Aufgeblättert: David Marsh erzählt seine Geschichte des Euro

»Sollte es der Wunsch Frankreichs gewesen sein, den Euro zu gründen, um die vermeintliche deutsche Dominanz zu brechen, dann ist genau das Gegenteil eingetreten.” (Gerhard Schröder im Gespräch mit David Marsh)

Eigentlich müsste man skeptisch sein, wenn jemand auf knapp 400 Seiten eine “geheime Geschichte der neuen Weltwährung” – dem Euro – zum Besten gibt. Schließlich kann die erzählte Geschichte alles, nur eben nicht geheim sein. Sonst könnte man sie nicht nachlesen. Das erinnert dann doch arg an bekannte Formeln bei Verschwörungstheorien, die das Offensichtliche nicht offensichtlich sein lassen wollen und einer scheinbar unterdrückten Wahrheit frönen, die alles, jedoch weder Wahrheit noch unterdrückt ist. Aber sei’s drum: David Marsh hat es tatsächlich nichtnur geschafft, in vielen Gesprächen der politischen Elite das eine oder andere zu entlocken und viele Einschätzungen zur Geschichte des Euros zusammen zu getragen, sondern zudem – aufgrund seiner guten Kontakte – unveröffentlichtes Archivmaterial sichten können. Das Buch ist also durchaus interessant und erhellend, solange andere Arbeiten zum Thema herangezogen werden, die das eine oder andere wieder gerade rücken. Continue reading “Aufgeblättert: David Marsh erzählt seine Geschichte des Euro”

Aufgeblättert: Die parlamentarische Linke in Europa

Linke parlamentarische Politik in der Hauptstadt der EU, in Brüssel? Was wird da nochmal entschieden: wie krumm eine Gurke sein darf? Die EU ist dennoch alles andere als irrelevant, sie war und ist die politische Form, in der neoliberale Politik in Europa durchgesetzt wurde – als politisch organisierter Sachzwang. Um Licht ins Dunkel der Brüsseler Politik zu bringen, hat Martin Schirdewan anlässlich der Europawahl seine Dissertation popularisiert. Was es neben der Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/NGL) noch gibt, wissen nicht viele. Wer kennt schon die Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren (KSM), die in der Europäischen Linkspartei z.Zt. Beobachterstatus hat? Diverse Diskussions- und Strömungsplattformen und politische Spektren organisieren das politische Geschehen und verlaufen dennoch quer zur wichtigsten linken Partei in Brüssel, die Europäische Linke (EL). Vor allem deren Entstehung zeichnet Schirdewan nach. Neben Strömungen, Organisationsformen und der Zusammenarbeit in Brüssel stellt der Autor jedoch auch die Konflikte der politischen Spektren dar. Er unterscheidet hier vor allem zwischen reformsozialistischen Kräften (Nordisch Grüne Linke und Neue Europäische Linke), traditionellen KommunistInnen und dem – in Deutschland nicht so relevanten – Trotzkismus. Nach wie vor seien aber Kooperation und auch die Diskussionen zwischen linken Kräften in Brüssel rudimentär, auch wenn mit der Gründung der EL eine neue Qualität erreicht sei. Das Buch soll explizit eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Leider wird es gerade dieser nicht unbedingt weiter helfen, weil ganz grundsätzliche Fragen unter der akribischen Arbeit zu den unterschiedlichen politischen Akteuren und Foren begraben werden. Welchen Einfluss hat das Europäische Parlament überhaupt? Macht es Sinn, von links die Perspektive einer Demokratisierung der EU zu diskutieren? Was bedeutet Schirdewans Beobachtung, dass die linken Parteien sich zunehmend den Arbeitsmechanismen des Parlaments anpassen? Zudem setzt der Autor viele Rahmenbedingungen europäischer Politik, das Institutionengefüge und die Bedingungen linker Politik als bekannt voraus. Für eine breitere Öffentlichkeit wären weniger Details und der Mut zur Lücke sicher hilfreicher gewesen.

Ingo Stützle

Martin Schirdewan: Links – kreuz und quer. Die Beziehungen innerhalb der europäischen Linken. Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, 160 Seiten, 14.90 EUR

Erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 540 vom 19.6.2009

Das Leben der ganz anderen – groteske Mechanik der Macht

Die DDR hat es wirklich gegeben. Die von Rayk Wieland erzählte Geschichte ist auch tatsächlich passiert. Zu Klaus Bittermanns Besprechung ist wenig hinzuzufügen. Die Stasi wird auf einen pubertierenden Jungen aufmerksam, der regelmäßig und mit Hingabe seiner Geliebten in den Westen schreibt. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, fast 30 Jahre nach den ersten Gedichten, erfährt der inzwischen nicht mehr so jugendliche Autor, dass nicht nur er, sondern auch seine Gedichte Gegenstand von Stasi-Ermittlungen und Überwachung waren. Wielands Stasi-Akte kehrt als Gedichtsammlung wieder. Ein grotesk kommentierte Sammlung längst vergessen und verloren geglaubter Gedichte. Ein wirklich großartiges Buch.

Auf WDR2 liest Wieland selbst eines der im Buch mit Stasi-Anmerkungen versehenen dokumentierten Gedichte vor und die Jungle World hat ein Kapitel vorveröffentlicht. Ein Interview mit RadioEins findet sich in der ARDmediathek.

Dass die Geschichte und wie Wieland sie beschreibt so grotesk erscheint, hat sicher auch was mit dem zu tun, was Foucault über die grotesken Mechanismen der Macht sagt. Den Zusammenhang von willkürlicher Herrschaft und Groteske führ Foucault in der Vorlesung am College de France vom 8. Januar 1975 (Die Anomalen) aus:

“Die Groteske gehört zu den entscheidenden Verfahren der willkürlichen Herrschaft. […] Mir scheint es […] darum zu gehen, eindeutig die Unumgänglichkeit und Unvermeidbarkeit der Macht vorzuführen, die auch dann noch in aller Strenge und in einer äußerst zugespitzten gewaltsamen Rationalität funktioniert, selbst wenn sie in den Händen von jemandem liegt, der tatsächlich disqualifiziert ist.”

Ein Oberleutnat, der weder das brennende Feuer der Liebe, noch Schiller oder Shakespeare kennt, hat es sicher leicht, Gedichte und jugendlichen Nihilismus als staatsgefährdend einzustufen… Aber ich schlage vor, das Buch zu lesen.

Der Zeitgeist des Paul Krugman

Mit der Finanzkrise ist Marx und Keynes wieder in aller Munde. Auch wenn das Wirtschaftswachstum den Rückwärtsgang eingelegt hat, scheint es für die Linke in die entgegengesetzte Richtung zu gehen: nach Vorne. Wer ein bisschen aufmerksam ist, wird merken, dass dem ganz und gar nicht so ist. Auch wirtschaftstheoretisch ist mehr als Skepsis angesagt – zumal ein neoklassich fundierter Neu-Keynesianismus schon seit Jahren im akademischen Betrieb Fuß gefasst hat.

Der Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2008, Paul Krugman, wird schon seit einiger Zeit als neuer Keynes gefeiert. Eine ersthafte Auseinandersetzung mit Keynes sucht man in Krugmans neuester Arbeit jedoch vergeblich. Dafür eine klare Position hinsichtlich der einen oder anderen Form von Kapitalismuskritik:

“Freilich gibt es noch immer einige radikale Linke, die dickköpfig darauf beharren, wahrer Sozialismus sei doch noch nirgendwo ausprobiert worden. Und da sind ferner die gemäßigten Linken, die mit nachvollziehbareren Gründen behaupten, dass jemand, der den Marxismus-Leninismus ablehnt, deswegen nicht gleich ins Lager von Milton Friedman wechseln müsse. Dies ändert aber nichts daran, dass die Sache der Kapitalismusgegner inzwischen ihrer Seele beraubt ist.” (Die neue Weltwirtschaftskrise 2009, Seite 23; i.O. 2008 unter The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008 erschienen)

Alle Macht geht vom Volke aus. Nur wo geht sie hin? Rummelplatz von Werner Bräunig

Einfach ein gutes Buch. Werner Bräunig zeigt in Rummelplatz aus der Sicht von Kommunisten und ArbeiterInnen, Funktionären und westlichen Journalisten die junge DDR zwischen 1949 und 1953. Er zeigt einen biederen und stalinistisch imprägnierten Staat, der für sich beanspruchte, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ein neues Kapitel für die Menschheit aufgeschlagen zu haben. Aber wie Stefan Heyms “Die Architekten” zeigt er das Fundament einer Gesellschaft, das Schriftsteller wie Bräunig nicht aushalten konnte und einen Staat, der ihn als Schriftsteller nicht wollte. Folgerichtig endet der Roman am 17. Juni 1953, dem Tag, an dem Brecht zynisch den Vorschlag formulierte, die Regierung solle sich doch ein neues Volk wählen. Die andere Seite der Medaille formuliert der Arbeiter und Kommunist Fischer in Bräunigs Roman: “[w]enn Massen von Arbeitern die Partei nicht mehr verstehen, dann können daran doch nicht die Arbeiter schuld sein.”

Aber auch die kulturelle Enge ist in “Rummelplatz” allgegenwärtig, wenn der Arbeiter Peter Loose als subversives Element in den Knast muss – weil er laut Volkspolizei während einem Konzert die Ruhe und Ordnung des Sozialismus durch Rowdytum und Tanzen gefährdet hätte. In dieser Verfolgung des kulturellen Lebens hört man bereits die Biederkeit Erich Honeckers: “Unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte.” Und die DDR-Realität wird schlimmer als der beste Witz, den man sich in Bräunigs Roman erzählt: “Sag mal, Zacharias, weiß du, was der Unterschied ist zwischen dem Klassenfeind und den Bürokraten? Na, der Klassenfeind macht uns Schwierigkeiten, die Bürokraten leiten sie weiter. Oder weißt du, was ein Dogmatiker ist? Das ist einer, der sich in den Schriften auskennt und das Leben nur anerkennt, wenn es mit den Schriften übereinstimmt. Oder der Unterschied zwischen einem Kleinbürger und einem Sektierer? Also da ist keiner. Die wollen beide unter sich bleiben…”

Blau machen. Ein Zwischenresümee zu Klassenpolitik und Sozialstaatskritik

Die Gruppe Blauer Montag aus Hamburg hat wie kaum ein anderer politischer Zusammenhang die Debatte um Möglichkeiten radikaler sozialpolitischer Intervention geprägt – seit über 15 Jahren auf hohem Niveau. Seit Anfang der 1990er hat sie eine Perspektive stark gemacht, die sie als Klassenpolitik bezeichnet. In einem Sammelband zieht sie nun Zwischenbilanz. Der Band ist weit mehr als ein paar gesammelte Aufsätze, nämlich eine politische Herausforderung, weiter die richtigen Fragen zu stellen und Antworten dort offen zu lassen, wo nach wie vor Ratlosigkeit herrscht. Continue reading “Blau machen. Ein Zwischenresümee zu Klassenpolitik und Sozialstaatskritik”

Was macht Ihre Scheißabstimmung über diese Kreditbürgschaft…?

Manchmal ist ja ein Roman besser als jedes Sachbuch. Auch erhellender. So auch in der gegenwärtigen Finanzkrise. Nicht nur »J.R.« von William Gaddis ist in diesen Tagen äußerst lesenswert. Obwohl bereits 1979 geschrieben, wurde es erst Ende der 1990er ins Deutsche übertragen. Das Buch ist ein grandioses Dialoggewirr entlang der Geschichte eine 11-Jährigen, der nach einem Schulausflug an die New Yorker Börse mit den Aktien seines Musiklehrers zu spekulieren beginnt und ein Imperium an Briefkastenfirmen aufbaut. So manche Transaktion und Verhaltensweise, die gegenwärtig im Feuilleton gebrandmarkt wird, verleiht dem Roman gerade seine Dynamik – die Dynamik des Kapitals.

Aber auch ein anderes Buch liest sich mit viel Gewinn. Studs Terkels »Der große Krach«. Der gerade verstorbene Meister der Oral History hatte in den 1970er Jahren Menschen ihre Geschichte erzählen lassen, die die Weltfinanzkrise von 1929 miterlebten und auch überlebt haben. Denn viele sprangen damals aus dem Fenster. Natürlich nur Menschen der Hochfinanz, die nicht selten ihrer Familie zumindest die Auszahlungen aus der Lebensversicherung hinterlassen wollten. Aber Terkel wäre nicht Terkel, wenn nicht alle zu Wort kommen. Gerade auch die subalternen Klassen und wie sie damals mit den Folgen der Krise umgingen. Verzweifelt und mit Humor – aber meist sehr subversiv. Aber die Revolution blieb auch damals aus. Aber vieles kommt einem bekannt vor: Liberale interessieren sich plötzlich wieder für Marx; Börsianer treiben mit Leerverkäufen die Börse in die Krise, machen damit eine Menge Geld und landen dann vor lauter schlechtem Gewissen auf der – dem Handwerkszeug des damals recht neuen Berufszweigs – Psychocouch. Die Übersetzung des Titels des ansonsten großartigen Buches ist allerdings nur mäßig gelungen. »Hard Times« heißt es im Original und verweist auf Chaplins großartige Sozialkritik »Modern Times«.

Bücher zur Krise

Jede Finanz- und Wirtschaftskrise hat ihre Bücher, und mit jedem Buch verbindet sich die Hoffnung, für die Zukunft etwas lernen zu können. Angesichts der Tatsache, dass Spekulationskrisen seit der holländischen Tulpenkrise von 1634 immer den gleichen Verlauf genommen haben, erscheint diese Hoffnung gegenstandslos. Die gegenwärtige Finanzkrise hält seit über einem Jahr an. Die nach und nach veröffentlichten Bücher haben deshalb auch unterschiedliche Schwerpunkte. Vier dieser Publikationen werden im Folgenden in der Reihenfolge ihres Erscheinens vorgestellt. Continue reading “Bücher zur Krise”

Marx reloaded. Nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung wird Marx wieder entdeckt

Der tote Hund Marx wurde bereits vor Jahren wieder ausgebuddelt. Nachdem das Ende der Geschichte vorerst verschoben und Marx zugestanden wurde, bei der Deutung der kapitalistischen Globalisierung ein Wörtchen mitzureden, wurde aus der ersten Koketterie bei einigen auch tatsächliches Interesse. Marx wird wieder gelesen und diskutiert, auf die Bühnen gebracht und nicht nur in lesbarer Form gewürdigt. Am 14. März 2008 jährte sich sein Todestag zum 125. Mal; am 5. Mai wäre Marx 190 Jahre alt geworden. Ein Grund mehr, sich ein paar Neuerscheinungen genauer anzuschauen.

Vor allem das Interesse an Marx’ “Das Kapital” springt ins Auge. Ein anderer Schwerpunkt nahezu aller Publikationen ist es, Marx vor einer “Deformierung” (Wippermann, 78) zu retten. Es gilt, so der Zeitgeist, Marx vom Marxismus zu befreien. Wolfgang Wippermann verhandelt die Geschichte des Marxismus als die vier Leben des Karl Marx. Der “Wiedergänger” Marx begegne uns gegenwärtig zum vierten Mal, nachdem er zum einen selbst gelebt und politisch gewirkt hat, für die Sozialdemokratie und den sog. Marxismus-Leninismus zum Sinnstifter einer Weltanschauung wurde (zweites Leben) und demnach erst wieder kritisch ausgelegt werden musste (drittes Leben). Wippermanns Phaseneinteilung ist durchaus plausibel, wobei der Marx, den er vor dem Marxismus retten will, doch mehr als blass ist. Continue reading “Marx reloaded. Nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung wird Marx wieder entdeckt”

Logik mit mittelgroßen Löchern

Die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen der hegelschen Logik und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ist so alt wie Marx’ Schriften selbst. Erinnert sei hier nur an die immer wieder zu Missverständnissen führende Anmerkung im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals (MEW 23: 27), Engels Versuche einer materialistischen (Real-)Dialektik im Anti-Dühring oder in der Dialektik der Natur sowie Lenins Anmerkungen in den “genialen” (Važjulin) Philosophischen Heften, dass das Kapital deshalb nicht verstanden werde, weil sich kaum eineR Hegels Logik angeeignet habe. Oder auch Lukács Anmerkungen in Geschichte und Klassenbewusstsein, dass im Kapital “eine ganze Reihe der stets angewendeten entscheidenden Kategorien der Methode direkt aus der Logik Hegels stammt”. Mit der zweiten großen Welle der Kapital-Lektüre, also um 1968, wurde erneut das Verhältnis der beiden Denker diskutiert. Vor allem in Frankfurt am Main, wo die bei Adorno und Horkheimer Studierenden mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung die Möglichkeit hatten, in der gut sortierten Institutsbibliothek die Erstauflage der Kapitals von 1867 zu studieren. In dieser Textversion ist die Wertformanalyse anders konzipiert als in der überarbeiteten Zweitausgabe von 1872 und allen weiteren Textfassungen. So behauptete Helmut Reichelt, Student in Frankfurt, in seiner Dissertation, die 1970 für diesen Zyklus der Kapital-Lektüre sowohl den Höhepunkt wie den Abschluss bildete, dass die “strukturelle Gemeinsamkeit” zwischen Hegels Philosophie und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ein konstitutives Moment der Darstellungsweise im Kapital darstellt. Zu vergessen sind nicht die Arbeiten von Hans-Jürgen Krahl, die z.Z. neu erschlossen werden und neues Material zu dieser Frage aus der Zeit um 1968 zu Tage fördern werden.

Mit der dritten Welle der Kapital-Lektüre, die gerade erst begonnen hat, findet die Auseinandersetzung zum Verhältnis von Hegel und Marx eine Renaissance. So hat z.B. vor wenigen Jahren Chris Arthur für den angelsächsischen Sprachraum ein stark an hegelianische Argumentationsfiguren angelehnte Interpretation von Marx Arbeiten vorgelegt. Diese sehr selbstbezügliche Arbeit war deshalb möglich, weil es aufgrund einer mangelnden internationalen Debatte und fehlenden Übersetzungen in den letzten Jahrzehnten kaum Austausch gab. Fast könnte man meinen, die Tragödie einer stark an Hegel orientierte Interpretation findet so ihre Farce.

Aber nicht nur neue Interpretationen beginnen alte Fragen aufzuwerfen, sondern ebenso werden ältere Studien erneut aufgelegt. So zum Beispiel die oben bereits erwähnte Arbeit von Helmut Reichelt: “Die logische Struktur des Kapitalbegriffs”. Es werden aber auch Übersetzungen von Arbeiten angefertigt, die bereits seit vielen Jahren vorliegen. Das trifft auf die 1968 erstmals veröffentlichte Arbeit von Viktor A. Važjulin zu, die 2002 in Russland erneut aufgelegt wurde und nun aus dem Russischen übersetzt in deutscher Sprache vorliegt.

Nach vierzig Jahren sollte natürlich für eine Rezension einer solchen Publikation zunächst die Frage geklärt werden, welche Ansprüche an ein solches Buch gestellt werden können und was es leisten soll. Handelt es sich um einen systematischen Vergleich von Hegels Logik und der marxschen Darstellungsweise im Kapital, so müsste gezeigt werden, wie sich die jeweiligen Argumentationsstrukturen gleichen bzw. nicht und warum. Würde hingegen bereits vorausgesetzt, dass Marx im Kapital Hegels Logik zur Anwendung bringt, dann stellte sich die Frage, wie Marx dies genau macht, wo Grenzen sind und welche Erkenntniseffekte dies für das Verständnis des Kapitals mit sich bringt. Važjulins Buch gehört zu letzterer Kategorie von Publikation, wenn auch die alternative Fragestellung für eine Auseinandersetzung nicht irrelevant wird.

Im Vorwort wird das Buch von einem Herrn Golobokov als eine “wissenschaftliche Sensation” angekündigt, als ein Werk, das Probleme löst, über die “sich die marxistischen Philosophen der Sowjetunion schon einige Jahrzehnte lang den Kopf zerbrochen hatten” (7). Was genau die Probleme sind, bleibt allerdings unklar. Zu allem Überdruss sucht man auch nach Hinweisen auf eine kritische Historisierung vergebens. Dass im Zuge der Stalinisierung bedeutende Marx-Forscher (Isaak Iljitsch Rubin, David Rjazanov oder der Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis) ermordet wurden, wird verschwiegen, ihre namen kommen auch in Važjulins Text auch nicht vor, während vor genau dieser Leerstelle Theoretiker wie Važjulin als Genies scheinbar aus dem Nichts emporsteigen können. Für eine Neuauflage wäre eine (selbst)kritische Reflexion dessen was sich vor 1968 in der Marx-Forschung ereignet hat mehr als notwendig gewesen.

Wie auch immer dieser befremdliche Befund zu beurteilen und die Ambitionen des Autors politisch und historisch zu verorten sind, der Auseinandersetzung mit dem konkreten Textmaterial ist man dadurch nicht enthoben. Wie auch Die Frage nach der Logik des Kapitals von Marx müsste mit der Frage beginnen, was der eigentliche Gegenstand ist und es ist sicherlich nicht, wie Važjulin meint, der Forschungsgegenstand “Kapitalismus” (22), einen Begriff den Marx kaum kannte und noch seltener im Mund führte. Schon schwant es einem, er sähe hier den Autor mit dem linken Bein „aufstehen“. Der enttäuschende Eindruck wird im weiteren Verlauf des Buches erhärtet. Dabei ist der Anfang von Važjulins konkreter Analyse der Darstellung eigentlich recht ausgewogen. So plädiert für das Studium des Inhaltsverzeichnisses als dem ersten Schritt (47) und pocht darauf, dass das Setzen der Ware zu Anfang der Darstellung weder unmittelbar plausibel ist (44), noch eine andere Ware als die bereits kapitalistisch produzierte Ware sein kann (49). Die Logik des Kapitals zu rekonstruieren, zudem mit Važjulins Überzeugung, Hegel habe bei der Darstellung Pate gestanden, macht zunächst einmal neugierigund natürlich setzt Važjulin Hegel und Marx nicht in eins. Eine Kritik an Hegel ist, dass dieser die “Herkunft der Kategorien” (23) nicht habe erklären können. Diese Kritik mündet dann jedoch in einen quasi-feuerbachschen Materialismus, der sich eigenartig mit der hegelschen Erkenntniskritik aus der Phänomenologie des Geistes verbindet: “Der Übergang von den Sinnen, von der lebendigen Anschauung zu Begriffen und Kategorien tritt hier nicht als wirkliche Voraussetzung und wirkliches Moment der Bewegung des Denkens zum Vorschein, sondern gänzlich durch die ‘Selbstentfaltung’ des Denkens gesetzter Schein.” (24, Herv.: IS; vgl. auch 43, 57ff., 92, 235). Die Fragwürdigkeit dieser Kritik wird verstärkt, wenn Važjulin sich darin versucht, die marxsche Darstellung der Kategorien zu begründen. Während bei Hegel diese sich aus sich selbst heraus entwickeln würden, würde das kategoriale Fortschreiten bei Marx dazu zwingen, “sich an diese oder jene Gegebenheit der lebendigen Anschauung zu wenden, an die Tatsachen, an die Praxis, an die gedankliche Verarbeitung dieser Tatschen in Einheit mit der betreffenden Prämisse, die gleichsam priori hingenommen wurde.” (59) Und weiter: Eine Prämisse, also z.B. die zu Anfang im Kapital gesetzte Ware, führe zu einer ganz bestimmten Auswahl an Tatsachen und zum anderen würden die Tatsachen “selbst ihren Zusammenhang auf[zeigen]” und den Übergang von einer Kategorie zur anderen “diktieren” (59). Dieses unklare Verhältnis zwischen idealer Reproduktion in Begriffen und ihrer Darstellung auf der einen und gesellschaftlicher Wirklichkeit auf der anderen Seite, zieht sich durch das ganze Buch. Und das obwohl Važjulin behauptet, Marx wäre der erste gewesen, der prinzipiell die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Wirklichkeit gestellt hätte (26). Das stimmt zwar so nicht, aber z.B. die zentralen Aussagen aus dem so genanten Methodenkapitel in den Grundrissen hätten durchaus geholfen, eine Interpretationsfolie für das Kapital plausibel zu machen. Die Folie von Važjulin hätte jedoch kaum begründen werden können, weil hier durchaus mehr und andere Unterschiede zwischen Hegel und Marx deutlich werden, als Važjulin lieb sind.

Aber auch welche Logik sich im Kapital ins Werk setzt bleibt rätselhaft. Nicht nur bleibt das Verhältnis von formaler bzw. das was Važjulin “klassische Logik” nennt ungeklärt, auch führt Važjulin das abgestandene Argument ins Feld, dass letztere keinen Prozess denken könne (144). Was schließlich eine “marxistische Logik” (154) sein soll, bleibt mehr als schleierhaft. Der zentrale Unterschied zwischen Hegel und Marx, auf den zumindest Važjulin immer wieder (29, 220, 195 u.ö.) aufmerksam macht ist der, dass es Marx um einen historisch spezifischen Gegenstand geht. Dieser kritische Anspruch ist bereits in Marx’ Elend der Philosophie eingeschrieben. Was ist jedoch die spezifische Form der Kritik im Kapital? Der Unterschied muss für Važjulin solange unklar bleiben, wie er nicht zwischen Forschung und Darstellung unterscheidet (25 u.ö.). Dass es Marx genau darum geht, mit der Darstellung der Kategorien eine Kritik derselben zu ermöglichen, muss für Važjulin verborgen bleiben. Die Kategorien der politischen Ökonomie stellen im Kapital einen verkehrten Ausdruck der wirklichen Verhältnisse dar, während Marx bis in die 1850er Jahre davon ausging, dass die Kategorien einen wirklichen Ausdruck verkehrter Verhältnisse darstellen. Aber wie denkt Važjulin selbst die Darstellung im Kapital?

“Im ersten Kapitel des ‘Kapitals’ rekonstruiert Marx die Gedankenbewegung vom Unmittelbaren zum Wesen (der Ware) nur in ihren hauptsächlichen Momenten (Qualität, Quantität, Maß). Er beschreibt nicht ausführlich den Weg, durch den die Forscher das Wesen im Unmittelbaren aufgefunden haben (im vorliegenden Fall den Wert der Ware), sondern breitet dagegen ausschließend in aller Ausführlichkeit die Gedankenbewegung vom Wesen zu den Erscheinungsformen und zur Wirklichkeit aus.” (68) In seiner konkreten Rekonstruktion stülpt Važjulin dann leider das hegelianische Vokabular der marxschen Darstellung einfach über, statt zu zeigen, was Marx eigentlich im Kapital macht. Das zeigt sich, wenn Važjulin die Methode als eine Bewegung in großen und kleinen Spiralen charakterisiert, wobei die drei Bände des Kapitals eine große Spiralbewegung darstellen sollen (41) und ein Abschnitt einer Windung bzw. einer kleine Spiralwindung entspricht (vgl. 172). Ungeklärt bleibt, warum die fortschreitende Spirale dann offenbar als theoretisch vernachlässigbar behandelt wird. Der zweite und dritte Band des Kapital kommen bei Važjulin vollkommen zu kurz. Der dritte Band nimmt gerade einmal drei Druckseiten ein. Gleichzeitig stellt Važjulin steile Thesen auf, so zum Beispiel, dass die Entstehung der Formen aus dem Gesamtprozesses des Kapitals, als das was Marx im dritten Band des Kapitals macht, der “Gedankenentwicklung” dem “Abschnitt A (‘Die Auslegung des Absoluten’) des Kapitels über das Absolute in der “Wissenschaft der Logik'” “entspricht” (sic!) (233). Auch hier gilt wie für das ganze Buch, dass Važjulin das alles behauptet, aber weder nachvollziehbar zeigt, noch richtig zu zeigen versucht.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass durch solche eine Interpretation die vermeintlich beantworteten Fragen im krassen Missverhältnis zu den offenen stehen. Wie sieht es gerade mit der Grenze der dialektischen Darstellung aus, von der Marx in der Grundrissen spricht? Genau an diesen Grenzen wäre zu klären, was Marx eben im Unterschied zu Hegel macht. Aber darauf geht Važjulin nicht ein. Zu nennen wäre hier nicht nur das 24. Kapitel über die so genannte ursprüngliche Akkumulation. Hier zeigt Marx die historische Entstehung des doppelt freien Lohnarbeiters. Ein Kapitel, das am Ende der systematischen Darstellung innerhalb des ersten Bandes steht und eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise einholt, die nicht aus der Logik der dialektischen Darstellung im Kapital selbst begründet werden kann.

Eine weitere Grenze der dialektischen Darstellung ist im Übergang von der allgemeinen, entfalteten Äquivalentform zur Geldform zu sehen. In der Erstauflage endet Marx mit einem Paradox: Es gibt auf der entwickelten Argumentationsebene des ersten Kapitels kein Kriterium dafür, welche Ware den Status des allgemeinen Äquivalents einnehmen soll. Somit schließen sich alle Waren gegenseitig aus. Die Lösung dieses Problems bedarf einer anderen Ebene der Argumentation, die Ebene der gesellschaftlichen Tat. Auf die geht Marx im zweiten Kapitel – dem Austauschprozess – ein. Gerade hinsichtlich einer möglicherweise hegelianischen Perspektive müsste dieser Bruch (und seine Erklärung) in der Darstellung für die Auseinandersetzung interessant sein. Für Važjulin ist dieser jedoch völlig irrelevant (114).

Ein weiterer problematischer Punkt ist, dass die zentrale Rolle des Geldes unklar bleibt, denn sonst würde bei Važjulins Analyse des dritten Kapitels nicht die Funktion des Geldes als Maß der Werte fehlen (161). Ohne Geld, das ist ja gerade die zentrale marxsche Kritik an Ricardo, können die Waren gar nicht als Werte aufeinander bezogen werden. Ist jedoch die Funktion des Geldes, Maß der Werte zu sein, nicht einmal erwähnenswert, bleibt die Frage, was eigentlich von der Analyse der Wertform tatsächlich verstanden wurde.

Ein Moment, das wahrscheinlich ohne die durch Hegel geschulte Sensibilität für das Problem des Anfangs unbeachtet geblieben wäre, ist die nur scheinbare Evidenz des Anfangs, bei welchem Marx die Ware als erste Kategorie setzt. Dieser Anfang sei alles andere als unmittelbar und selbsterklärend – vielmehr werde er von Marx einfach nur “postuliert” (44). Diese Setzung müsse Marx noch begründen. Leider kommt Važjulin im Fortgang seines Textes nicht auf dieses Problem zurück, noch thematisiert er die bei Marx vorliegende Form der progressiv-regressiven Darstellung, die durchaus auch bei Hegel zu finden ist (HW, Bd. 6, Logik, 570). Diese Form der sich im Laufe der Darstellung entwickelnden und zugleich rückwärts begründenden Argumentation ist leider in der Literatur bisher nicht genügend ausgeleuchtet worden – Važjulin beachtet sie überhaupt nicht, obwohl er dazu allen Grund dazu gehabt hätte, statt einfach auf nichts sagende Metaphern von großen und kleinen Spiralen zurück zu greifen.

Statt also zu unterstellen, Marx würde im Kapital die hegelsche Logik bereits anwenden, wäre eine Arbeit, die beide Darstellungsformen vergleicht für die gegenwärtige Diskussion hilfreicher gewesen. Weder für das Verständnis des Kapitals noch zur Klärung der vorhandenen Entwürfe einer “dialektischen Logik” kann Važjulins Darstellung etwas beitragen.

Ingo Stützle, Berlin

Važjulin, Viktor A. (1968): Die Logik des “Kapitals” von Karls Marx, Norderstedt 2006, 264 Seiten, 21 €

Erschienen in: Z., Nr. 72, Dezember 2007, 216-220.

Der Schriftsteller und der Anwalt. Peter O. Chotjewitz’ Roman über Klaus Croissant

30 Jahre nach dem Deutschen Herbst wundert man sich über gar nichts mehr. Die RAF ist im herrschenden Diskurs inzwischen eine Mischung aus museumsreifer Zeitgeschichte, soziologischem Phänomen mit dem Etikett “Terrorismus” und dem Bösen an sich. Die Würdigung des RAF-Anwalts Klaus Croissant und des politischen Kampfs in den 1960er und 1970er Jahren durch den Schriftsteller Peter O. Chotjewitz ist hierbei eine erfreuliche Ausnahme.
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Privatisierte Alterssicherung und soziale Konflikte. Ein neues Buch zu Finanzkapital und europäischer Ökonomie

Inzwischen kommen ungefähr 70 bis 80 Prozent aller Gesetze, die im Bundestag beschlossen werden, aus Brüssel. Die EU ist also tagtäglich im politischen Alltag präsent. Mit dieser Organisierung von Sachzwängen wurden der Handlungsspielraum linker Kräfte und der subalternen Klassen in den letzten Jahren verstärkt eingeschränkt. Von der Linken wurde das bisher nie richtig ernst genommen. Das neue Buch von Martin Beckmann zeigt anhand der Veränderung der Alterssicherung die Wechselwirkungen zwischen neuen suprastaatlichen Regulierungsweisen und sozialen Konflikten. Continue reading “Privatisierte Alterssicherung und soziale Konflikte. Ein neues Buch zu Finanzkapital und europäischer Ökonomie”

Aufgeblättert: »Das Weltkapital« von Robert Kurz

Im Anschluss an Marx’ Bücherplan zum Aufbau einer Kritik der politischen Ökonomie ist es sicherlich eine sinnvolle Aufgabe, sich dem Weltmarkt als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie zu widmen (35). Ausgehend von den ›Globalisierungskritikern‹ nähert Verf. sich dem Kapitalismus als Weltsystem (42 ff), streift die Imperialismustheorie (78 f) und setzt sich intensiv mit ›Globalisierungsleugnern und Verdrängungskünstlern‹ (187) auseinander. Die Kritik läuft nach bekanntem Muster: ›Alle sind konservativ geworden, so wie in anderer Weise (…) alle neoliberal geworden sind.‹ (370) ›Linke Gesellschaftskritik‹ bewegt sich immer noch im ›Gehäuse kapitalistischer Kategorien‹ (19) und linke Theoriegeschichte ist weiterhin nicht aufgearbeitet (326). Verf. arbeitet sich allerdings an schwachen Gegnern ab, andere werden kaum einmal in einem Nebensatz gewürdigt (Wallerstein, Altvater).

Die neue Qualität des Kapitalismus sieht Verf. im veränderten Charakter des Finanzkapitals, welches die Globalisierung vorantreibt – für ihn ist letztere nur ein ›eskalierter Krisenprozess‹ (59). Dem Finanzkapital komme die konstitutive Funktion bei der Simulation eines funktionierenden Systems zu, ohne die es bereits zum Zusammenbruch des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gekommen wäre (220). Aus der zunehmenden Entkopplung des Geldes von seiner Substanz Arbeit (119) folge eine ›Virtualität‹ der Kreditverhältnisse. Das Geld sei zu einer juristischen Konstruktion verkommen (122 f), während Arbeit ihre Bedeutung verliere. Unklar bleibt allerdings, wie Verf. ständig von überflüssiger Arbeit und der abnehmenden Relevanz der Arbeitskosten sprechen kann und gleichzeitig die Verlagerung von Arbeitsplätzen als zentrales Moment der Globalisierung konstatiert, was doch nur vor dem Hintergrund besserer Ausbeutungsbedingungen sinnvoll ist (94, 133, 168 f).

Weiter widmet er sich den Tücken der verkürzten Kapitalismuskritik (299 ff), vor allem dem ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff) und den Illusionen gegenüber dem Staat (366 ff). Der ›objektive Verblendungszusammenhang‹, den der Kapitalismus für alle ›immanenten Akteure‹ hervorbringe, führe in der Krise dazu, dass die ›innere systemische Logik‹ auf den Kopf gestellt werde (299): Die innere Schranke der Verwertung erscheine als Zirkulationsphänomen, was Teile der Linken, allen voran die Linkspartei, mit nationalem Keynesianismus beantworteten, der die Ursache der Krise in einem nicht mehr an den Nationalstaat gebundenen Finanzkapital sehe (u.a. 320). Pauschalisierend sieht Verf. diese Politik vor dem Hintergrund schwindender Arbeit in Forderungen nach einem starken Staat, Arbeitszwang und dem Schutz der deutschen Arbeiter umschlagen. Dabei seien diese Programme gesellschaftlichen Formen geschuldet, die einen ›strukturellen Nationalismus‹ (380) ebenso hervorbrächten wie einen ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff). – Verf. bewegt sich dabei allerdings auf unterschiedlichen Kritikebenen. Bestimmten theoretischen Vorstellungen meint er einfach mit der Empirie, der Wirklichkeit (64) oder der realen Historie (67) beikommen zu können, statt die von ihm eingeklagte kategoriale Kritik wirklich durchzuführen. So konstatiert er beim Theorem der komparativen Kostenvorteile im Anschluss an Ricardo nur dessen Blamage gegenüber der Wirklichkeit (64), kritisiert also bloß, dass Ricardo den kapitalistischen Formbestimmungen aufsitze. Auch mit seinem Kronzeugen Marx geht Verf. wenig sorgsam um. Aus den ›ökonomischen‹ Bewegungsgesetzen – wie Marx im Vorwort des Kapitals seinen Gegenstand skizziert – werden ›gesellschaftliche‹ (20), was einen Unterschied ums Ganze macht, der von Engels geprägte Begriff des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ wird Marx zugeschrieben (39) usw.

Gegenüber den ›Globalisierungsleugnern‹ besteht Verf. auf der neuen Qualität, die das Weltkapital mit sich bringe: ›Wenn die Veränderung im Verhältnis des Exportvolumens und der Direktinvestitionen von 6 auf mehr als 50 Prozent keine qualitative sein soll, dann gibt es (…) offenbar überhaupt keinen Umschlag von Quantität in Qualität mehr.‹ (171) – So wie hier das engelssche Argument bloß oberflächlich aufgesetzt wirkt, greift Verf. des öfteren auf suggestive Begriffe zurück und ersetzt Argumente durch eine Rhetorik des angeblich ›glasklaren‹ oder ›eindeutigen‹ Charakters eines Sachverhalts, während das Gegenteil statt widerlegt bloß als lächerlich abgetan wird (171 ff, 194 ff, 365 ff).

Kurz, Robert, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Edition Tiamat, Berlin 2005 (479 S., br., 18 Euro)

Erschienen in: DAS ARGUMENT 265/2006

Die Freiheit ist immer die Freiheit der Eigentumsordnung. Ein neues Buch bringt Licht in die Auseinandersetzungen um geistiges Eigentum

Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm soll der Schutz von geistigem Eigentum Thema sein. Das bundesrepublikanische Gesetzgebungsverfahren ist zurzeit damit beschäftigt, die unterschiedlichsten Interessen bei der Novellierung des neuen Urheberrechts unter einen Hut zu bekommen. Unser einer wird jedes Mal in den Tiefen des Kinosessels aufgefordert, das Privateigentum zu respektieren – RaubkopiererInnen sind VerbrecherInnen. Sabine Nuss hat sich zur Aufgabe gemacht, den Auseinandersetzungen um das geistige Eigentum auf den Grund zu gehen.
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Buchbesprechung: Unendliche Knappheit

Schützen Copyrights arme KünstlerInnen? Oder behindern sie den freien Meinungsaustausch? Das Problem liegt tiefer, sagt Sabine Nuss.
In der simulierten Internetwelt «Second Life» gibt es eigentlich keine Knappheit. Eigentlich, denn im virtuellen Raum wird alles programmiert – Land, Gegenstände und Personen. Nachdem jedoch ProgrammiererInnen es möglich gemacht hatten, «copy and paste» anzuwenden, also virtuelle Objekte zu «kopieren» und an anderer Stelle wieder einzusetzen, war der Aufschrei gross. Fantasie müsse auch ihre Grenzen haben, so der einhellige Tenor. Eigentlich ein Phänomen, das bereits in anderer Form bekannt ist. Schliesslich werden wir zurzeit an jeder Ecke auf Plakatwänden aufgefordert, das Urheberrecht zu respektieren – RaubkopiererInnen sind VerbrecherInnen.
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