro Finanzhilfe zugesagt unter der Bedingung, dass die beiden größten Banken des Landes umstrukturiert werden. Die Laiki-Bank soll nun in eine abzuwickelnde »Bad Bank« und einen brauchbaren Rest aufgespalten werden, der in der Bank of Cyprus aufgehen soll.

Zudem wurde eine Sonderabgabe auf Konten angekündigt, die ein Volumen von über 100.000 Euro aufweisen. Damit soll der zyprische Eigenanteil am Eurohilfspaket finanziert werden. Der Aufschrei war groß, zumal zuerst die KleinsparerInnen zur Kasse gebeten werden sollten. Der »Haircut« von Privatanlagen wird einen Vermögensschnitt von etwa 37,5 Prozent des Gesamtvermögens bedeuten. Zudem wurde beschlossen, 22,5 Prozent der Einlagen für sechs Monate einzufrieren – ein Puffer, falls die Bank of Cyprus auch Bankrott gehen sollte. Vermögenswerte jenseits von Spareinlagen – Aktien oder z.B. deutsche Staatsanleihen – werden hingegen nicht angetastet. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Zypern: Eine Bank mit Badestrand”

Von wegen Casino! Populäre Irrtümer über Banken, Börse und Kredit

In der Reihe «luxemburg argumente» ist ein weiteres Bändchen erschienen: »Von wegen Casino. Populäre Irrtümer über Banken, Börse und Kredit«. Aus dem Klappentext:

Nicht erst seit der Finanzkrise stehen Banken und Finanzmärkte im Fokus der politischen Debatte – und am Pranger. Sie hätten sich die Wirtschaft untertan gemacht, anstatt ihr zu dienen, heißt es. Sie hätten die Welt in ein Spielcasino verwandelt, anstatt Unternehmen und Haushalte mit Kredit zu versorgen. Die Gier der Banker sei schuld an der Finanzkrise, jetzt kämen sie aber ungeschoren davon. Nun sollen die Banken zahlen, fordern die einen. Das sei eine große Gefahr, warnen die anderen. Denn vom Wohl der Banken hänge die ganze Wirtschaft ab. Und gegen die Märkte könne man heutzutage ohnehin keine Politik machen. Wer hat recht? Die Bevölkerung ist verwirrt – und macht sich Sorgen um ihre Ersparnisse.

Um etwas Klarheit in die Sache zu bringen, sollen in dieser Broschüre einige Grundsatzfragen geklärt werden. Was tun Banken mit «unseren Ersparnissen»? Was leisten die Finanzmärkte – und was nicht? Sind Banker wirklich gierig? Woher kommt die Abhängigkeit von den ominösen «Märkten»? Und kann man ihre Macht regulieren oder gar beseitigen? Erklärt werden diese Sachverhalte anhand gängiger Irrtümer bezüglich Banken, Börse und Kredit. Dabei ist das Wort Irrtümer mit Vorsicht zu gebrauchen. Denn an ihnen ist stets etwas dran. Dennoch erklären diese populären Ansichten nicht die Realität der Finanzsphäre. Stattdessen spiegeln sie eher Wünsche und Anforderungen wider, die an das Finanzkapital gerichtet werden.

Als PDF-Datei kann die Broschüre hier heruntergeladen werden.

Karl Marx zu den jüngsten Nahrungsmittelskandalen

»Der bibelfeste Engländer wußte zwar, daß der Mensch, wenn nicht durch Gnadenwahl Kapitalist oder Landlord oder Sinekur ist, dazu berufen ist, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, aber er wußte nicht, daß er in seinem Brote täglich ein gewisses Quantum Menschenschweiß essen muß, getränkt mit Eiterbeulenausleerung, Spinnweb, Schaben-Leichnamen und fauler deutscher Hefe, abgesehn von Alaun, Sandstein und sonstigen angenehmen mineralischen Ingredienzien.« (KI, 264)

Seminarreihe zur Euro-Konstruktion. Teil III und IV: Verlaufsform und Zuspitzung des Widerspruchs – Eine Krise viele Antworten?

«Regierungen und Zentralbank werden alles tun, um den Euro zu erhalten», sagt Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Was ist «alles»? Die Anti-Krisenstrategie basiert bislang auf drei Säulen: Die Staaten richten einen 500-Milliarden-Euro-Rettungsschirm (ESM) ein; die EZB kauft Anleihen von Krisenstaaten; die Länder der Eurozone beschließen Sparprogramme und «Strukturreformen», um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Angesichts des ökonomischen Niedergangs in Griechenland, Portugal und Spanien bleibt die Frage: Was «rettet» der Rettungsschirm eigentlich? Und was stützen die Stützungskäufe der EZB? Was bedeutet es, wenn die Zentralbank Staatsanleihen kauft und den Finanzmarkt mit «Milliarden flutet»? Und wer zahlt dafür, dass massenhaft «Geld gedruckt» und Garantien gegeben werden?

Auch der Vortrag und die Diskussion des dritten Teils sind nun online:

4. «Eine Krise viele Antworten?»

Die herrschende Krisenpolitik zeigte wieder einmal: Wer die Definitionsmacht über ein Problem hat, bekommt die (politische) Lösungskompetenz. Konkret: Aus der Krise des Kapitals wurde eine Staatsschuldenkrise gemacht, für die alle bzw. vor allem die Lohnabhängigen haftbar gemacht werden mit Sparhaushalten, Renten- und Lohnkürzungen, Flexibilisierung der Arbeitsmärkte etc.

Gleichzeitig ist die linke Diskussion über Krise und Wege aus der Krise lebendiger denn je. Krise bedeuten immer auch Risse im Putz – Morgenluft für eine andere Gesellschaft. Welche linken Erklärungen prägen die letzten Jahre? Welche Konzepte werden von links angeboten? Kann es einen «linken» Austritt Griechenlands aus der Eurozone geben? Was bringt ein Schuldenschnitt? Helfen Eurobonds oder die Finanztransaktionssteuer? Ist eine Verstaatlichung oder eine Zerschlagung von Banken angesagt? Was ist mit Kampagnen wie UmFairteilen? Was hat es mit Vollgeld auf sich? Wie aktuell ist die Frage nach einer Gesellschaft jenseits von kapitalistischer Herrschaft?

Auch der Vortrag und die Diskussion des vierten Teils sind nun online:

Die komplette Dokumentation der Reihe findet ihr hier. Vielleicht sehen wir uns bei der Abschlussveranstaltung!