Vor zehn Jahren machte Oskar einen auf Lafontaine

Wie gereizt die Stimmung war und teilweise noch immer ist, macht ein Radiobeitrag bei Deutschlandradio deutlich. Die Stimme ist bei so manchem heißer geworden. Vor zehn Jahren trat Oskar Lafontaine als Finanzminister zurück. Er hatte erkannt, dass es sich eben nicht nach Gerhard Schröders Motto – »Man muss nur wollen! Dann wird das schon« – regieren lässt. Dass Lafontaine überhaupt Minister wurde – und sich gegen Stollmann durchsetzte – grenzte an ein kleines Wunder. Es war das letzte Aufbäumen eines linken Flügels innerhalb einer Partei, deren neuer Kurs schon mehr oder weniger feststand: Agenda 2010 und Hartz-Reformen. Zwar nahm RotGrün zunächst ein paar Reformen der Kohl-Regierung zurück (Rentenkürzung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), aber kaum waren ein paar Wahlversprechen eingelöst, ein Krieg geführt, nahm die neue Koalition eine Modernisierung vor, die bisher ihres Gleichens sucht. Die Sozialdemokratie ermöglichte damit aber zugleich ihre eigene Opposition – die Linkspartei. Wer nochmals en detail nachlesen will, wie es zu der Entscheidung am 11. März 1999 kam, dem sei das Kapitel “Schröder, Lafontaine und Rot-Grün” aus Lafontaines Linke von Wolfgang Hübner und Tom Strohschneider ans Herz gelegt. Vor dem Hintergrund seiner gegenwärtigen Rolle in der Parteienlandschaft und innerhalb der Linkspartei ist der fast endgültig klingende Nachruf von Günter Gaus aus dem damaligen Freitag geradezu trollig: “Das politische Comeback ist ausgeschlossen – oder es müssten Ostern und Pfingsten auf einen gemeinsamen Tag fallen -, weil der sozialdemokratische Parteivorsitzende Lafontaine beim Abschied spontan eine übermäßige Egozentrik an den Tag gelegt hat.” Die Egozentrik hat er noch lange nicht abgelegt; aber Ostern und Pfingsten scheinen auf eine gewisse Weise doch zusammen gefallen sein.

Erstveröffentlichung: freitag.de

Erinnerung an die Zukunft II

An anderer Stelle habe ich bereits auf einen Beitrag aus Radical America verwiesen. Auf libcom.org findet sich nun ein weiterer Interessanter Artikel. Bruno Ramirez, Herausgeber von ZEROWORK, beschreibt in seinem Artikel die Kämpfe in Italien Mitte der 1970er Jahre: The working class struggle against the crisis: self-reduction of prices in Italy. Der Aufsatz erschien erstmals der Nummer 4 von Radical America.

Erinnerung an die Zukunft: Organizing the Unemployed

Bei Ernst Bloch gibt es die Formulierung der “Erinnerung an die Zukunft”. Ihm geht es dabei um eine Form von Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit für die Zukunft und die Kämpfe in Erinnerung ruft. Nicht, um die Vergangenheit zu musealisieren, sondern um sie für die Emanzipation fruchtbar zu machen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die herrschende Historik nur selten die Erfahrungen der Kämpfe und die Niederlagen beachtet oder gar erwähnt.
Gegenwärtig wird zwar viel auf die Great Depression verwiesen, aber die (Überlebens)Kämpfe und die Formen des Widerstands werden oft vergessen bzw. vergessen gemacht. An anderer Stelle habe ich bereits auf die großartigen Interviews von Studs Terkle verwiesen. Dank eines Berichts aus Kalifornien bei wildcat bin ich auf einen Aufsatz aus der Radical America gestoßen. In einer Ausgabe kurz nach der großen Krise von 1974 erschien ein Aufsatz von Roy Rosenzweig, der an die Kämpfe und Organisierungen vor und während der Great Depression erinnert: “Organizing the Unemployed: The Early Years of the Great Depression, 1929-1933”. Diese Ausgabe ist wie viele andere Nummern komplett als pdf-Datei zu haben [9,7 mb] und lohnt sich angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise zu lesen und zu diskutieren – um sich an die Zukunft zu erinnern.

Die Krise als Chance? Die Linke muss sich radikalisieren!

Auf einem blog bei Der Freitag ist ein weiterer Text zur Krise und die Linke zu finden: “Die Linke begreift die gegenwärtige Krise zwar als politische Chance, zugleich wird aber eine wichtige Frage nicht gestellt: Wie soll es einer Linken nach Jahrzehnten gesellschaftlicher und politischer Marginalisierung gelingen, die gegenwärtigen Herausforderung überhaupt zu meistern? Ohne die Diskussion dieser Frage wird linke und radikale Politik auf der Strecke bleiben.” >>> Weiter lesen bei freitag.de

Linke Krise. Eine Geschichte von klasse K[r]ämpfen

Genosse Olaf Bernau kritisierte im letzten ak, dass die Krisenanalyse “ökonomistisch imprägniert” sei und die neoliberale Epoche “primär im Horizont einer bis heute andauernden Verwertungskrise des Kapitals rekonstruiert (werde) – ohne substanzielle Einbettung in gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse geschweige denn soziale Kämpfe”. Damit drohe bei der Analyse ein schiefes Gesamtbild, da der Neoliberalismus nicht als ein “eingefädeltes” (sic!) und zugleich “politisch umkämpftes Projekt” thematisiert werde. Die Fokussierung auf subalterne Kämpfe macht jedoch blind für die Herausforderungen linker Politik. Continue reading “Linke Krise. Eine Geschichte von klasse K[r]ämpfen”

Der Staat, das verflixte Ding. Warum materialistische Staatstheorie für linke Politik hilfreich sein kann

Linke Politik findet, so selbstbewusst und kämpferisch sie auch sein mag, immer in einem staatlichen Kontext statt. Entsprechend machen die Partei DIE LINKE, Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder linksradikale Organisationsansätze wie die Interventionistische Linke sehr verschiedene Erfahrungen mit dem Staat. Sie sind aber mit denselben staatlichen Organisationsprinzipien wie dem bürgerlichen Recht, bürokratischen Verfahren, der parlamentarischen Demokratie, der Parteienkonkurrenz, der Trägheit staatlicher Verwaltung und dem Gewaltmonopol konfrontiert. Diese Organisationsprinzipien kapitalistischer Staaten versucht die materialistische Staatstheorie genauer zu verstehen, wobei „materialistisch“ einen positiven Bezug auf die marxsche Ökonomiekritik meint. Dabei bricht sie mit den Vorstellungen vom Staat als einer von der Gesellschaft getrennten Sphäre. Stattdessen unterstreicht sie, dass der Staat kein Gegenprinzip zur kapitalistischen Ökonomie darstellt, sondern sich beide Momente gegenseitig voraussetzen. Holzschnittartig formuliert: Kein Kapitalismus ohne staatlich garantiertes Eigentums- und Arbeitsrecht, kein Staat ohne kapitalistisch erwirtschaftete Steuern.

Gramsci, Poulantzas, feministische Staatsforschung

Was wie ein theoretisches Gedankenexperiment erscheinen mag, ist in der Geschichte der materialistischen Staatstheorie eng mit den politischen Erfahrungen derjenigen verbundenen, die aus einer materialistischen Sicht den Staat begreifen wollten. Antonio Gramsci analysierte vor dem Hintergrund der Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung und dem Sieg des Faschismus das Verhältnis von Staatsapparaten und Zivilgesellschaft. Nicos Poulantzas markierte in Folge von 1968 und der Probleme der emanzipatorischen Kämpfe ab Mitte der 1970er die Grenzen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte, sich in die politische Ausrichtung des staatlicher Apparate einzuschreiben. Und die feministisch- materialistische Staatsforschung beschäftigte sich mit dem Staat, da sie vor dem Problem stand, dass die feministische Bewegung nicht nur repressiv unterdrückt, sondern auch politisch anerkannt wurde, und als Folge dessen feministische Bewegungsmomente in staatlicher Politik zu verschwinden drohten. Staatstheorie, die den Staat begreifen will, ist vor allem Begriffsarbeit, die sich in Begriffen wie dem „integralen Staat“ (Gramsci), dem Staat als der „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas), dem „Staat des Kapitals“ (Agnoli) oder dem „politischen Maskulinismus“ (Sauer) konkretisiert. Damit sind kapitalismus- und staatskritische Politikauffassungen verbunden, die eine andere Reflexion auf politisches Handeln zulassen, als die in der politischen Öffentlichkeit gängigen.

Linke Parteien

Dieses wollen wir anhand der Erfahrungen mit und von linken Parteien in aller Kürze skizzieren. Während im Mainstream die Gründung von Parteien als politische Option von interessierten BürgerInnen verhandelt wird, versteht die materialistische Staatstheorie sie primär als politischen Druck auf gesellschaftliche Akteure, die sich politisch organisieren wollen. Denn Parteien als Formen politischer Organisation kanalisieren, filtern und formatieren Interessen: Zur Parteiform gehören hierarchische Parteistrukturen, die Verfassungstreue (wozu u.a. auch die Unhinterfragbarkeit der Eigentumsordnung gehört), das parlamentarische Wirken innerhalb durch konservative Kräfte bestimmte parlamentarischen Strukturen und eine bürokratische Logik, die sich an den staatlichen Apparaten ausrichtet.

Prägend für die neuere staatstheoretische Debatte zur Frage von Parteien ist vor allem die Erfahrung mit den Grünen: Anfang der 1980er aus einer breiten, linken sozialen Bewegung zum „Marsch durch die Institutionen gestartet“, landete sie ab 1998 punktgenau bei der Zustimmung zum Kosovo-Krieg und zur neoliberalen Agenda 2010. Eine Erklärung für diese Entwicklung in Anschluss an Gramsci würde sich auf die Veränderung interner Positionen in der grünen Auseinandersetzung um hegemoniale Weltanschauungen fokussieren: Sie reichen von einer Transformation grüner Positionen von einer oppositionellen Bewegung zu einer oppositionellen Partei zu einer staatstragenden Partei, in der Positionen wie „außenpolitische Verantwortlichkeit“, „ökologische Modernisierung“ und „aktivierende Sozialpolitik“ schlussendlich wichtiger wurden als linke Positionen zu „Frieden“, “ökologischer Kapitalismuskritik”, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Selbstorganisierung“. Dabei ist zu beachten, dass das etablierte parlamentarische Spektrum durch die Parteienkonkurrenz und den daran angeschlossenen Medienapparat massiven Druck auf linke Kräfte ausübt, politische Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.

Poulantzas wiederum hat sich insbesondere mit der Materialität staatlicher Apparate beschäftigt, also der Frage, welche gesellschaftlichen Praktiken in Staatsapparate eingeschrieben sind, und inwiefern diese gesellschaftliche Kräfte formieren und Interessen verändern. Poulantzas beharrte darauf, dass politisches Handeln im Staat nicht in freien Willensbekundungen linker Kräfte aufgeht. Dies bezieht sich auf den existierenden Korpus an Gesetzen und Verfahren, an den linke Positionen „systematisch“ anschließen müssen, wollen sie „sinnvolle Politik machen“. Als Resultat davon kann es zu einer symbolischen Transformation linker Politik kommen, so dass diese auf Grund ihres staatstragenden Auftretens für rechtlich und verwaltungstechnisch nicht geschulte, außerparlamentarische linke Akteuren nicht mehr erkennbar ist.

Standbein und Spielbein

Soziale Bewegungen stellen über ihre eigenständige Selbstorganisierung hinaus eine gesellschaftliche Kraft dar, die linke politische Projekte legitimieren (z.B. Umweltpolitik entgegen bestimmter Kapitalinteressen) oder dafür sorgen können, dass linke Parteien gegenüber dem parlamentarischen Alltag politischen Rückhalt bekommen. Die grüne Partei diskutierte dieses in den 1980ern als Verhältnis von „Standbein und Spielbein“. Das Standbein stellt die organisierte außerparlamentarische Politik dar; das Spielbein die Repräsentation und Politik im Parlament. Diese Debatte war von dem Bewusstsein geprägt, dass dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsterrains von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik und den divergierenden Reichweiten linker Forderungen alles andere als unproblematisch und konfliktfrei ist. Gegenwärtig müsste es daher darum gehen, sich eine derartige Perspektive wieder anzueignen, da DIE LINKE nicht aus einer breiten sozialen Bewegung entstanden ist, gleichzeitig jedoch auch nicht als linke Kraft im neoliberal-konservativen parlamentarischen Spektrum ohne soziale Bewegungen als außerparlamentarische Bündnispartner überleben wird. Zentral hierfür ist, die zu Beginn des Artikels geschilderten Interessenswidersprüche zwischen linken Akteuren in einem solchen Bündnis auszuhalten. Dieses beinhaltet einerseits, eine Zusammenarbeit oder gar Bezugnahme von Teilen der außerparlamentarischen Opposition mit oder auf die Partei nicht für prinzipiell unmöglich zu erklären und andererseits von einer widerspruchsfreien Symbiose in einem gemeinsamen politischen Projekt abzurücken. Realistischerweise müsste es gegenwärtig somit darum gehen, überhaupt eine derartige Perspektive wieder aufzumachen und sich über die Bedingungen einer solchen mit dem nötigen staatskritischen Rüstzeug zu verständigen.

Lars Bretthauer/ Ingo Stützle

Erschienen in: prager frühling. Magazin für Freiheit und Sozialismus, Nr.3, 2009, 9-10.

Endlich wieder Staatsmann

Die Sehnsucht nach einem deutschen Obama, einem charismatischen Mann, der alles richtet, geht oft mit der Glorifizierung alter Staatsmänner einher. Angesichts der Finanzkrise und seines 90igsten Geburtstags wurde dann auch des Öfteren der gute alte Helmut Schmidt zum organischen Intellektuellen der staatstragenden Linken – da gaben sich die Linken innerhalb der SPD und der Lafontaine-Flügel in der Linkspartei nicht viel. Schließ prangerte er schon lange den Raubtierkapitalismus an. Das tolle an einer derartigen Projektionsfläche ist, dass die ersehnte politische Souveränität, Weitsichtigkeit sowie die Führungsfähigkeit, die über alle politischen und gesellschaftlichen Widersprüche erhaben scheint, die tatsächliche zu verantwortende Politik überstrahlt.
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Stamokap: Alter Wein in alten Schläuchen

Tom Strohschneider macht in seinem immer lesenswerten weblog darauf aufmerksam, dass mit der gegenwärtigen Finanzkrise auch alte Zeiten wieder kommen. Will heißen: Alte Erklärungsmuster. Sich diese in Erinnerung zu rufen ist sicherlich wichtig. Vor allem deshalb, weil das eine oder andere Statement unausgesprochen und implizit auf scheinbar längst vergessenen Theorien beruht oder sich gar offen darauf bezieht. So wird gegenwärtig die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus wieder en vogue. Manche haben diese Theorie noch nie zu den Akten gelegt. Leider. Deshalb ist es in diesen Zeiten auch wieder wichtig, die Kritik an damals wie heute falschen Theorien wieder stark zu machen.

Eine nach wie vor brauchbare Kritik zur Frage von Monopolkapitalismus bietet Elmal Altvater in seinem Text “Wertgesetz und Monopolmacht” von 1975. Er schreibt dort: “Das Monopol kann demgegenüber als ein spezifischer Moment der Konkurrenz aufgefasst werden. […] Da die Konkurrenz nicht aufhört zu wirken, wenn einzelne Kapitale als Monopole existieren, wird das einzelkapitalistische Streben nach Monopolstellungen, weil diese einen überdurchschnittlichen Profit eintragen, immer wieder durch die Ausgleichsbewegung der Einzelkapitale – in denen sie sich als Teil des Gesamtkapitals konstituieren – konterkarieren. Monopol und Konkurrenz sind daher auf der Ebene der Ausgleichsbewegung bzw. der Durchsetzungsformen der Bewegungsgesetze der Produktionsweise nicht qualitativ Verschiedenes oder gar einander Ausschließendes.” (Altvater 1975: 159; siehe auch Altvater 1980)

Daran anschließend zeigte Ulrich Jürgens (1980) in seiner historisch-empirischen Studie zu Deutschland um die Jahrhundertwende, dass sich in der institutionellen Form des Kartells gerade eine Restrukturierung des Gesamtkapitals vollzieht, um die allgemeine Form des Kapitalverhältnis zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass gegenwärtig ein ähnlicher Prozess stattfindet – in globalem Maßstab.

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Blau machen. Ein Zwischenresümee zu Klassenpolitik und Sozialstaatskritik

Die Gruppe Blauer Montag aus Hamburg hat wie kaum ein anderer politischer Zusammenhang die Debatte um Möglichkeiten radikaler sozialpolitischer Intervention geprägt – seit über 15 Jahren auf hohem Niveau. Seit Anfang der 1990er hat sie eine Perspektive stark gemacht, die sie als Klassenpolitik bezeichnet. In einem Sammelband zieht sie nun Zwischenbilanz. Der Band ist weit mehr als ein paar gesammelte Aufsätze, nämlich eine politische Herausforderung, weiter die richtigen Fragen zu stellen und Antworten dort offen zu lassen, wo nach wie vor Ratlosigkeit herrscht. Continue reading “Blau machen. Ein Zwischenresümee zu Klassenpolitik und Sozialstaatskritik”

Eine Torte für Keynes. Keynes’ 125. Geburtstag und wie der Ökonom in der LINKEN (nicht) diskutiert wird

Anfang 1935 schrieb John M. Keynes an den Schriftsteller George B. Shaw, dass er gerade an einem Buch über eine ökonomische Theorie sitze, die vielleicht nicht sofort, aber doch in den kommenden Jahrzehnten die Art und Weise, in welcher über ökonomische Probleme gedacht wird, revolutionieren werde. Er sollte Recht behalten. Wahrscheinlich ist es zu voreilig, gegenwärtig von einer Krise der Neoklassik zu sprechen. Aber von einer Legitimationskrise des Neoliberalismus, in den zentrale Vorstellungen der Neoklassik eingeschrieben sind, ist allemal auszugehen.

Nicht nur nach der Forderung einiger IWF-Ökonomen nach einer aktiveren Finanzpolitik fiel der Name Keynes immer häufiger. Als Antwort auf die vom US-amerikanischen Häusermarkt ausgehende Finanzkrise legte der Bundestagsabgeordnete Axel Troost zusammen mit Philipp Hersel ein Papier vor, das neben der Tobinsteuer und weiteren Regulierungsmaßnahmen Keynes’ Vorschlag einer Internationalen Clearing Union (ICU) aufgreift. (1) Dabei vertrauen sie auch auf die Autorität Keynes’: Er hätte als “gedanklicher Vater ein hohes Maß an ökonomischen Vorschuss-Lorbeeren. Kaum jemand wird sich trauen, die Idee kurzerhand als Hirngespinst ökonomischer Spinner vom Tisch zu wischen.”

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Der Schriftsteller und der Anwalt. Peter O. Chotjewitz’ Roman über Klaus Croissant

30 Jahre nach dem Deutschen Herbst wundert man sich über gar nichts mehr. Die RAF ist im herrschenden Diskurs inzwischen eine Mischung aus museumsreifer Zeitgeschichte, soziologischem Phänomen mit dem Etikett “Terrorismus” und dem Bösen an sich. Die Würdigung des RAF-Anwalts Klaus Croissant und des politischen Kampfs in den 1960er und 1970er Jahren durch den Schriftsteller Peter O. Chotjewitz ist hierbei eine erfreuliche Ausnahme.
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Aufgeblättert: »Das Weltkapital« von Robert Kurz

Im Anschluss an Marx’ Bücherplan zum Aufbau einer Kritik der politischen Ökonomie ist es sicherlich eine sinnvolle Aufgabe, sich dem Weltmarkt als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie zu widmen (35). Ausgehend von den ›Globalisierungskritikern‹ nähert Verf. sich dem Kapitalismus als Weltsystem (42 ff), streift die Imperialismustheorie (78 f) und setzt sich intensiv mit ›Globalisierungsleugnern und Verdrängungskünstlern‹ (187) auseinander. Die Kritik läuft nach bekanntem Muster: ›Alle sind konservativ geworden, so wie in anderer Weise (…) alle neoliberal geworden sind.‹ (370) ›Linke Gesellschaftskritik‹ bewegt sich immer noch im ›Gehäuse kapitalistischer Kategorien‹ (19) und linke Theoriegeschichte ist weiterhin nicht aufgearbeitet (326). Verf. arbeitet sich allerdings an schwachen Gegnern ab, andere werden kaum einmal in einem Nebensatz gewürdigt (Wallerstein, Altvater).

Die neue Qualität des Kapitalismus sieht Verf. im veränderten Charakter des Finanzkapitals, welches die Globalisierung vorantreibt – für ihn ist letztere nur ein ›eskalierter Krisenprozess‹ (59). Dem Finanzkapital komme die konstitutive Funktion bei der Simulation eines funktionierenden Systems zu, ohne die es bereits zum Zusammenbruch des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gekommen wäre (220). Aus der zunehmenden Entkopplung des Geldes von seiner Substanz Arbeit (119) folge eine ›Virtualität‹ der Kreditverhältnisse. Das Geld sei zu einer juristischen Konstruktion verkommen (122 f), während Arbeit ihre Bedeutung verliere. Unklar bleibt allerdings, wie Verf. ständig von überflüssiger Arbeit und der abnehmenden Relevanz der Arbeitskosten sprechen kann und gleichzeitig die Verlagerung von Arbeitsplätzen als zentrales Moment der Globalisierung konstatiert, was doch nur vor dem Hintergrund besserer Ausbeutungsbedingungen sinnvoll ist (94, 133, 168 f).

Weiter widmet er sich den Tücken der verkürzten Kapitalismuskritik (299 ff), vor allem dem ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff) und den Illusionen gegenüber dem Staat (366 ff). Der ›objektive Verblendungszusammenhang‹, den der Kapitalismus für alle ›immanenten Akteure‹ hervorbringe, führe in der Krise dazu, dass die ›innere systemische Logik‹ auf den Kopf gestellt werde (299): Die innere Schranke der Verwertung erscheine als Zirkulationsphänomen, was Teile der Linken, allen voran die Linkspartei, mit nationalem Keynesianismus beantworteten, der die Ursache der Krise in einem nicht mehr an den Nationalstaat gebundenen Finanzkapital sehe (u.a. 320). Pauschalisierend sieht Verf. diese Politik vor dem Hintergrund schwindender Arbeit in Forderungen nach einem starken Staat, Arbeitszwang und dem Schutz der deutschen Arbeiter umschlagen. Dabei seien diese Programme gesellschaftlichen Formen geschuldet, die einen ›strukturellen Nationalismus‹ (380) ebenso hervorbrächten wie einen ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff). – Verf. bewegt sich dabei allerdings auf unterschiedlichen Kritikebenen. Bestimmten theoretischen Vorstellungen meint er einfach mit der Empirie, der Wirklichkeit (64) oder der realen Historie (67) beikommen zu können, statt die von ihm eingeklagte kategoriale Kritik wirklich durchzuführen. So konstatiert er beim Theorem der komparativen Kostenvorteile im Anschluss an Ricardo nur dessen Blamage gegenüber der Wirklichkeit (64), kritisiert also bloß, dass Ricardo den kapitalistischen Formbestimmungen aufsitze. Auch mit seinem Kronzeugen Marx geht Verf. wenig sorgsam um. Aus den ›ökonomischen‹ Bewegungsgesetzen – wie Marx im Vorwort des Kapitals seinen Gegenstand skizziert – werden ›gesellschaftliche‹ (20), was einen Unterschied ums Ganze macht, der von Engels geprägte Begriff des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ wird Marx zugeschrieben (39) usw.

Gegenüber den ›Globalisierungsleugnern‹ besteht Verf. auf der neuen Qualität, die das Weltkapital mit sich bringe: ›Wenn die Veränderung im Verhältnis des Exportvolumens und der Direktinvestitionen von 6 auf mehr als 50 Prozent keine qualitative sein soll, dann gibt es (…) offenbar überhaupt keinen Umschlag von Quantität in Qualität mehr.‹ (171) – So wie hier das engelssche Argument bloß oberflächlich aufgesetzt wirkt, greift Verf. des öfteren auf suggestive Begriffe zurück und ersetzt Argumente durch eine Rhetorik des angeblich ›glasklaren‹ oder ›eindeutigen‹ Charakters eines Sachverhalts, während das Gegenteil statt widerlegt bloß als lächerlich abgetan wird (171 ff, 194 ff, 365 ff).

Kurz, Robert, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Edition Tiamat, Berlin 2005 (479 S., br., 18 Euro)

Erschienen in: DAS ARGUMENT 265/2006

Vorsicht Linksdings. Die neue Linkspartei und die außerparlamentarische Linke

Von Henrik Lebuhn und Ingo Stützle

Was die Gründung einer Oppositionspartei links der SPD angeht, hat die vorgezogene Neu-wahl in der parlamentarischen und in der außerparlamentarischen Linken eine Dynamik erzeugt, die noch im Juni dieses Jahres kaum jemand für möglich gehalten hätte. Binnen kürzester Zeit hat sich das Wahlbündnis zwischen PDS und WASG gegründet. Auch in der außerparlamentarischen Linken werden große Hoffnungen in das neue Parteiprojekt gesetzt. Öffentliche Diskussionsveranstaltungen zur Wahl stoßen selbst in der radikalen Linken auf breites Interesse. Wahlappelle werden formuliert, Allianzen geschmiedet und lebhaft über das Verhältnis zwischen außerparlamentarischer und parlamentarischer Linke debattiert. Das neue Projekt sorgt für Furore.
Ausgelassene Euphorie für das neue Linksdings ist also nicht nur bei der sozialen Basis der PDS und der WASG zu registrieren. Auch Teile der außerparlamentarischen und radikalen Linken, die schon lange keinen Sinn mehr in parteiförmiger Organisierung sehen, scheinen wieder Hoffnung in ein parlamentarisches Projekt zu setzen. Während die Entstehung der Linkspartei bei ersteren verständlicherweise begrüßt wird, bleibt die Zustimmung bei den letzteren eher befremdlich.

Parteien sind mächtige Realität
Es fragt sich: Entsteht hier tatsächlich eine “Partei neuen Typs”, die eine neue Dynamik in den Kampf gegen das neoliberale Einheitsdenken bringt? Worauf gründet sich die Hoffnung gerade der außerparlamentarischen Linken, dass sich die Linkspartei als erfolgreiches oppositionelles Parteiprojekt erweist und sich dabei auch noch positive Effekte für soziale Bewegungen ergeben? Kann aus einer antikapitalistischen und emanzipatorischen Perspektive davon ausgegangen werden, dass Parteipolitik im Parlament zukünftig dazu beitragen wird, die Verhältnisse grundlegend zu verändern? Völlig auszuschließen ist dies sicherlich nicht. Doch die Erfahrungen mit der PDS in den Landesregierungen und mit den Grünen seit 1998 auf Bundesebene geben allen Grund zur Skepsis. Und dabei hatten letztere in ihrer Gründungsphase zumindest noch den Wind einer starken sozialen Bewegung im Rücken. Die neue Linkspartei dagegen ist ein Projekt der Funktionäre.
Auch theoretische Überlegungen legen nahe, dass die jüngsten Anpassungsleistungen (ehemals) unbequemer Parteien an die parlamentarische Realität der Bundesrepublik mehr als nur historische Zufälligkeiten waren. Vielmehr muss die “materielle Dynamik organisatorischer Formen als dauerndes Problem” emanzipatorischer Politik unter bürgerlichen Verhältnissen begriffen werden. (1) Ein Grund für uns, bei der existenten Euphorie eine eher grundsätzliche Auseinandersetzung zu führen. Zwar wissen wir, dass auch vom Standpunkt einer staats- und kapitalismuskritischen Linken die Politik der Parteien als mächtige Realität akzeptiert werden muss. Das heißt jedoch nicht, den Parlamentarismus auch als Form der Politik, als Modus der gesellschaftlichen Konfliktaustragung und vor allem als Herrschaftsinstitution zu akzeptieren.

Staatszentrierheit vs. Bewegungsorientierung
Spätestens seit 1998 wird die systematische Entsicherung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse als gesamtparlamentarisches Projekt betrieben. Die Entstehung der Linkspartei ist vor allem Ausdruck eines in seiner Bedeutung wohl kaum zu unterschätzenden Bruchs zwischen SPD und Gewerkschaften. Zum ersten Mal in der Geschichte des DGB spricht dieser zur Bundestagswahl keine Wahlempfehlung aus. Mit ihrer unverfrorenen Politik zu Gunsten der Kapitalseite hat die SPD ihre eigene Basis mittlerweile zutiefst verunsichert. Und nicht nur die. Das Vertrauen in die Politik der großen Parteien scheint durchgängig erschüttert. Erstmals seit Gründung der Grünen im Jahr 1980 fühlen sich große Teile der Wähler und Wählerinnen mit ihren Interessen durch keine der etablierten Parteien mehr vertreten und suchen nach einer neuen Repräsentation im parlamentarischen System. Das neoliberale Einheitsprogramm der “virtuellen Gesamtpartei” (Agnoli) im Bundestag trägt Früchte.
Vor diesem Hintergrund kann die in den vergangenen eineinhalb Jahren zunächst in semi-klandestinen Zirkeln diskutierte und dann offensiv vorangetriebene Gründung einer Sozialstaatspartei also eigentlich gar nicht überraschen. Die neue Linkspartei könnte das Dilemma lösen, dass sich den von der Sozialdemokratischen Partei Enttäuschten schon seit geraumer Zeit keine wahlpolitische Alternative mehr bietet. Deutlich drückt sich die abgrundtiefe Verunsicherung vieler Wähler gegenüber allen parteipolitischen Alternativen in den Gründungsdiskussionen und -konzepten der Linkspartei aus.
Aber allein ein Vergleich der ersten Papiere zu einer Wahlalternative und der gegenwärtigen Ausrichtung der Linkspartei zeigt, dass Skepsis angesagt ist. So wurde im ersten Papier “Für eine wahlpolitische Alternative 2006” deutlich der Anspruch formuliert, “die intellektuellen und strukturellen Kapazitäten für Opposition zu stärken” und “nicht etwa ,regierungsfähig` zu werden”. Für viele Gruppen und Einzelpersonen aus dem außerparlamentarischen Spektrum knüpft sich unter anderem daran die Hoffnung, dass sich im Windschatten einer solchen Oppositionspartei auch wieder eine starke soziale Bewegung formieren, zumindest aber von einer Diskursverschiebung nach links profitieren könnte. Die Entstehung einer “Partei neuen Typs”, wie es sie in Italien mit der Rifondazione Comunista im Ansatz gibt, konnte man zumindest zeitweise für möglich halten. Auch wenn die Linkspartei sich dies nicht selbst auf die Fahne geschrieben hat.
Doch nach dem wahlkampftaktischen Zusammenschluss von WASG und PDS ist die neue Linkspartei von der Umsetzung des schwierigen Balanceaktes zwischen Stärkung außerparlamentarischer Gegenmacht und parlamentarischer Opposition, wie er in den frühen Strategiepapieren noch proklamiert wurde, leider meilenweit entfernt. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sitzt die PDS derzeit mit in den Landesregierungen und setzt vor allem in Berlin massive Sozialkürzungen rigoros durch. Eine systematische Kommunikation mit Aktivisten aus sozialen Bewegungen kommt in der PDS kaum zu Stande, obwohl in der Partei des demokratischen Sozialismus seit Jahren über mehr Bewegungsnähe diskutiert wird.

Staats- und Kapitalismuskritik – Fehlanzeige
Bisher waren es vor allem Einzelpersonen, die sich trotz ihrer Parteipolitik den sozialen Bewegungen verbunden fühlten. Wann immer sie damit parlamentarisch unbequem wurden, gab’s Schelte von oben: So etwa im Mai 2002 als der Fraktionschef der PDS, Roland Claus, sich bei George Bush für den Protest von Ulla Jelpke, Winfried Wolf und Heidi Lippmann entschuldigte, die im Bundestag ein Transparent gegen den Krieg in Afghanistan entrollt hatten. Ein Schlag ins Gesicht der Antikriegsbewegung. Auch die WASG bleibt bislang ein Projekt “von oben”. Von einer systematischen Einbeziehung sozialer Bewegungen ist auch hier nicht viel zu sehen.
Genau dies sind jedoch die neuralgischen Punkte, wenn es um die zukünftige Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Deutschland geht. Werden außerparlamentarische Selbstorganisationsprozesse weiter angeregt? Wird sich die allgemeine Unzufriedenheit mit neoliberalen Regierungsprogrammen ausdehnen und radikalisieren? Oder werden die jüngsten Ansätze einer Basisbewegung von der neuen Linkspartei einfach “geschluckt”. Sowohl in der PDS als auch in der WASG stoßen in dieser Hinsicht unterschiedliche Politikvorstellungen und Selbstverständnisse aufeinander. Der Konflikt zwischen eher traditionalistischen Parteikonzepten und einer zumindest programmatisch verkündeten Nähe zu sozialen Bewegungen ist noch nicht entschieden. Aber mit den populistischen Zugpferden Lafontaine und Gysi bedarf es kaum noch einer sozialen Verankerung in sozialen Bewegungen. Ein Vorteil für die Traditionalisten. Zudem werden mit der zunehmenden Integration von PDS und WASG in die parlamentarische Verantwortung die Chancen eher abnehmen, dass sich mit der neuen Linkspartei auch ein starkes und radikales Bündnis linker Kräfte herausbildet, das mehr als nur parlamentarische Beatmungen bewirkt.
Was also, wenn die neue Linkspartei am Ende doch nur “die richtige Vertretung” sozialdemokratischer Wählerinteressen im Bundestag anstrebt? Was, wenn die zaghaften Ansätze eines gewerkschaftlichen Bruchs mit der Sozialdemokratie nicht in ein breites Bündnis mit sozialen Bewegungen münden, sondern sogleich in der Bindung an eine neue sozialdemokratische Kraft aufgefangen werden? Dann wäre damit auch der Staatszentrismus der deutschen Gewerkschaften aufs neue zementiert. So würde sich bestätigen, was Bodo Zeuner bereits vor dreißig Jahren an der deutschen Gewerkschaftsbewegung kritisierte: “Dass das Fortdauern der SPD-Bindung vor allem mit einer in der bürgerlichen Gesellschaft von Beginn an angelegten, in der deutschen Geschichte besonders ausgeprägten Staatsfixierung der Arbeiterklasse erklärt werden kann. Damit ist die (…) Überzeugung gemeint, dass das Handeln des Staates für die eigene Lebenslage als Arbeiter wesentlich entscheidender ist als alle Formen des eigenen organisierten Widerstands gegen das Kapital.” (2) Der so skizzierte Staatszentrismus zeigt sich auch immer dann, wenn soziale Bewegungen nur als einsetzbares Druckventil staatlicher Politik verstanden werden und ihre Organisationsmacht auf die Funktion verkürzt wird, staatliche Programme durchzusetzen.
Entscheidender als das Wahlprogramm der Linkspartei ist daher die Frage, ob sich die Gewerkschaften weiterhin in ihrer institutionellen Form als konstruktiver Bestandteil des “Modell Deutschland” verstehen oder sich im Sinne eines Social Movement Unionism als Teil sozialer Bewegungen sehen, und außerparlamentarischen Druck auf alle Parteien ausüben werden. Diese Diskussion wird in linksgewerkschaftlichen Kreisen bereits seit längerem geführt, und auch Horst Schmitthenner, Vorstandsmitglied der IG Metall, klagt bei der Linkspartei ein, dass außerparlamentarische Bewegungen “als notwendiger Teil eines erfolgreichen alternativen Projekts, als Gleiche unter Gleichen, nicht nur anerkannt, sondern auch herbeigesehnt, ja sogar befördert werden”. (Freitag, 2.9.05)
Mit der Gründung der Linkspartei könnte jedoch genau diesem Projekt der Wind (wieder) aus den Segeln genommen werden. Bietet sich doch nun wieder eine parlamentarische und innerinstitutionelle Alternative zur Bewegungsorientierung an. Gewerkschaftliche Forderungen und Strategiebestimmungen würden mit einer engen Ausrichtung an der Linkspartei wieder parlamentarisch vorformiert; ihre Politik an Parteidebatten und Gesetzesvorschlägen orientiert, anstatt mit anderen außerparlamentarischen Kräften eine Gegenmacht aufzubauen. Zurzeit sieht es tatsächlich so aus, als wenn die Linkspartei bei großen Teilen der Gewerkschaftsbasis auf distanzlose Zustimmung stößt. Mit ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine läuft die Linkspartei hier offene Türen ein, und vieler Orts stößt sie dabei auf eine gefährliche linksnationalistische Stimmung. Eigentlich nichts Neues für deutsche Verhältnisse. Bereits seit den 1980ern wird die Gewerkschaftskrise vor allem zu Gunsten der weißen, männlichen Kernbelegschaft verarbeitet. Auch wenn mit den ersten Versuchen einer gewerkschaftlichen Organisierung von Wanderarbeitern im Rahmen der IG BAU eine zaghafte Öffnung zu verzeichnen ist. (vgl. ak 486)
Überraschender ist da schon, dass auch große Teile der radikalen Linken sich aufgeschlossen bis distanzlos gegenüber dem parlamentarischen Linksprojekt zeigen. Dies wiederum scheint uns vor allem ein Indikator dafür zu sein, wie weit der öffentliche Diskurs mittlerweile nach rechts gerutscht ist und wie isoliert staats- und kapitalismuskritische Positionen trotz Münteferings Manager-Hetze hier zu Lande derzeit sind. Angesichts bundesdeutscher Bewegungsarmut versprechen sich viele von einer Orientierung an dem neuen parlamentarischen Akteur zumindest minimale politische Erfolge – wie trügerisch diese auch immer sein mögen.
Für die Annahme, dass mit Integration in den parlamentarischen Alltag die Umtriebigkeit eines neuen Linksprojekts abnimmt, gibt es nicht nur empirische Hinweise, sondern auch theoretische Argumente. Damit ist freilich eine Ebene der Kritik angesprochen, die nicht nur auf die Linkspartei zutrifft, sondern “zeitlos” und unabhängig von den spezifischen politischen Konstellationen an allen parlamentarischen Projekten formuliert werden kann. Parteien als “extrastaatliche Teilverwaltungen” (Narr) unterliegen in ihrer parlamentarischen Politik engen Restriktionen. Diese sind vor allem durch zwei Momente bestimmt: zum einen durch ganz grundlegende Merkmale von Staatlichkeit in kapitalistischen Gesellschaften und zum anderen durch die spezifische Funktionsweise parlamentarischer Demokratie. Beiden Momenten sind Parteien unterworfen – auch wenn sie sich in der Rolle der Opposition befinden und das Personal für die Regierung möglicherweise gar nicht stellen (wollen).

Bewegungsnähe trotz Parteipolitik
Das “Formprinzip der Konkurrenzpartei” (Offe) legt eine Logik nahe, nach der die Parteien Wählerstimmen suchen, wo immer sie zu bekommen sind. Mit zunehmender Integration ins parlamentarische System enthalten sie sich dabei immer mehr der Bezugnahme auf klassenmäßige, konfessionelle oder sonst wie spezialisierte Partikularinteressen. Statt dessen wird der “Bürger als abstraktes Willenssubjekt, als ein mit Stimmrecht ausgestatteter Jedermann angesprochen”. (3) Unter dem (Konkurrenz-)Druck, möglichst große Wählergruppen ansprechen zu müssen, werden spezifische Interessen und (Klassen-)Konflikte ausgeblendet und eine Politik für “die Mehrheit der Bevölkerung” formuliert.
Deutlich zeigt sich dieser staatstheoretische Befund auch im Falle der neuen Linkspartei bzw. in den programmatischen Statements ihrer frisch gebackenen Funktionäre. So äußerte sich etwa ein Mitinitiator der WASG in Berlin zur Niederlage des Wahlbündnisses Regenbogen bei den letzten Hamburger Bürgerschaftswahl wie folgt: “Meiner Meinung nach hat Regenbogen einen grundsätzlich falschen, einen typisch linken Milieuwahlkampf geführt. Sie haben die Probleme nicht zugespitzt, die die Hamburger bewegen. Wenn man solche Punkte aufgreift, dann hätten auch Wahlalternativen Erfolgsaussichten.” (Neues Deutschland, 3.3.04) Dass “die Hamburger” in zentralen politischen Fragen vielleicht gar keine gemeinsamen Probleme haben, die die Wahlalternative zuspitzen könnte, sondern vielmehr unvereinbare Interessengegensätze, welche es zu benennen gilt, scheint dem Mitbegründer der WASG gar nicht in den Sinn zu kommen.
Dieses Diktat, im Namen des Allgemeinwohls alles besser machen zu wollen, dem alle Parteien in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie unterliegen, hängt untrennbar mit den grundlegenden Bestimmungen von moderner, d.h. kapitalistischer Staatlichkeit zusammen. Als “ideeller Gesamtkapitalist” muss “der Staat” das kapitalistische Gesamtinteresse formulieren, um so die allgemeinen Produktionsbedingungen zu garantieren. Gerät die kapitalistische Akkumulation in die Krise, stehen die materiellen Reproduktionsbedingungen des “Steuerstaates” selbst auf dem Spiel. Stets bleibt er daher “Staat des Kapitals”, wie Johannes Agnoli es formulierte.

Formprinzip: Konkurrenzpartei
Freilich ist staatliche Politik nie durch die ökonomische Situation vollständig determiniert. Aus der allgemeinen Reproduktionserfordernis, die kapitalistische Verwertung aufrecht zu erhalten, lassen sich noch keine konkreten politischen Maßnahmen ableiten. Das kapitalistische Gesamtinteresse muss im politischen Prozess immer wieder neu ermittelt und der Konsens der Subalternen darüber organisiert werden. In diesem Zusammenhang verkörpert “das Parteiensystem (…) den Teil des regulativen Institutionenkomplexes, in dem antagonistische-plurale Interessen und Handlungsweisen in der Weise produziert, artikuliert, gerichtet, geformt, gefiltert und miteinander verbunden werden, dass ein relativ kohärentes, die gesamtgesellschaftliche Reproduktion gewährleistendes staatliches Handeln sowohl ermöglicht als auch legitimiert wird”. (4)
Das Feld staatlicher Politik ist also immer schon vorstrukturiert und nicht allein von Kräfteverhältnissen abhängig. Dabei lässt die Ermittlung des kapitalistischen Gesamtinteresses nicht nur Raum für konflikthafte Dynamiken, sondern bringt diese selbst hervor und macht ihre geregelte politische Bearbeitung möglich und nötig. Hier wird es auch für außerparlamentarische Akteure interessant. Denn natürlich können unterschiedlich politische Strategien der systemimmanenten Konfliktbearbeitung für die Betroffenen zu wesentlichen Verbesserungen ihrer Lebenslagen führen. Die Einführung von Hartz IV etwa unterlag natürlich keinem Sachzwang, sondern war den konkreten politischen Kräfteverhältnissen und Akteurskonstellationen geschuldet. In diese gilt es für eine außerparlamentarische Linke zu intervenieren. Zugleich müssen sich gerade Akteure, die sich mit fundamentalkritischen Positionen in die politische Arena begeben, der engen Grenzen staatlicher Politik bewusst sein. Für Hartz IV etwa gilt, dass die Ausweitung eines staatlich subventionierten Niedriglohnsektors und der Zwang zur (Lohn-)Arbeit gegen eine starke parlamentarische Linke vielleicht in dieser Form nicht durchzusetzen gewesen wäre. Zentral war in diesem Fall die Kooperation der Gewerkschaften. Doch globaler Standortwettbewerb, strukturelle Massenarbeitslosigkeit und leere Steuerkassen setzen auch einer Linkspartei enge sozialpolitische Handlungsspielräume, zumindest solange die Grundprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung nicht zur Disposition stehen. Sozialpolitik des bürgerlichen Staates bleibt eben immer die “Bearbeitung des Problems der Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter”. (5) Lohnarbeit als zentrale Vergesellschaftungsinstanz wird mit staatlicher Sozialpolitik nicht überwunden werden.
Dass der systemische Anpassungsdruck, den die Handlungsrationalität parlamentarischer Politik auf ihre Akteure ausübt, kaum zu unterschätzen ist, zeigt ein Blick auf die jüngste Vergangenheit bundesdeutscher Parteipolitik. Etwa auf die Grünen, die bis 1998 stets einen unversöhnlichen Pazifismus vertraten und nach den Bundestagswahlen – in “Regierungsverantwortung” wie es so schön heißt – den grundgesetzwidrigen Einsatz der Bundeswehr im Kosovo maßgeblich mittrugen.
Johannes Agnoli, der die Mechanismen der parlamentarischen Anpassung an realpolitische Erfordernisse bereits Ende der 1960er Jahre brillant beschrieben hat, meinte, dass eine emanzipative Politik im Parlament nur dann Aussicht auf Erfolg hätte, wenn die betreffende Partei eine konsequente Strategie der Fundamentalopposition verfolgt und dabei von einer starken sozialen Bewegung gegen den parlamentarischen Anpassungsdruck gestützt und gewissermaßen auf einer radikalen Linie gehalten wird. In einer solchen Situation bestimmt “der Kampf selbst, und nicht das konstituierte Regelsystem” die Politik. (6) Keine dieser Bedingungen ist heute erfüllt.
Doch der Parlamentarismus richtet seine Akteure nicht nur inhaltlich an den Erfordernissen der kapitalistisch-nationalstaatlichen Realität aus, sondern setzt auch seine eigenen Formen durch. Populismus, Konkurrenzverhalten, personalisierende und reduzierende Wahlkampfpolitik – all das bringt die Logik des Parlamentarismus selbst hervor; keine Partei, die dieses Verhalten nicht an den Tag legte. Ein linkes Projekt aber, das diesen Namen verdient, zeichnet sich durch das genaue Gegenteil aus: bedacht sollte es sein, aufklärerisch, strategisch und dabei doch kompromisslos.

Fallstricke des Parlamentarismus
Nun beabsichtigt die neue Linkspartei freilich gar nicht, kapitalismus- und staatskritische Positionen ins Parlament zu tragen. Doch auch wenn man die Linkspartei “nur” am eigenen Anspruch misst, bleibt Grund zur Skepsis. Worin besteht angesichts eines strikt sozialdemokratischen Programms eigentlich das kritische Potenzial der neuen Linkspartei? Selbst für den Fall, dass sich die Linkspartei “erfolgreich” durchsetzt, wird dies “bestenfalls” zur Aushandlung eines neuen Klassenkompromisses zwischen Kapital und Arbeit führen. Faule Kompromisse und Zugeständnisse wird es geben.
Sicherlich: Für die Betroffenen können parlamentarisch erkämpfte Freiräume und kleine Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse einen wesentlichen Unterschied machen. Doch aus einer emanzipatorischen Perspektive muss es darüber hinaus immer auch darum gehen, ob und wie sich daraus weitergehende Proteste entwickeln und Gegenmacht aufgebaut wird. Es geht nicht nur um das Ausschöpfen von Handlungsspielräumen, sondern auch um die Frage, inwieweit damit bessere Rahmenbedingungen für weitergehende soziale Kämpfe geschaffen werden. Dass sich die Linkspartei dies zukünftig zur Aufgabe macht, ist aber alles andere als wahrscheinlich.
Zum einen, weil sie sich nach den Wahlen ihrer sozialen Basis erst einmal sicher sein kann. Zum anderen, weil eine kämpferische Klassenpolitik zu sperrig ist, um breite Wählerschichten anzusprechen. Eine Unterstützung der Linkspartei – entgegen aller Skepsis – muss deshalb ihren Maßstab darin finden, welche Relevanz die Verbesserung der Rahmenbedingungen für außerparlamentarische Politik für die Linkspartei selbst hat. Dies reicht von der politischen Ausrichtung der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die öffentliche Distanzierung von widerständigen Praxen bis hin zur Rolle, die die Linkspartei in lokalen und regionalen Bündnissen spielen wird. Eine klare Ausrichtung auf mehrheitsfähige Politik wird außerparlamentarische linke Politik und Organisierung von Widerstand gegen die Verhältnisse erschweren.
Das Worst-Case-Szenario: Enttäuschte SPD-Wähler und Gewerkschafter, die noch im letzten Herbst erbost gegen Hartz IV auf die Straße gingen, werden ihre Interessen im Parlament vertreten und aufgehoben sehen. Die Notwendigkeit einer starken außerparlamentarischen Opposition wird vielen nicht mehr einsichtig sein und die eh schon schwachen Proteste gegen Arbeitszwang, Lohnsenkung und Sozialabbau endgültig erstickt. Am Ende könnte die außerparlamentarische Linke mit weniger dastehen als zuvor.
Wenn jetzt zu viele Hoffnungen auf die Linkspartei gesetzt werden, könnte dies, so unsere These, der außerparlamentarischen Linken – vom radikalen Flügel der Gewerkschaften über attac bis hin zu Antifa-Gruppen – möglicherweise mehr schaden als nützen. Um unsere beiden Kritiklinien noch einmal explizit zu machen:
1. Inhaltlich wird die Linkspartei im Bundestag bestenfalls sozialdemokratische und gewerkschaftliche Positionen vertreten, die der SPD abhanden gekommen sind. Von einem staats- und kapitalismuskritischen Projekt ist sie weit entfernt. Radikale Ecken und Kanten werden sich im parlamentarischen Prozess schnell abschleifen.
2. Aus Sicht einer grundlegenden Gesellschaftskritik bleibt die strategische Hoffnung, dass im Zuge der Neuformierung des parlamentarischen Feldes auch wieder eine starke soziale Bewegung entsteht. Doch weder löst die Linkspartei bislang ihren programmatischen Anspruch auf eine Zusammenarbeit und Stärkung sozialer Bewegungen ein, noch ist zurzeit eine außerparlamentarische Kraft in Sicht, die die Linkspartei auf einem oppositionellen Kurs halten könnte und so aus der neuen politischen Situation Kraft schöpfen könnte.
Statt Euphorie ist daher Skepsis angesagt. Wo es inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt, ist gegen eine Zusammenarbeit zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Linken wenig einzuwenden. Aktivisten aus sozialen Bewegungen und Anhänger der Linkspartei werden zukünftig – wie ja auch schon in der Vergangenheit – in vielen Bündnissen und Kampagnen am gleichen Strang ziehen. Nichts spricht dagegen und vieles dafür. Eine radikale Linke kann sich ihrer schwierigen Aufgabe nicht einfach so entledigen: Einfluss auf “Realpolitik” zu nehmen, und sich dabei weder institutionell inkorporieren zu lassen, noch in ein linkes Ghetto zurückzuziehen. Trotz globalisierungskritischer Bewegung und Hartz-IV-Protesten bleiben die Zeiten in Deutschland bewegungsarm. Gerade deswegen muss das außerparlamentarische Feld weiter bearbeitet werden, anstatt die Gründung einer Linkspartei abzufeiern.

Anmerkungen:
1) Wolf-Dieter Narr: Zum Politikum der Form – oder warum fast alle Emanzipationsbewegungen Herrschaft nur fortlaufend erneuern, allenfalls besänftigen, in: Leviathan, Heft 2/1980
2) Bodo Zeuner: “Solidarität” mit der SPD oder Solidarität der Klasse? Zur SPD-Bindung der DGB-Gewerkschaften, in: Prokla 26/1976
3) Claus Offe: Konkurrenzpartei und kollektive politische Identität, in: Roland Roth (Hg.): Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, Campus, Frankfurt am Main 1980
4) Jürgen Häusler/ Joachim Hirsch: Regulation und Parteien im Übergang zum “Postfordismus”, in: Das Argument 165/1987
5) zit. nach Stephan Lessenich: Vorwärts – und nichts vergessen. Die neue deutsche Sozialstaatsdebatte und die Dialektik sozialpolitischer Intervention, in: Prokla 116/1999
6) Johannes Agnoli: Wahlkampf und sozialer Konflikt, in: Transformation der Demokratie (Gesammelte Schriften, Bd.1), Freiburg/Br. 1990

Erschienen in: ak – analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 498 v. 16.09.2005, 33-34.