Ist der Kapitalismus in einer Formkrise?

Vergleiche werden gern gezogen. Sie können Einschätzungen erleichtern – aber auch den Blick verstellen. Auch die Finanzkrise wird gegenwärtig gern mit 1929 verglichen. Weniger mit der letzten großen Krise ab Mitte der 1970er Jahre. Es sei mal dahingestellt, welcher Vergleich eher trägt und was derartige Vergleiche bringen. Setzten wir einmal voraus, wofür vieles spricht, dass wir es in jedem Fall mit einer Krise von ähnlichem Ausmaß zu tun haben. Welche Konsequenzen hat dies für die gesellschaftliche Verarbeitung der Krise? Hier kann Elmar Altvaters Unterscheidung von großer und kleiner Krise weiterhelfen (1). Continue reading “Ist der Kapitalismus in einer Formkrise?”

Staatsverschuldung als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie. Eine Forschungsnotiz. Von Ingo Stützle

Eines der gängigen Ressentiments gegenüber alternativer Wirtschaftspolitik ist die spöttische Frage nach deren Finanzierbarkeit. Darauf wird zumeist erwidert, dass dieses Problem auch eine Verteilungsdimension besitze. Die Entgegnung ist sicherlich richtig, doch sollte nicht aus dem Blick geraten, in welcher vorherrschenden Form Reichtum produziert wird und was die öffentlichen Finanzen als spezifische Form kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt ausmacht. Warum nimmt das ‚ökonomische Dasein’ (Marx) des Staates die Form des Steuerstaates an? Welche Reproduktionsbedingungen bringt diese Form für das Kapitalverhältnis mit sich? – Diese und ähnliche Fragen werden und wurden in den Debatten im Anschluss an Marxens Werttheorie kaum gestellt. [1] Die Staatsfinanzen auch als Gegenstand der marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen, wird vielmehr zumeist pragmatischen Imperativen untergeordnet. Dabei waren die Staatsfinanzen für Marx ein durchaus relevantes Feld theoretischer Reflexion – gerade um zu verstehen, welchen ökonomischen Bedingungen staatliche Politik überhaupt unterliegt.

Mit Marxens Ökonomiekritik lassen sich – durchaus relevante – Aussagen über Grenzen und Möglichkeiten wirtschaftspolitischer Maßnahmen formulieren. Wer sich nicht allein mit dieser Form der Kritik begnügen möchte, sondern – wie es so schön heißt – ‚gestaltend’ im Rahmen alternativer Wirtschaftspolitik die konkreten Bedingungen der kapitalistischer Produktion verändern und beeinflussen möchte, landet meist bei keynesianischen wirtschaftspolitischen Konzeptionen. [2] Das ist kein Zufall. Marx hat schließlich alles andere als eine politische Ökonomie des Sozialismus geschrieben. Leider wird aber nur selten die Kluft zwischen der im besten Sinne allgemeinen – und damit grundlegenden – marxschen Ökonomiekritik und konkreten, meist an Keynes anknüpfenden wirtschaftspolitischen Überlegungen geschlossen. Alternative wirtschaftspolitische Konzeptionen bleiben damit zumeist blind für die Grenzen und Bedingungen ihrer Strategien. Die grundlegenden Voraussetzungen politischer Auseinandersetzungen werden kaum mehr unter Rückgriff auf marxsche Erkenntnisse untersucht, sondern als gegeben im Rahmen des keynesianischen Paradigmas verhandelt (hierzu Herr 2001). Der Ökonomiekritik wird damit nicht nur die radikale Spitze genommen, sondern die ProtagonistInnen sind sich der Grenzen und Bedingungen ihres politischen Handelns und ihrer Strategie nicht mehr bewusst und produzieren somit selbst Hindernisse für eine emanzipatorische und aufklärerische Politik.

Das liegt sicherlich nicht nur am grundlegenden Charakter der marxschen Kritik, sondern auch am Umfang ihrer kategorialen Darstellung. Marx beendete bis zu seinem Tod nur den ersten Band des Kapital, legte aber sein Projekt auf mehrere Bücher an, das trotz mehrerer konzeptioneller Änderungen auch weitere ökonomische und politische Kategorien in die Analyse mit aufnehmen sollte – so den Staat oder auch den Weltmarkt. Im Folgenden soll nun auf die Staatsverschuldung eingegangen werden. Ich möchte dabei nicht aktuelle finanzpolitische Phänomene diskutieren, sondern ‚Staatsverschuldung’ als theoretischen Begriff, als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie. Gezeigt werden soll der spezifische Charakter der Staatsverschuldung und welche Bedingungen diese für die gesellschaftliche Reproduktion und somit für politische Handlungsfähigkeit unter kapitalistischen Vorzeichen etabliert.

Marxens Kritik der Staatsfinanzen

Staatsverschuldung und Staatsfinanzen thematisiert Marx in dreierlei Hinsicht: Erstens verhandelt er sie im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeiten in den 1850er Jahren für die New York Tribune (Krätke 2006, 87ff.). Auch wenn diese Arbeit von eifriger Lesetätigkeit und dem Erstellen von Exzerpten zu geld- und finanzpolitischen Fragen begleitet war (Jahn/Noske 1983; Schrader 1980), so ist es doch unmöglich, daraus eine Theorie der Staatsfinanzen zu destillieren. Oft beschwert sich Marx über das zeitraubende und langweilende „beständige Zeitungsschmieren“ (Brief an Adolph Cluß vom 15.09.1853; MEW 28, 592). Trotzdem war diese Arbeit eine wichtige Form der Selbstverständigung. Marx lernte viel, nicht zuletzt von seinem Freund Friedrich Engels, den er immer wieder um Erklärungen zu wirtschaftlichen Zusammenhängen bat. Zudem sammelte er statistisches Material, das er auch bei der Ausarbeitung des Kapital verwenden und das seine Ökonomiekritik zu einer Sozialwissenschaft machen sollte (Krätke 1996). Zweitens befasst sich Marx im Kapital in Form von Anmerkungen zur historischen Relevanz der ‚Staatsschuld’ im Kapitel zur sog. ursprünglichen Akkumulation. Ähnliche – eher verstreute – Auseinandersetzungen finden sich in den Exzerpten der 1850er Jahre (MEGA² IV.7 bis MEGA² IV.11; noch nicht alle erschienen). Drittens verhandelt Marx Staatsschuldpapiere im fünften Abschnitt des dritten Kapital-Bandes als Form des fiktiven Kapitals. Auf die letzten beiden Punkte soll im Folgenden ausführlicher eingegangen werden.

Die Staatsverschuldung als Moment der ursprünglichen Akkumulation
Die Debatte um den Stellenwert historischer Passagen im Kapital ist inzwischen ein Klassiker innerhalb der Kapital-Diskussion. Meist wird sie wenig konstruktiv und mit viel Polemik geführt. Jedenfalls ist es außerordentlich hilfreich, bei der Frage nach der Staatsverschuldung Marxens Ausführungen im Kapitel über die sog. ursprüngliche Akkumulation zur Kenntnis zu nehmen. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist Gegenstand des 24. Kapitels im ersten Band des Kapital. Hier begründet Marx eine zentrale historische Voraussetzung für die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die er in der Darstellung bis zu diesem Kapitel voraussetzt: Die Existenz des „doppelt freien Lohnarbeiters“ (MEW 23, 742) und damit die Existenz der Ware Arbeitskraft auf dem Markt (dazu auch Wolf 2006, 164ff.).

Marx zählt jedoch zur sog. ursprünglichen Akkumulation weitere Momente hinzu: das Kolonialsystem, den Protektionismus und die Handelskriege, das moderne Steuersystem sowie das Staatsschuldensystem. Alle diese Momente sind unmittelbar mit der ‚Staatsmacht’ verbunden – der „konzentrierten und organisierten Gewalt der Gesellschaft“ (MEW 23, 779). Hier tritt die Gewalt als „ökonomische Potenz“ (ebd.) auf den Plan. Neben der Freisetzung des doppelt freien Lohnarbeiters geht es vor allem darum, die Menschen per Zwang in die sich etablierende Warenwirtschaft und vor allem in den Verwertungsprozess zu integrieren. Die Staatsfinanzen spielen hierbei eine zentrale Rolle: Verordnete Steuern zwingen Menschen, die ursprünglich in Subsistenzverhältnissen leben und eigentlich keinen Grund und kein Interesse am Tausch bzw. an der Warenproduktion haben, Überschüsse zu produzieren und zu veräußern, Hab und Gut zu verkaufen oder intensiver zu arbeiten. [3] Aus der ‚Möglichkeit’ – um es mit Ellen Meiksins Wood (1999) auszudrücken – an Markt und Tausch teilzunehmen, wird ein ‚Imperativ’, der staatlich organisiert ist.
Der Staatsverschuldung wird im Kapital jedoch erst ab der französischen Auflage eine zentrale Bedeutung zugesprochen. [4] Marx stellt für die Übersetzung die Textpassage zur Staatsverschuldung nicht nur um und überarbeitet sie geringfügig. Vielmehr erweitert er sie und folgende Punkte werden nun erstmals im Text diskutiert:

  • Staatsschuldpapiere werden als gehandeltes Spekulationsobjekt eingeführt – ohne dass Marx den Begriff des fiktiven Kapitals nennt. Diesen führt Marx systematisch erst im dritten Band ein.
  • Weiter geht Marx auf die Entstehung des „selbst fabrizierten Kreditgeldes“ (MEW 23, 783) durch die Bank von England ein, also dem Umstand, dass die von ihnen ausgestellten Banknoten, Anweisungen auf eigentliches Geld (Gold), gleichzeitig als tatsächliches Geld zirkulierten. Er registriert also durchaus die Besonderheit dieser Bank, die „außergewöhnliche Position“ (MEW 9, 310) innerhalb des englischen und Welthandels, ist sich aber nicht bewusst, dass hier der Kern des modernen zweistufigen Bankensystems gelegt wird (Dickson 1967, 408; Hunt/O’Brien 1999). Auf der einen Seite bezeichnet er sie als „Mischmasch zwischen Nationalbank und Privatbank“ (MEGA² II.4.2, 474; MEW 25, 417), nimmt aber nicht die ersten Ansätze der bereits existierenden Offenmarktpolitik zur Kenntnis. [5] Walter Bagehot ist der erste, der eine „Theorie einer zentralen Bank, einer Bank, die glaubt oder vorgibt, ausschließlich eine Depositenbank zu sein“ (Rist 1938, 380) entwickelt. Sein Hauptwerk Lombard Street: A Description of the Money Market (1873) hätte Marx kennen können, aber an keiner Stelle im marxschen Werk wird Bagehot erwähnt. Zentral für die Auseinandersetzung ist dieser Punkt, weil die Bank von England nicht nur in einer schweren Finanzkrise des englischen Königs gegründet wurde und zur Hausbank der Regierung wurde und sich in wenigen Jahrzehnten zur Zentralbank entwickelte (Clapham 1970; Dickson 1967, 54ff., 408; Giuseppi 1966). Für Marx ist die Schaffung eines Geldmarktes gleichbedeutend mit der Brechung des Geldmonopols und damit des Wuchers (MEW 25, 617; MEGA² II.4.2, 655). Das Geldkapital kann damit dem industriellen Kapital untergeordnet werden und der Staat von privaten Finanziers unabhängig werden.
  • Für Marx ist weiter das mit der ‚Staatsverschuldung’ entstehende internationale Kreditsystem von zentraler Bedeutung. Marx thematisiert aus einer historischen Perspektive, ähnlich wie die Weltsystemtheorie, wie sich die hegemonialen Handelszentren Kredit gewähren: Venezianischer Kredit bildete den Kapitalreichtum in Holland, der wiederum später, Anfang des 18. Jahrhunderts, die Entwicklung in England finanzierte. Ein ähnliches Verhältnis sei zwischen England und den USA zu konstatieren (MEW 23, 783f.). Ohne die chronischen Finanzkrisen der souveränen Herrscher und das damit entstehende Finanzsystem, so Marx, hätte es keine Finanzarchitektur und Infrastruktur gegeben, die diesen Geldtransfer zwischen den kommerziellen Zentren ermöglicht. Wobei Marx durchaus klar war, dass eine verstärkte Kommodifizierung, wofür die italienischen Handelsstädte sowie die wirtschaftliche Entwicklung in einigen holländischen Städten standen, für sich genommen unzureichend ist, „um den Übergang einer Produktionsweise in die andere zu vermitteln und zu erklären“ (MEW 25, 339; MEGA² II.4.2, 398).
  • Als letzten Punkt führt Marx im Kapitel über sog. ursprüngliche Akkumulation den Zusammenhang zwischen der modernen Fiskalität und der Staatsverschuldung an (MEW 23, 784): Das Steuersystem sei eine notwendige Ergänzung der ‚Staatseinnahmen’ und dem Fiskalsystem, d.h. der spezifisch ‚staatlichen’ Organisation der Finanzen, würde die ‚Staatsschuld’ entsprechen. Marx behauptet somit eine systematische Abhängigkeit zwischen diesen beiden Formen der ‚Staatsfinanzen’, ohne näher darauf einzugehen.

Was jedoch bedeutet die Überarbeitung dieser Passage? Zum einen sind verstärkte Verweise auf Thematiken des dritten Bandes festzustellen und ebenso auf Teile, die zwar geplant, aber wohl nie von Marx selbst zu Papier gebracht worden wären. Es ist also der These von Michael Krätke (2001b; 2002) zuzustimmen, dass Marx mit den Überarbeitungen des ersten Bandes zunehmend Themen verhandelt, die weder systematisch, noch kategorial im ersten Band des Kapitals ihren Platz haben. Grund ist sicherlich seine berechtigte Befürchtung, dass er sich nicht mehr im Rahmen weiterer Bände seines Projekts ausführlich damit beschäftigen kann. Folge ist, dass Marx erst später zu diskutierende Problematiken in die Darstellung des ersten Bandes hinein nimmt. Marx sprengte somit an einigen Stellen die Darstellungs- und Abstraktionsebene des ersten Bandes, um für ihn wichtige Themen zu verhandeln (u.a. nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne und Modifizierung des Wertgesetzes aus dem Weltmarkt, Weltmarkttendenzen und Staatsschuld). [6]

Diese erweiterte Darstellung der ‚Staatsschuld’ geht auch auf Kosten einer stringenten Argumentation. Marx müsste streng genommen in der Passage des 24. Kapitels die Relevanz der ‚Staatsschuld’ bei der Herausbildung des Kapitalismus darstellen; er schneidet aber mit der Überarbeitung an der falschen Stelle der Darstellung durchaus relevante Punkte an, ohne sie genauer auszuführen. Im Anschluss an die Debatten des political marxism, die Robert Brenner in den 1970er Jahren angestoßen hat, muss jedoch zwischen der historischen Rolle der ‚Staatsverschuldung’ bei der Herausbildung des Kapitalismus und deren Funktion im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise, dem Gegenstand von Marxens Untersuchung im Kapital, unterschieden werden. Von der spezifischen Relevanz, die die ‚Staatsschuld’ historisch gespielt hat, kann nicht einfach auf ihre Funktion innerhalb des Kapitalismus geschlossen werden. Es ist hier nicht möglich, die immer wieder geführte Debatte über die Entstehung des Kapitalismus darzustellen (u.a. Aston/Philpin 1985; Kriedte 1980; Sweezy u.a. 1984; Wood 1999). Dennoch lässt sich anhand von zwei Punkten deutlich machen, dass die vorkapitalistische ‚Staatsschuld’ eine signifikant andere Rolle spielt als die kapitalistische.

Verschuldung als persönlicher Besitz

‚Staatsverschuldung’ war in vorbürgerlichen Gesellschaften im strengen Sinne keine öffentliche Schuld – wie überhaupt im strengen Sinn auch weder von ‚Staat’, noch von ‚Staatsschuld’ gesprochen werden kann. [7] Die Schuldner waren Personen als Souveräne – nicht die ‚subjektlose Gewalt’ (Gerstenberger) des bürgerlichen Staates, wie er sich dann später formierte. Der Souverän war der König, der zugleich Besitzer des feudal oder absolutistisch organisierten Herrschaftsgebietes war. Vor dem Hintergrund der fehlenden Trennung zwischen öffentlicher Gewalt und privatem Eigentum verfügte der König über den ‚Staat’ als sein persönliches Eigentum in dem Sinne, dass er das legitime, d.h. von Gott gegebene und ausschließliche Recht hatte, Steuern zu erheben und Gesetze zu erlassen (Teschke 2003, 163). Entsprechend „erschien auch nicht der Staat, sondern der König als eigentlicher Schuldner. Es entstand also ein königlicher Personalkredit, und den König traf auch die Pflicht zur Rückzahlung.“ (Kaemmel 1966, 149; vgl. auch Landmann 1927, 490; für Frankreich Bonney 1981, 490; für Deutschland Ullmann 1983)

Das hat theoretische wie praktische Implikationen: Der Souverän hatte auch die Souveränität, die Schulden nicht zurück zu zahlen. [8] Die allgemeine Rechtsunsicherheit vorbürgerlicher Gesellschaften drückte sich somit auch in den Kreditverhältnissen aus. Die Schulden des Souveräns wurden nicht zurückgezahlt oder von Nachfolgern (eben gerade nicht Rechtsnachfolgern) nicht übernommen (Hoffmann 1994, 232f.; Parker 1996, 197). Die Folge war, dass die Finanziers Wucherzinsen verlangten, auf kurzfristige Laufzeiten drängten oder dingliche Sicherheiten verlangten (Verpfändungen, Münzhoheit etc.) (Landmann 1927, 482, 492ff.). Aber auch der ‚Staatsbankrott’ war eine Lösung. So meldete sich die kastilische Regierung zwischen 1557 und 1627 sechs Mal bankrott. Daneben gab es noch andere Praktiken: Zinszahlungen wurden eingestellt, gesenkt oder in andere Papiere konvertiert (Braudel 1979, 579).

In England wurden die Schulden bereits ab 1622 eine unpersönliche Schuld, nachdem das Parlament dem König die feudalen Rechte abkaufte. Staatsschuld war seitdem Schuld des Parlaments. 1694 gründet dieses die Bank von England. Tatsächlich bedeutete die Gründung, dass einige Gläubiger gegen neue Anleihen das Privileg erkauften, u.a. Hausbank der Regierung zu sein. Zu Anfang war die Bank von England, die später Zentralbank wurde, noch eine Privatbank, deren Zweck der Profit war. Staatsschuld wurde als handelbares Papier eine ganz spezifische Ware und damit ein Katalysator bei der Entwicklung der Finanzmärkte und des zweistufigen Bankensystems (Dickson 1967; Krätke 2002, 255, Fn. 58).

Der ‚persönliche’ Charakter der Schuld verweist auf einen weiteren Punkt: Weder Steuern, noch die ‚Staatsschuld’ waren eine normale Form der Einnahme. Diese waren vielmehr eine einmalige und besondere Form und den Einnahmen aus Monopolen, Landgütern (Domänen), den unterschiedlichsten Hoheitsrechten (Regalien) etc. nachgeordnet (Landmann 1927; Mann 1959, 112). Steuern waren außerordentliche Formen der Staatsfinanzen, wenn andere Formen der Einnahmen nicht ausreichten (Mann 1937, 38ff.). [9] Aus diesen Quellen wurden dann auch, wenn überhaupt, die Schulden finanziert. Die Gesellschaftsformation basierte noch nicht vorherrschend auf dem geldvermittelten Kapitalverhältnis und einem allgemein durchgesetzten Zwang zur Lohnarbeit. Steuern gab es deshalb in Naturalform oder in Form von abzuleistenden Diensten. Vor allem gab es keine zentralisierte Staatsgewalt und somit keine Form staatlicher Steuerpolitik im modernen Sinn. Die Steuerabgaben waren vielmehr „persönliche Angelegenheiten“ (Schumpeter 1918, 335) der lokalen Herrscher bzw. „eine Organisation privater Aneignung“ (Gerstenberger 1990, 352). Die politische Herrschaft des Ancien Régime hatte somit nicht die ökonomische Form des Steuerstaats. [10]

Verschuldung als Mittel zur Staatsgründung?

Auch wenn Verschuldungs- und Finanzkrisen den Aufbau einer Finanzbürokratie vorantrieben, so war Verschuldung nicht der Grund für Staatsgründungen und schon gar nicht deren Zweck, wie u.a. Landmann (1927, 483) behauptet. Gleiches gilt übrigens auch für die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Auch wenn die Entstehung des Kapitalismus durch enorme ‚Staatsverschuldung’ begleitet wurde und die damit entstehende Fiskalität in groben Zügen die Finanzarchitektur des modernen Staates beschreibt, ist sie nicht Mittel für dessen Durchsetzung – was auch Marx in einigen Äußerungen nahe legt.

Vielmehr waren seit Ausgang des Mittelalters Krieg und Kriegsfähigkeit Antrieb der Verschuldung (Brewer 1990; Krippendorff 1985, 250ff.; Landmann 1927, 482f.; Le Goff 1956, 60; Sombart 1913; Teschke 2003, 172ff.). [11] Krieg begleitete die Etablierung moderner Staatlichkeit und war zugleich eine Form nicht-kapitalistischer Aneignung. Die Funktionsweise des absolutistischen ‚Staates’ und der Herrschaft des Ancien Régime widersprachen den Formen kapitalistischer Ausbeutung und Entwicklung und stellten z.B. in Frankreich sogar eine Blockierung der Modernisierung dar (Teschke 2003, 145ff.). ‚Staatsverschuldung’ fiel jedoch nicht nur bei Kriegen an, sondern finanzierte vor allem Machtgewinn und Machterhalt, denn Herrschaft musste nicht nur ständig ausgeübt, sondern auch repräsentiert werden (Landmann 1927, 482ff.). Das galt vor allem für Frankreich (Comninel 1990, 198). Ziel des ‚Staates’ war schließlich nicht, den ‚Reichtum der Nationen’ (Smith) zu vermehren, sondern den des ‚Staates’, d.h. des Souveräns. Dieser entwickelte Techniken, seine Machtressourcen (Geld und Menschenmaterial) zu erweitern – ohne deshalb die kapitalistische Produktionsweise einzuführen. [12]

„Finanzkrisen waren im Ancien Régime endemisch“ (Gerstenberger 1990, 348) und dessen Funktionsweise basierte auf dem Vertrauen, dass die Finanziers die für sie selbst einträglichen Kredite gaben. Die ständigen Finanzschwierigkeiten wurden aufgrund der spezifischen Voraussetzungen in Frankreich und England – aber nicht nur hier (vgl. Bonney 1999) – sehr unterschiedlich gelöst. In Frankreich wurde durch Beteiligung der Stände an der zentralisierten Abpressung, durch Ämterverkauf mit dem Privileg der Steuerpacht eine Modernisierung der Finanzorganisation geradezu verhindert. [13] Die „zentralisierte Aneignung war durch die Konkurrenz von Klientelgruppen um den Zugriff auf Teile königlicher Fiskalgewalt strukturiert. War der Kampf vorübergehend stillgelegt, so hatte die Regierung keinen Kredit mehr und damit keine ausreichende Basis in den privilegierten und wohlhabenden Schichten der Bevölkerung. Die Kreditverweigerung war die Form, in der sich die ständisch und damit materiell dominanten Schichten im französischen Königreich Einfluss auf die Politik verschafften.“ (Gerstenberger 1990, 353, 479). Die Französische Revolution beschleunigte eine Veränderung der Organisation der Finanzen (340; Rosanvallon 1990, 18ff.). Aber erst 1814 bedeutete für die Staatsfinanzen ein Wendepunkt, denn erst seitdem musste die Regierung einen Haushaltsplan vorlegen, über den pauschal abgestimmt wurde. Während der ganzen Restaurationszeit (1814-1830) war der Kampf des Bürgertums für ein parlamentarisches Regime gleichbedeutend mit der Verbesserung des Procederes der Haushaltsberatung (Rosanvallon 1990, 27). Mehr und mehr Ministerien wurden der Beratung und Abstimmung durch das Parlament unterworfen. Obwohl bereits wenige Monate vor der Revolution die Käuflichkeit der höchsten Finanzämter abgeschafft und die Eigenständigkeit verschiedener Kassen beseitigt wurde, entstand erst nach und nach mit der Trennung von Verwaltung und Finanzgeschäft eine neue Form von Staatsfinanzen und Kreditgeschäft (Bosher 1970). [14]
England weist demgegenüber eine andere Entwicklung auf. Dort lösten sich ab dem 14. Jahrhundert die feudalen Organisationsformen auf. Die Macht des Adels entwickelte sich von Anfang an innerhalb der Strukturen verallgemeinerter königlicher Gewalt und war damit zugleich abhängig von der Praxis königlicher Herrschaft (Gerstenberger 1990, 65, 93). Das bedeutete, dass mit dem Fehlen fiskalischer Privilegien und der Verallgemeinerung der Interessen des Adels im ‚Parlament’ die Krone den Adel an der ‚Verwaltung’ ihrer lehensherrschaftlichen Aneignungsgewalt beteiligen musste. Das hatte als Resultat, dass es nicht möglich war, über längere Zeit eine Politik durchzusetzen, die den Herrschaftsinteressen des Adels widersprach. Gleichzeitig hatte die Pflicht des Adels an der königlichen Herrschaftspraxis mitzuwirken, neue „Formen und Praktiken einer Herrschaftsöffentlichkeit“ (Gerstenberger 1990, 489) zur Folge. Aufgrund dieser – von Frankreich unterschiedenen – Herrschaftskonstellation war nicht nur der Einfluss auf die Finanzpolitik größer, sondern diese wurde zudem zentral organisiert (Brewer 1990, 129). Begleitet wurde diese Entwicklung durch die frühe Entstehung einer politischen Öffentlichkeit, die sowohl das Steuersystem als gerecht, als auch die Organisation des Fiskus als durchsichtig erscheinen ließ – die Staatsfinanzen gehörten nicht zum Staatsgeheimnis. Dies ist einer der zentralen Unterschiede zwischen Frankreich und England. Während in Frankreich noch 1764 Abbé Morellet für seine Forderungen, die Staatsfinanzen auf Grundlage von Effizienzkriterien zu veröffentlichen, in der Bastille landete (Rosanvallon 1990, 22), waren die öffentlichen und parlamentarischen Diskussionen über die Staatsfinanzen in England durch eine nicht vergleichbare Transparenz geprägt (Brewer 1990, 130f.; Gerstenberger 1990, 489ff.).
Während in Frankreich die Kritik der Herrschaft in eine strukturelle Krise führte, stellte diese in England – auch im 19. Jahrhundert (Wirsching 1990) – ein Moment der Modernisierung dar. In Frankreich verband sich somit auf der einen Seite die Steuer als private Form der Aneignung mit den Interessen der privaten Finanziers. Erst nachdem letztere nicht mehr bereit waren, weiterhin die Schulden des Königs zu finanzieren und innerhalb der ‚herrschenden Klasse’ die Widersprüche so groß waren, das eine grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse auf der Tagesordnung stand, war es möglich, die Staatsfinanzen neu zu organisieren. In England hingegen wurde die Organisation der Staatsfinanzen, aber auch der Geldmärkte umgestaltet, um die Verschuldung und den außerordentlichen Finanzbedarf zu decken, die in Folge der ständigen Kriege und der Rolle Englands als koloniale und hegemoniale Weltmacht anfielen (Brewer 1990; Dickson 1967).

Die Herrscher des Ancien Régime hatten kein Interesse an der Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern vielmehr ein ‚Interesse an sich selbst’, d.h. an sich selbst als mächtigen und kriegsfähigen Akteuren, so dass selbst die Finanzkrisen und die Etablierung einer modernen Finanzverwaltung in England und Frankreich einen sehr unterschiedlichen Verlauf nahmen. Während die Financial Revolution in England den Handel auf Grundlage einer sich bereits umwälzenden Produktionsweise unterstützte, hatte die Finanzkrise in Frankreich vor dem Hintergrund der englischen Konkurrenz und den überkommenen Produktionsverhältnissen nicht mehr als den Zusammenbruch des Absolutismus als Resultat (Teschke 2003, 160ff.). [15] Die kapitalistische Produktionsweise setzte sich in Frankreich nicht schon mit der Französischen Revolution durch (Comninel 1990, 189, 203), sondern erst viel später, als Frankreich durch die englische Konkurrenz dazu gezwungen wurde. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die vorbürgerliche ‚Staatsschuld’ durchaus in historiographischer Hinsicht von Interesse ist, aber keine Auskunft über deren Relevanz und Funktion in einer Gesellschaft geben kann, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht.

Staatsschuldpapiere als fiktives Kapital

Neben den historischen Ausführungen verhandelt Marx Staatsschuldscheine im dritten Band des Kapitals als Form des fiktiven Kapitals (MEW 23, 483; MEGA² II.4.2, 521). Ihm geht es an diesen Stellen jedoch nicht primär um die Bewegung der Staatsschuldpapiere auf dem Finanzmarkt, sondern um die Form des fiktiven Kapitals als solche (Krätke 2001c, 92). Also stellt Marx sich auch hier nicht die Frage, was Staatsverschuldung ist. Vielmehr identifiziert er sie wie andere Papiere (u.a. Aktien und anderen Wertpapiere) als fiktives Kapital, ist also eher an der Form, in der die Staatsschuld vorliegt, interessiert und nicht daran, woher sie kommt und was sie als Staatsschuld, d.h. als Kredit des Staates ausmacht.
Die begriffliche Voraussetzung für das fiktive Kapital ist das zinstragende Kapital. Die im zweiten Band des Kapitals dargestellten Zirkulationsformen des Waren- und des Geldkapitals werden im dritten Band vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Arbeitsteilung von spezialisierten Kapitalfraktionen vollzogen. Marxens Unterstellung bis zum zweiten Band, dass ein individuelles Kapital den Kreislauf vollständig vollzieht, wird also modifiziert. Ein individuelles Kapital kann z.B. nur noch die Bewegung G-G’ durchlaufen, ohne je die Form des produktiven Kapitals annehmen zu müssen. Gleichzeitig bekommt Geld eine neue Bestimmung: Es ist potenzielles Kapital, da es den Gebrauchswert besitzt, als Kapital zu fungieren, d.h. in produktives Kapital verwandelt zu werden, um aus vorgeschossenem Geld mehr Geld zu machen. Diese Möglichkeit des Geldes wird im Kredit warenförmig und das zinstragende Kapital damit zu einer Ware sui generis. [16] Der Zins ist der ‘Preis’ der Ware. Für das zinstragende Kapital ist jedoch nicht der Wert das bestimmende Moment, sondern die Verwertung, d.h. die zukünftigen Zinszahlungen. Die damit einhergehende Trennung von Profit in Unternehmergewinn und Zins bringt zugleich neue Gegensätze mit sich, nämlich die zwischen Vermögensbesitzern auf der einen und borgenden Unternehmern auf der anderen Seite. Während die ersteren an einer hohen Verwertung ihres Kapitals interessiert sind – einem hohen Zins –, ist der Zins für den fungierenden Kapitalisten Kostenfaktor, den es möglichst niedrig zu halten gilt. Dieser strukturelle Gegensatz verfestigt und artikuliert sich als interner Klassengegensatz, sobald die unterschiedlichen ‚funktionellen Formen’ (Marx) des Kapitals in seinem Zirkulationsprozess von spezifischen Kapitalfraktionen vollzogen werden.

Das zinstragende Kapital, so Marx, ist die „Mutter aller verrückten Formen“ (MEW 25, 482; MEGA² II.4.2, 522). Erst mit ihm kann sich die Vorstellung etablieren, dass allein eine gewisse Masse Geld bereits die Eigenschaft besitzt, sich zu verwerten. Damit ist das zinstragende Kapital auch die begriffliche Voraussetzung für das fiktive Kapital. Mit dem Zins kann sich die Vorstellung verallgemeinern, dass jede regelmäßige Geldzahlung Zinszahlung darstellt und jeder gezahlte Zins auf ein zu Grunde liegendes Kapital verweist (MEW 25, 482; MEGA² II.4.2, 520). Das fiktive Kapital unterscheidet Marx vom wirklichen, fungierenden Kapital, das die Gestalt von Geld und Ware annimmt. In Form des industriellen Kapitals muss es den Verwertungsprozess als Produktionsprozess durchlaufen. Das fiktive Kapital dagegen stellt nur einen Anspruch auf Teile der Verwertung dar. Der Anspruch wird durch den Kauf von Wertpapieren (z.B. Aktien oder Schuldverschreibungen) erworben. Das Kapital hat sich somit scheinbar verdoppelt: Es fungiert als tatsächliches Kapital und existiert zugleich als fiktives Kapital in Form von Finanztiteln. Diese können wiederum selbst zu Waren werden, deren Preisentwicklung unabhängig von der Bewegung des wirklichen Kapitals verläuft und sich auf potenzielle Verwertung in der Zukunft bezieht (MEW 25, 483; MEGA² II.4.2, 521). Der Unterschied zwischen Aktien und Staatspapieren ist, dass bei ersteren tatsächlich Produktionsmittel gekauft werden, wenn auch der Aktionär keinen Eigentumsanspruch auf diese hat, sondern nur auf einen Teil des Profits. Bei Staatspapieren hingegen wird das mobilisierte Geld durch den Staat unproduktiv ausgegeben. Der Anspruch der Verzinsung bezieht sich hier allein auf die Partizipation an zukünftigen Steuereinnahmen oder anderen Formen von Staatseinkünften. So ist es durchaus möglich, dass durch Umschuldung auszuzahlende Gläubiger mit neu mobilisiertem Kredit ausgezahlt werden. [17]

Als fiktives Kapital verhandelt Marx die Staatsverschuldung in Form von langfristigen und handelbaren Anleihen. Denn neben (kurzfristigen und langfristigen) Anleihen gibt es für die öffentliche Hand durchaus weitere Möglichkeiten der Verschuldung (Andel 1998, 406f.). [18] Kapital sind diese Ansprüche für die Besitzer nur noch in so weit, als dass diese die Scheine wieder verkaufen können (MEW 25, 464f., 817f.).

Exkurs: Anschlüsse an Keynes

Vor allem bei der Thematik des fiktiven Kapitals und des Kredits lassen sich Anschlüsse an die keynessche Theorie stichpunktartig formulieren. Im Gegensatz zur Neoklassik ist der Kredit bei Marx und Keynes zentral. Nicht das Sparen, sondern die Verfügung über Geld ist für Investitionen bzw. die Akkumulation das zentrale Moment. Dennoch ist das Geld nach Marx eben nicht einfach Vermögen wie bei Keynes, sondern dem Zwang der Verwertung unterworfen. Damit kann Keynes auch nicht denken, dass die Vermögenssicherung vom Verwertungszwang dominiert wird. Weil Keynes die zugrunde liegende Struktur, den Verwertungszwang, nicht in den Blick nimmt, löst er die Verbindung von Gegenwart und unsicherer Zukunft, die bei ihm über das Geld verknüpft sind, über die Psychologie der Akteure auf. Weil Keynes nicht erklären kann, warum die Akteure im Kapitalismus mit Unsicherheit geplagt sein müssen, bleibt sein Begriff der Liquiditätsprämie – die ökonomischen Kosten, nicht unmittelbar über Geld verfügen zu können (Keynes 1936, 186ff.) – mangelhaft begründet. [19]

Schließlich werden Zins und Unternehmensgewinn bei Marx nicht wie bei Keynes nur ideell verglichen, sondern beide werden aus der gleichen Profitmasse bezahlt. Der Widerspruch ist also nicht nur eine Entscheidungsfrage der Akteure bei der Vermögenssicherung, sondern ein materieller Widerspruch, der sich in Interessensgegensätzen zwischen Kapitalfraktionen ausdrückt. Marxens Ausführungen zu fiktivem Kapital und Schuldscheinen sind – in Abgrenzung zu Keynes – zwar durchaus hilfreich, besonders für die Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Weltmarkt, Währungssystem und Staatsanleihen; zur Frage, was Staatsschulden tatsächlich sind, tragen seine Ausführungen aber nur begrenzt bei. Dafür müssen weitere Begriffsanstrengungen unternommen werden.

Staatsverschuldung und die Systematik der Kritik der politischen Ökonomie

Der dritte Band des Kapital, in welchem Kredit, fiktives Kapital und Staatsschuldpapiere systematischer behandelt werden, ist Fragment geblieben. Die ihm zugrunde liegenden Manuskripte tragen den Charakter eines Forschungsprozesses, weniger den einer systematischen Darstellung der Kategorien und sind zwischen Sommer 1864 und Dezember 1865 entstanden, also vor den Manuskripten zum veröffentlichten ersten und den wesentlichen Manuskripten zum zweiten Band des Kapital. Marx ist hier oft erst dabei, sich den Stoff anzueignen und bleibt deshalb über weite Passagen deskriptiv. Und es ist ein weiteres Problem zu konstatieren: Die Staatsverschuldung bzw. der öffentliche Kredit setzen den Staat als Kategorie bereits voraus.

Marx thematisiert zwar Staatsanleihen im Rahmen des fiktiven Kapitals (s.o.), setzt aber die Kategorie ‚Staatsverschuldung’ – im Gegensatz zum zinstragenden Kapital – voraus. Der Aufbauplan in den Grundrissen berücksichtigt hingegen noch explizit die Staatsschuld bzw. den öffentlichen Kredit (MEGA² II.1.1, 43) und zwar durchaus im Sinne einer Formbestimmung, d.h. als Kategorie der politischen Ökonomie, die es zu begründen gilt. Nach der Darstellung der drei großen Klassen und deren Austauschverhältnissen kommt in Marxens Konzeption das private Kreditwesen. In einem neuen Buch schließlich soll die ‚Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats’ verhandelt werden und dessen Beziehung zu sich selbst. Weiter notiert Marx die Stichworte ‚unproduktive Klassen’ und ‚Steuern’. Im Anschluss an die Steuern erhalten Staatsschuld und öffentlicher Kredit ihren Platz in der Darstellung. Nach weiteren Mittelgliedern und Kategorien schließt der Plan mit dem sechsten Buch, mit Weltmarkt und Krise. Im Vorwort von Zur Kritik behält Marx diese grobe Struktur des sog. 6-Bücher-Plans bei (MEW 13, 7; MEGA² II.2.2, 99; vgl. auch den Brief an Engels vom 2. April 1858, MEW 29, 312), geht aber nicht mehr detaillierter auf die einzelnen Bücher ein, sondern konkretisiert die Gliederung des ersten Buches.

Für Marx ist klar, dass es sich bei allen diesen Punkten um theoretische Auseinandersetzungen und keine Realanalyse handelt. Es geht um die Bestimmung ökonomischer und politischer Begriffe – theoretischer Begriffe. Gleiches gilt für den öffentlichen Kredit. Diese Kategorie hat nach der Konzeption des 6-Bücher-Plans weitere und andere Bestimmungen als der Kredit, wie er im dritten Band des Kapital eingeführt wird. Unklar bleibt, welche Bestimmungen das sind. Außer den drei Büchern zum Kapital wurde keines der geplanten Bücher konkreter konzipiert. [20]

Der Staat als Steuerstaat

Den öffentlichen Kredit im Rahmen des marxschen Kritikprogramms zu thematisieren, bedeutet somit mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert zu sein: zum einen mit einer näheren Bestimmung der Form Staat, dessen Funktionen und dessen ökonomische Existenzweise als Steuerstaat; zum anderen mit einer konkreteren bzw. abweichenden Bestimmung des öffentlichen Kredits gegenüber dem kapitalistischen, der die Finanzierung der Produktion betrifft, und dem Handelskredit. Michael Krätke ist deshalb zuzustimmen wenn er konstatiert: „Das Buch vom Staat hätte die besondere ‚ökonomische Existenz’ des Staates im Kapitalismus zu kritisieren, die besonderen Formen der staatlich organisierten und durch die Staatsgewalt erzwungenen bzw. legitimierten Ausbeutung zu analysieren, die Kategorien der ‚öffentlichen Finanzen’ zu entziffern, die begrenzte Wirksamkeit der Staatsaktionen, die die kapitalistische Ökonomie regulieren sollen, ebenso zu zeigen wie deren (unbeabsichtigten) Folgen.“ (2002, 251f.) [21]
Damit wäre nicht nur gezeigt, dass der Staat eine bestimmte ökonomische Existenz benötigt und die kapitalistische Ökonomie ohne staatliche Politik gar nicht existieren kann. Die Analyse würde die Formen bestimmen, wie Staat und Ökonomie aufeinander verwiesen sind. Die zentralen Formen sind das Geld und das Recht (Blanke u.a. 1975, 430; Nuss 2006, 172ff.). Während der mit dem Monopol auf physische Gewalt ausgestattete Rechtsstaat für den Warentausch überhaupt erst die adäquate Rechtsform garantiert, bricht er mit seinem Steuermonopol und der Zwangsabgabe Steuer das Äquivalenzprinzip des Warentauschs. „Ihrer ökonomischen Form nach ist die Besteuerung eine reine und einseitige Geldbewegung ohne jede Warenbewegung. […] Das Geld fungiert in dieser Transaktion zwar als Rechengeld für die Beteiligten, aber weder als Kauf- noch Zirkulationsmittel; es fungiert nicht einmal als Zahlungsmittel, denn es vermittelt keinerlei Warenbewegung, sondern ist selbst das einzige Objekt der einseitigen Transaktion.“ (Krätke 1984b, 56)

Dies ist nur deshalb möglich, weil die Sicherung des ausschließenden Privateigentums den Staat ausnimmt, da dieser den WarenbesitzerInnen nicht als ihresgleichen gegenübertritt, sondern gerade die öffentliche Instanz der allgemeinen und unpersönlichen Rechtsgarantie und generellen Norm darstellt. Der Schutz des Eigentums ist immer nur gegenüber Dritten, Privatpersonen absolut. Dem Staat gegenüber ist er relativ. Dem Staat sind unter bestimmten Voraussetzungen Enteignungen möglich. Damit ist die Eigentumsgarantie aber nicht in Frage gestellt. Vielmehr ist sie „notwendiges Korrelat“, das „das Privateigentum als Handlungsschranke für den bürgerlichen Staat gerade dadurch anerkennt, dass es die Bedingungen normiert, unter denen sich der Staat darüber hinwegsetzen darf.“ (Krätke 1984b, 61) [22] Dies drückt sich im Enteignungsrecht aus, das dem Staat in fast allen klassischen Verfassungen zugesprochen wird. Trotzdem stellt die Besteuerung einen regelmäßigen Eingriff in die private Verfügungsmacht über Eigentum dar. „Besteuerung […] ist ein einseitiger Akt der Herrschaft, den sich nur ein souveräner bürgerlicher Staat erlauben kann.“ (57)

Als Herrschaftsakt, als fortlaufende Enteignung ohne jede spezielle Entschädigung unterliegt die Besteuerung somit einer besonderen Legitimationsnotwendigkeit (62ff.; aus historischer Perspektive Mann 1937). Für die staatliche Steuererhebung existieren verschiedenste Strategien der Legitimierung, die, wie oben historisch skizziert, immer auch um- und erkämpft werden müssen: Monopolisierung von Abgaben durch den Staat, rationale, d.h. bürokratische Organisation des Steuerwesens, Mitsprache und Mitbestimmungsrechte, Kontrollrechte über die Finanzen, Erweiterung der politischen Repräsentation, umfassendes Steuer- und Ausgabenbewilligungsrecht in den Parlamenten (Krätke 1984b, 63ff.; 1991, 121). [23]

Diese stellen neue Existenz- und damit auch Reproduktionsbedingungen des Staates und der kapitalistischen Produktionsweise dar und sind alles andere als marginal. In ökonomischer Hinsicht findet der Staat in der von ihm unabhängigen Bewegungsform des Geldes als Kapital die Grenzen seiner Unabhängigkeit. Die krisenhafte Kapitalakkumulation führt zu permanenten Finanzkrisen und begründet somit gerade die Notwendigkeit staatlicher Verschuldung, will der Staat seinen Aufgaben kontinuierlich und berechenbar nachkommen – und zwar unabhängig davon, in wie weit der Staat wirtschaftspolitisch in Konjunkturzyklen eingreift. Finanzkrisen und die permanenten Steuerreformen sind deshalb auf der einen Seite Ausdruck der krisenhaften Kapitalakkumulation, auf der anderen Seite aber auch Resultat von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Widersprüchen, die sich in der Finanzadministration materialisieren (Hirsch 1978).

Mit der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise kann der Staat seine Einnahmen vornehmlich nur in Form von Steuern organisieren. Wie der Steuerstaat somit auf der einen Seite notwendige Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise ist, so ist er auf der anderen Seite ein ständiges Ärgernis, das immer wieder zu Steuerhinterziehung und Steuerrevolten führt (Burg 2004). Die Steuern sind aber nicht nur eine eigenständige Kategorie der politischen Ökonomie, sondern die Steuerausbeutung ist auch eine Ausbeutung sui generis. [24]

Die Spezifik des öffentlichen Kredits

Bereits der historische Abriss hat gezeigt, dass die vorbürgerliche ‚Staatsschuld’ nicht mit dem modernen öffentlichen Kredit verglichen werden kann. Systematisch lässt sich dies zeigen, wenn nach der Spezifik des Kredits im Kapitalismus gefragt wird. Es geht bei Kredit im Kapitalismus nicht um Leihen und Borgen von Geld, das bereits in vorkapitalistischen Zeiten weit verbreitet war. Vielmehr geht es um die für die kapitalistische Produktionsweise besondere Form, dass Geld als Kapital die Hände wechselt. Dies ist die Elementarform der kapitalistischen Produktionsweise. Das bedeutet zum einen, dass Geld im Kapitalismus nur deshalb zinstragendes Kapital ist, weil das Geld als Kapital benutzt werden kann. Das zinstragende Kapital oder das Leihkapital ist dem produktiven Kapital untergeordnet, ist also eine abgeleitete Form. [25] Zum anderen bedeutet es, dass der Zins aus dem Profit finanziert wird, d.h. der Zinsfuß liegt – unter normalen Bedingungen – unter der Durchschnittsprofitrate. [26]

Nun wird der öffentliche Kredit nicht aus einem erwirtschafteten Profit finanziert. Die Spezifik des modernen Staates ist es gerade, dass er innerhalb der Gesellschaft nicht als Kapitalist fungiert (Agnoli 1975, 79). Der vom Staat aufgenommene Kredit fungiert weder als Kapital, noch wird er durch Profit finanziert. Der öffentliche Kredit wird aus Steuern finanziert. Der Steuerstaat und die „moderne Fiskalität“ (MEW 23, 784) sind also der Staatsschuld kategorial vorausgesetzt. Die Reihenfolge in Marxens Planskizze hat also einen begründenden Charakter für die Kategorie. Die Steuern sind die kategoriale Voraussetzung für die öffentliche Schuld im modernen Sinn. Erst die Steuern als ‚ökonomische Daseinsweise’ (Marx) des Staates ermöglichen, dass Besteuerung und Verschuldung auseinander fallen können. Die Voraussetzung für die Trennung von Verschuldung und Steuern – und damit deren jeweilige Eigenständigkeit als ökonomische Kategorien – ist die Monopolisierung der Steuergewalt. Die Unabhängigkeit der Steuer von Zwischenpersonen wie Steuerpächtern und der damit einhergehenden Auflösung ihres persönlichen Charakters ist Voraussetzung dafür, dass der Staat überhaupt eine eigenständige Steuer- und Schuldenpolitik betreiben kann.

Historisch korrespondiert diese Entwicklung mit der Unterordnung des Geldkapitals unter das industrielle Kapital, d.h. mit der Brechung des Geldmonopols des Wuchers durch die Schaffung eines Geldmarktes, der als Kreditsystem organisiert ist (MEW 25, 617; MEGA² II.4.2, 655). [27] Die persönliche Abhängigkeit von Gläubigern wird zu einer Abhängigkeit vom Geldmarkt. Der Zins nimmt nicht die Form von Wucher an, der an der ökonomischen Substanz zehrt und aus Raub und Prellerei finanziert wird, sondern aus dem Profit bezahlt wird. Hierbei spielte, wie oben skizziert, die Etablierung einer Zentralbank, die sich an die Spitze des Bankenwesens setzt, eine nicht unerhebliche Rolle.

Für den Steuerstaat ist der öffentliche Kredit eine normale Form der Staatseinnahme, ebenso wie in der Privatwirtschaft der Kredit zum ‚mächtigsten Hebel’ der Akkumulation wird (MEW 23, 655), d.h. die Verschuldung zum Mittel der Verwertung. [28] Das Geld wird jedoch nicht als Kapital, sondern unproduktiv, nicht-mehrwertschaffend für öffentliche Güter und die unterschiedlichsten Aufgaben des Staates verwendet. Weil der unmittelbare Zweck der öffentlichen Güter nicht die Verwertung ist und selbst die Mittel für die Aufgabe des Staates, die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu sichern, nicht unmittelbar gegeben sind, ist dieses politische Feld ständig umkämpft.

Das umkämpfte Feld ist aber immer schon formbestimmt. Eine der allgemeinsten Staatsaufgaben ist es, das ‚allgemeine Interesse’ des Kapitals im Unterschied zu den partikularen Interessen der in Konkurrenz zueinander stehenden Einzelkapitale zu formulieren und somit eine bestmöglichste Kapitalakkumulation zu ermöglichen. Dieses vom Staat formulierte ‚kapitalistische Gesamtinteresse’ ist allerdings Resultat staatlicher Politik. Vor diesem Hintergrund ist es nahe liegend, dass vor allem zwei Kriterien bzw. Fragen alle ökonomietheoretischen Diskussionen über die Staatsverschuldung dominieren. Zum einen die Frage, in wie weit die Staatsverschuldung und die mit ihr finanzierten Ausgaben die Investitionsneigung des Kapitals steigern. Zum anderen, in wie weit die Staatsverschuldung Einfluss auf die Zinsrate und damit die Inflation hat. [29]

Schluss

Ausgangsfrage dieses Beitrags war, wie im Anschluss an Marx die Staatsschuld als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen ist. Dabei wurden zum einen die von Marx vorliegenden Texte auf ihre Relevanz hin geprüft, zum anderen wurde deutlich, dass der öffentliche Kredit nicht ohne die Frage zu thematisieren ist, warum die Staatsfinanzen die Form der Steuern annehmen. Deutlich wurde, dass Marxens Schriften unmittelbar nur wenig dazu beitragen können, die Kategorie Staatsschuld zu klären. Weder helfen seine historischen Ausführungen weiter, noch seine Analyse der Staatspapiere als fiktives Kapital. Auf den Finanzmärkten nimmt die Staatsschuld als fiktives Kapital in Form von Wertpapieren eine neue Bewegungsform an und unterliegt den Verwertungsinteressen des Geldkapitals. Der öffentliche Kredit ist eine besondere ökonomische Form des Kapitalismus und somit weder von seiner gesellschaftlichen Form, noch von seiner Art der Finanzierung her ein überhistorisches Phänomen.

Vor dem Hintergrund, dass die Staaten durch die Hierarchie der Währungen gezwungen werden, Staatsanleihen vorwiegend in der Währung des Weltgeldes zu denominieren, erweitert sich die Fragestellung um die Dimension der Wechselkurse und der internationalen Geld- und Finanzmärkte. Nicht erst hier werden Herrschaftsverhältnisse – hier auf internationaler Ebene – reproduziert. Bereits die Staatsfinanzen, die Steuerausbeutung und der öffentliche Kredit, die die staatliche Herrschaft finanzieren, reproduzieren gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Gleichzeitig stellen die politischen Formen, die der Steuerstaat mit sich bringt, neue Bedingungen und Möglichkeiten dar. Zum einen steht die Legitimation des Steuerstaats ständig in Frage, zum anderen sind der Umfang und die konkreten Formen der Staatsfinanzen Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte. Diese drücken sich zum einen in sozialen Auseinandersetzungen aus, die soziale Standards und die öffentlich garantierten Gebrauchswerte zum Gegenstand haben. Gleichzeitig werden diese Kämpfe aber auch auf dem Feld der Deutungshoheit geführt.

Herrschaftliche politische Strategien sind dann am ehesten durchsetzungsfähig, wenn sie für sich beanspruchen können, das Interesse der Allgemeinheit zu verfolgen. Für diese Strategie ist es wichtig, Vorstellungen des Alltagsverstandes anzurufen. Gerade um den ständigen Versuchen Widerstand leisten zu können, für finanzpolitische Strategien Hegemonie zu organisieren, gilt es, sich über die Spezifik der öffentlichen Verschuldung klar zu werden. Weder greift die in der politischen Debatte gern verwendete Analogie zwischen Staatshaushalt und Privathaushalt, noch ist an der zur Zeit mächtigsten Vorstellung etwas dran, dass die heutige Staatsverschuldung nur auf Kosten künftiger Generationen möglich sei (Böhning/Burmeister 2004; Reuter 2000; Weyermann 1927, 523ff.). Wie wichtig diese Ebene der vor-wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, zeigt eine Anmerkung aus den Jahresgutachten des ‚Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung’ (SVR) von 2001: „Am Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht gerüttelt werden. Zwar sind seine Referenzwerte wissenschaftlich nicht begründbar; sie haben aber erstaunliche Konsolidierungsbemühungen und Konsolidierungserfolge bewirkt und sollten unbedingt beibehalten werden.“ (JG 01: Ziff. 28) Anstatt ihrem wissenschaftlichen Urteil Nachdruck zu verleihen, dass die Kriterien, die in Amsterdam beschlossen wurden wissenschaftlich nicht haltbar sind, und mit einem gewissen Maß an Willkür festgelegt worden waren, würdigt der Sachverständigenrat deren disziplinierenden Charakter. Einem Vorschlag, dem sich die politischen Eliten mit Rückendeckung der ‚Wirtschaftsweisen’ gerne anschließen. Die Hegemonie der gegenwärtigen Finanzpolitik zeigt sich gerade darin, dass sie sich nicht einmal mehr unter Legitimierungsdruck sieht.

Dass das Staatsbudget immer auch „Klassenbudget“ (MEW 9, 62) ist, unterstrich bereits Marx. Er war es auch, der davor warnte, sich von der ‚Finanzalchemie’ irre machen zu lassen. „Es gibt wahrscheinlich keinen größeren Humbug in der Welt als das so genannte Finanzwesen. Die einfachsten Operationen, die Budget und Staatsschuld betreffen, werden von den Jüngern dieser ‚Geheimwissenschaft’ mit den abstrusesten Ausdrücken bezeichnet; hinter dieser Terminologie verstecken sich die trivialen Manöver der Schaffung verschiedener Bezeichnungen von Wertpapieren […], dass das Publikum von dieser abscheulichen Börsenscholastik ganz verwirrt ist und sich in der Mannigfaltigkeit der Details ganz verliert.“ (MEW 9, 47) Für einen klaren und kritischen Kopf dürfte eine Formbestimmung der Staatsschuld hilfreich bleiben. Dies kann aber die realen Kämpfe nicht ersetzen. Theoretische Überlegungen können deren emanzipatorischen Charakter befördern, indem sie Bedingungen und Grenzen aufzeigen. Grenzen, die keineswegs auf eherner Grundlage beruhen und deshalb selbst zum Gegenstand gesellschaftlicher Veränderungen gemacht werden müssen.

Anmerkungen

  1.  Eine Ausnahme stellen Krätke (1984a; 1984b), Cogoy (1973) sowie Ostendorf (1987) dar. O’Connor (1973) wurde zwar breit diskutiert, bietet aber alles andere als einen werttheoretischen Zugang im Anschluss an Marxens Kritik der politischen Ökonomie.
  2. Als prominentes Beispiel sei hier die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik genannt, die seit 1978 am 1. Mai zu den Wirtschaftsgutachten der sog. Wirtschaftsweißen ein Gegengutachten veröffentlichen
  3. Diese Form der Zwangsintegration in den Weltmarkt findet bis heute statt. Mike Davis (2001) führt die diversen Methoden in seiner Genealogie der ‚dritten Welt’ vor.
  4. Vgl. MEGA² II.5, 604; MEGA² II.6, 677 sowie die entsprechende Stelle in der französischen Auflage MEGA² II.7, 671ff; bzw. in MEW 23, 782ff.
  5. Offenmarktpolitik ist inzwischen das bedeutendste Instrument der Geldpolitik und der Geldschöpfung. Die Zentralbank verändert die Geldmenge über sog. Offenmarktpapiere, die sie den Geschäftsbanken zum Kauf anbieten.
  6. Auch die HerausgeberInnen der MEGA² konstatieren, dass ab der französischen Auflage vor allem weltwirtschaftliche Tendenzen in einem stärkeren Umfang in der Darstellung von Marx berücksichtigt werden (MEGA² II.10, 23).
  7. Der Zusammenhang von moderner Staatsschuld und Staatlichkeit ist daher theoretisch zentral und kann nicht, wie Häuser (1977, 5) meint, vernachlässigt werden, nur weil es kein ‚historisches Datum’ für den Beginn von Staatlichkeit gibt. Schließlich geht es um die theoretische Frage nach der Spezifik der modernen Staatsschuld. ‚Staat’ setze ich deshalb im Anschluss an Gerstenberger in Anführungszeichen, da solchen „Begriffen im angesprochenen historischen Zusammenhang noch keine (vollständige) empirische Strukturwirklichkeit“ (1990, 41) entspricht.
  8. Deshalb auch Marxens Anmerkung im 24. Kapitel, dass mit der modernen Staatsverschuldung „an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treuebruch an der Staatsschuld“ (MEW 23, 782) tritt. Im Mittelalter herrschte eine ganz spezifische Praxis vor: Bei Zahlungsunfähigkeit drohten keine drakonischen Strafen oder die Versteigerung des Besitzes. Vielmehr war es weit verbreiteter Brauch, dass der Gläubiger für die Zeit, in der sich beide Parteien auf gütlichem Weg einigten, einen Geleitschutz organisierte (Le Goff 1956, 28).
  9. Neben diesen Quellen stellten Ämterkauf und räuberische Aneignung im Krieg weitere Quellen des Reichtums dar.
  10. Zur Entstehung der Steuersysteme im Zuge der Herausbildung des bürgerlichen Staates vgl. Bonney (1999) sowie Stasavage (2003); weiter Braudel (1979, 569ff.), Elias (1939 (Bd.2), 287ff.), Gerstenberger (1990, 340ff.) sowie Schumpeter (1918).
  11. Die damit einhergehende erste Form der Massenproduktion von u.a. Uniformen wurde in ‚staatlichen’ Manufakturen organisiert. Es ist also kein Wunder, wenn Marx feststellt, dass das „System des öffentlichen Kredits“ (MEW 23, 782) Europa während der Manufakturperiode in Besitz nimmt.
  12. Damit entsteht nicht nur das, was Foucault ‚Biopolitik’ nennt, sondern auf der einen Seite die politische Ökonomie als Wissensfeld, als wissenschaftliche Disziplin neben anderen Disziplinen und die Notwendigkeit von ‚Wirtschaftspolitik’, die sich den von der politischen Ökonomie formulierten Gesetzen anpasst und die Bevölkerung als Hauptzielscheibe hat (Foucault 1977/78, 162ff., 494ff.; 1978/79, 393; Meuret 1988; Stützle 2006, 194ff.).
  13. Der Ämterkauf war „eine der schnellsten Möglichkeiten, zu Geld zu kommen“ (Gerstenberger 1990, 341).
  14. Zu Neckers Vorstößen zur Bürokratisierung des Finanzapparats vor der Revolution Bosher (1970, 142-165).
  15. Wood betont für England neben dem agrarischen Ursprung der kapitalistischen Logik die Tatsache, dass die englischen gegenüber den italienischen und holländischen Banken auch neue Instrumente und Geschäftsschwerpunkte entwickelten (1999, 135). Die frühe Dominanz der Ausbeutung in der Produktion gegenüber der Prellerei deutet auch darauf hin, wie wichtig die Reduzierung der Zinsrate war, was als eines der entscheidenden Resultate der Gründung der Bank von England bezeichnet werden kann (Dickson 1967, 15f.).
  16. Das zeigt, dass die Bestimmung der Geldfunktionen mit dem dritten Kapitel des ersten Bandes des Kapital noch lange nicht abgeschlossen ist.
  17. Diese Form der permanenten Staatsschuld ist schließlich mit dem etablierten Steuerstaat eine Finanzinnovation des 18. Jahrhunderts.
  18. Wie stark die Staatsverschuldung inzwischen anerkannt ist, zeigt sich daran, dass Anfang 2004 Großbritannien eine Staatsanleihe mit einer 34-jährigen Laufzeit emittierte, was zu diesem Zeitpunkt die längste Laufzeit innerhalb der G-7-Länder war (FAZ, 23.4.2004).
  19. Die Liquiditätsprämie gilt es besonders für die globale Ebene und den monetären Weltmarkt, auf dem weitere fiktive Waren gehandelt werden – die Währungen –, fruchtbar zu machen. Sowohl aus marxscher als auch aus monetär-keynesianischer Sicht sind hier nur erste Schritte unternommen worden (Girschner 1999, 214ff.; Herr/ Hübner 2005, 98ff.).
  20. Für die Entstehung des Kapital war der 6-Bücher-Plan für Marx weder der Weisheit letzter Schluss, noch sollte dieser zum unkritischen Maßstab genommen werden (MEGA II.15, 1042f.). Die Plan-Debatte ist aber durchaus fruchtbar. Die Frage, welche Kategorie unter welchen Voraussetzungen ‚wohin gehört’ ist auch die Frage danach, was den Kapitalismus zum Kapitalismus macht und wie allgemein, d.h. grundlegend die Aussagen sind. Zur Diskussion um den 6-Bücher-Plan Jahn 1986; 1992 sowie Heinrich 2002.
  21. Auf die ‚Form Staat’ kann hier nicht weiter eingegangen werden (dazu Agnoli 1975; Blanke u.a. 1975; Blanke 1976 sowie Elbe in diesem Band).
  22. Enteignung schließt somit die Garantie des Privateigentums nicht aus. Ganz im Gegenteil. Das „Expropriationsrecht des bürgerlichen Rechtsstaats ist nur das Korrelat der verfassungsmäßig sanktionierten Herrschaft des Privateigentums.“ (Kirchheimer 1930, 231) So können nicht-willkürliche Enteignungen, die dem allgemeinen Interesse der Kapitalakkumulation dienen, durchaus geboten sein.
  23. In Frankreich – im Gegensatz zu England – scheiterte die Revolutionierung der Organisation der Staatsfinanzen vor allem daran, das Steuersystem als gerecht erscheinen zu lassen und das Fiskalsystem öffentlich zu organisieren (Brewer 1990, 134).
  24. Marx spricht an einer Stelle auch davon, dass die indirekte Besteuerung der Arbeiterklasse eine „sekundäre Ausbeutung“ (MEW 25, 623) darstelle (vgl. auch Krätke 1984b, 141ff.).
  25. Deshalb spricht Marx auch immer wieder davon, dass die Unterordnung des Geldkapitals unter das industrielle Kapital und die Beseitigung des Wuchers Bedingungen für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise sind (MEW 25, 609; MEGA² II.4.2, 648f.; Pribram 1983, 152).
  26. Geld wird allerdings von einem fungierenden Kapitalisten nur dann aufgenommen, wenn er davon ausgeht, dass damit die Profitmöglichkeiten verbessert werden. Ein Umstand, den die monetär-keynesianische Theorie gerne samt dem damit zusammenhängenden Verhältnis verdreht. Nicht das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, sondern das zwischen Gläubiger und Schuldnern ist dann das zentrale ökonomische Verhältnis. Das Kreditverhältnis dominiert demnach das Kapitalverhältnis.
  27. Marx ist aber durchaus klar, dass da, wo das zinstragende Kapital nicht als Kapital fungiert, es durchaus noch Wucher geben kann. Vor allem dort, wo aus individueller Not geborgt werden muss (MEW 25, 613f.; MEGA² II.4.2, 652).
  28. Die Vorstellung, dass aus Schulden nur Investitionen finanziert werden dürften, wie es auch Artikel 115 des Grundgesetzes vorsieht, ist ein Relikt der Finanzklassik und der Deckungsregel. Unterstellt wird, dass nur rentable Investitionen Zins- und Tilgungsverpflichtungen gewährleisten können. Vor der Reform des Artikels im Jahr 1969 wurde zudem explizit zwischen ordentlichen (Steuern) und außerordentlichen (Kredite) Einnahmen unterschieden (Ostendorf 1987, 24; Höhnen 1981).
  29. Diese Debatten und die damit einhergehende These des crowding-outs können hier nicht diskutiert werden. Vgl. hierzu Krätke (2001a), Ernst-Pörksen (1983), Ostendorf (1987) sowie Simmert/Wagner (1981).

Literatur:
– Agnoli, Johannes, „Der Staat des Kapitals“ (1975), in, ders., Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg/Br 1995, 21-89.
– Andel, Norbert, Finanzwissenschaft, Tübingen 1998.
– Aston, Trevor/ Philpin, C.H.E. (Hg.), The Brenner Debate. Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe, Cambridge 1985.
– Bagehot, Walter, Lombard Street. A Description of Money Market (1873), New York 1999
– Blanke, Bernhard, „Entscheidungsanarchie und Staatsfunktionen: Zur Analyse der Legitimationsprozesse im politischen System des Spätkapitalismus“, in: Ebbighausen, Rolf (Hg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation, Frankfurt/M 1976, 188-196.
– ders./ Jürgens, Ulrich/ Kastendiek, Hans, „Das Verhältnis von Politik und Ökonomie als Ansatzpunkt einer materialistischen Analyse des bürgerlichen Staates“, in: dies., Kritik der Politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M 1975, 414–444.
– Böhning, Björn/ Burmeister, Kai, „Sozialabbau im Namen der Generationengerechtigkeit?“, in: Prokla 136, 2004, 357 – 374.
– Bonney, Richard, The Kings’s debts. Finance and Politics in France 1589-1661, Oxford 1981.
– ders. (Hg.), The Rise of the Fiscal State in Europe, Oxford 1999.
Bosher, John F., French Finances 1770-1795. From Business to Bureaucracy, Cambridge 1970.
– Braudel, Fernand, Der Handel. Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts (1979), 3 Bde., München 1990.
– Brewer, John, The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688-1783, Cambridge/MA 1990.
– Brian, Éric, Staatsvermessungen. Condorcet, Laplace, Turgot und das Denken der Verwaltung (1994), Wien 2001.
– Burg, David F., A world history of tax rebellions. An encyclopedia of tax rebels, revolts, and riots from antiquity to the present, New York 2004.
– Clapham, John, Sir, The Bank of England. A history, 2 Bde., Cambridge 1970.
– Cogoy, Mario, „Werttheorie und Staatsausgaben“, in: Braunmühl, Claudia von/ Funken, Klaus, et al. (Hg.), Probleme einer materialistischen Staatstheorie, Frankfurt/M 1973, 129-198.
– Comninel, Georg C., Rethinking the French Revolution. Marxism and the Revisionist Challenge, London 1990.
– Davis, Mike (2001): Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin 2005
– Dickson, Peter George Muir (1967): The Financial Revolution in England. A Study in the Development of Public Credit 1688-1756, London
– Elias, Norbert (1939): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (Gesammelte Schriften, Bd. 3), Frankfurt/M 1997
– Ernst-Pörksen, Michael (1983): Staatsschuldentheorien. Vom Merkantilismus bis zur gegenwärtigen Kontroverse um Funktion und Wirkungsweise der Staatsverschuldung, Berlin
– Foucault, Michel (1977/78): Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France (1977-1978), Frankfurt/M 2004
– ders. (1978/79): Geschichte der Gouvernementalität, Bd. II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France (1978-1979), Frankfurt/M
– Gerstenberger, Heide (1990): Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster
– Girschner, Christian (1999): Politische Ökonomie und Weltmarkt. Allgemeine Weltmarktdynamik in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, Köln
– Giuseppi, John (1966): The Bank of England. A history from its foundation in 1694, London
– Häuser, Karl (1977): Abriss der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Neumark, Fritz (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.1, Tübingen: 3-51
– Heinig, Kurt (1949/51): Das Budget, 3 Bde. (Bd.1: Die Budgetkontrolle; Bd.2: Das Budgetwesen; Bd.3: Inhalts-. Sach- und Namensregister), Tübingen
– Heinrich, Michael (1999): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition (Überarbeitete und erweiterte Neuauflage), Münster
– ders. (2002): Der 6-Bücher-Plan und der Aufbau des Kapital. Diskontinuierliches in Marx’ theoretischer Entwicklung, in: Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V. (Hg.): In Memoriam Wolfgang Jahn (Wissenschaftliche Mitteilungen, Heft 1), Hamburg, 92-101.
– Herr, Hansjörg (2001): Keynes und seine Interpreten, in: Prokla 123, 31.Jg., H.2, 203-225.
– ders./ Hübner , Kurt (2005): Währung und Unsicherheit in der globalen Ökonomie. Eine geldwirtschaftliche Theorie der Globalisierung, Berlin
– Hirsch, Joachim (1968): Haushaltsplanung und Haushaltskontrolle (Reihe »Parlament und Verwaltung«, Teil 2), Stuttgart
– ders. (1978): Was heißt eigentlich ‘Krise des Steuerstaats’? Zur politischen Funktion der Staatsfinanzkrise, in: Grauhan, Rolf Richard/ Hickel, Rudolf (Hg.): Krise des Steuerstaats? Widersprüche, Perspektiven, Ausweichstrategien, Opladen, 34-50.
– Hoffmann, Philip T. (1994): Early Modern France, 1450-1700, in: Hoffmann, Philip T./ Norberg, Kathryn (Hg.): Fiscal Crises, Liberty, and Representative Government, 1450-1789, Stanford/Ca., 226-252.
– Höhnen, Wilfried (1981): Der Begriff der öffentlichen Investitionen als Verfassungsgrenze der Staatsverschuldung, in: WSI Mitteilungen, 32.Jg.,.H.1, 7 – 15.
– Hunt, Philip A./ O’Brien, Patrick K. (1999): England 1485-1815, in: Bonney, Richard (Hg.): The Rise of the Fiscal State in Europe, Oxford, 53-101.
– Jahn, Wolfgang (1986): Zur Entwicklung der Struktur des geplanten ökonomischen Hauptwerkes von Karl Marx, in: Arbeitsblätter zur Marx-Engels Forschung, H.20, 6–44.
– ders. (1992): Ist Das Kapital ein Torso? Über Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion des ‘6-Bücherplans’ von Karl Marx, in: DIALEKTIK, H.3, 127–138.
– ders./ Noske, Dieter (1983): Zu einigen Aspekten der Entwicklung der Marxschen Forschungsmethode der politischen Ökonomie in den Londoner Heften (1850-1853), in: Marx-Engels-Jahrbuch 6, Berlin/DDR, 121-147.
– Kaemmel, Ernst (1966): Finanzgeschichte. Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, vormonopolistischer Kapitalismus, Berlin
– Keynes, John Maynard (1936): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2002
– Kirchheimer, Otto (1930): Die Grenzen der Enteignung. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung, in: Funktionen des Staates und der Verfassung. 10 Analysen, Frankfurt/M., 1972, 223 – 295.
– Körner, Alois (1893): Staatsschuldentilgung und Staatsbankerott. Mit besonderer Berücksichtigung der fundirten Staatsschuld, Wien
– Krätke, Michael R. (1984a): Value Theory and Public Finance, in: Hänninen, Sakari/ Paldán, Leena (Hg.): Rethinking Marx (Argument-Sonderband 109), Berlin, 95-100.
– ders. (1984b): Kritik der Staatsfinanzen. Zur politischen Ökonomie des Steuerstaats, Hamburg
– ders. (1991): Steuergewalt, Versicherungszwang und ökonomisches Gesetz, in: Prokla 82, 21.Jg., H.1, 112-143.
– ders. (1996): Marxismus als Sozialwissenschaft, in: Haug, Frigga / Krätke, Michael (Hg.): Materialien zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus. Materialien zum Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus, Hamburg, 69-122.
– ders. (2001a): Die Kosten des Sparzwangs, in: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.): Kritische Interventionen. Flugschrift Kritischer Wissenschaft, Bd.5, Rot-Grün – noch ein Projekt? Versuch einer ersten Bilanz, Hannover, 23-69.
– ders. (2001b): ›Hier bricht das Manuskript ab.‹ (Engels). Hat das Kapital einen Schluss?, Teil I, in: Hecker, Rolf/ Vollgraf, Carl-Erich, et al. (Hg.): Neue Texte, neue Fragen. Zur Kapital-Edition in der MEGA (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2001), Hamburg, 7-43.
– ders. (2001c): Geld, Kredit und verrückte Formen, in: MEGA-Studien, H.1, 64-99.
– ders. (2002): ›Hier bricht das Manuskript ab.‹ (Engels). Hat das Kapital einen Schluss?«, Teil II, in: Hecker, Rolf/ Vollgraf, Carl-Erich, et al. (Hg.): Klassen – Revolution – Demokratie. Zum 150. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Marx’ Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2002), Hamburg, 211-261.
– ders. (2006): Marx als Wirtschaftsjournalist, in: Hecker, Rolf/ Vollgraf, Carl-Erich, et al. (Hg.): Die Journalisten Marx und Engels. Das Beispiel Neue Rheinische Zeitung (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2005), Hamburg, 29-97.
– Kriedte, Peter (1980): Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts., Göttingen
– Krippendorff, Ekkehart (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Frankfurt/M
– Landmann, Julius (1927): Geschichte des öffentlichen Kredits, in: Gerloff, Wilhelm/ Meisel, Franz (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaften, Bd.2, Tübingen, 479-515.
– Laum, Bernhard (1926): Entstehung der öffentlichen Finanzwirtschaft (Altertum und Frühmittelalter) in: Gerloff, Wilhelm/ Meisel, Franz (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.1, Tübingen, 185-209.
– Le Goff, Jacques (1956): Kaufleute und Bankiers im Mittelalter, Frankfurt/M-New York 1993
– Mann, Fritz Karl (1937): Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studie zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600-1935 (Finanzwissenschaftliche Forschungen, Heft 5), Jena
– ders. (1959): Finanztheorie und Finanzsoziologie, Göttingen
– Matsui, Kiyoshi (1970): Marx’s Plan in the “Critique of Political Economy” and the Crisis in the World Market, in: The Kyoto University Economic Review, 11.Jg., H.1, 28-56.
– Meuret, Denis (1988): Eine politische Genealogie der Politischen Ökonomie, in: Schwarz, Richard (Hg.): Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, 13-53.
– Nuss, Sabine (2006): Copyright & Copyriot. Aneignugskonflikte um geistiges Eigentum im informationellen Kapitalismus, Münster
– O’Connor, James (1973): Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt/M 1974
– Ostendorf, Helga (1987): Dilemma Staatsverschuldung. Austerity-Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1975 bis 1981, Berlin
– Parker, David (1996): Class and State in Anvien Régime France. The Road to Modernity? , London
– Pribram, Karl (1983): Geschichte des ökonomischen Denkens, 2 Bde., Frankfurt/M 1998
– Reuter, Norbert (2000): Generationengerechtigkeit in der Wirtschaftspolitik. Eine finanzwissenschaftliche Analyse staatlicher Haushalts- und Rentenpolitik, in: Prokla 121, 10.Jg., H.4, 547-566.
– Rist, Charles (1938): Geschichte der Geld- und Kredittheorien von John Law bis heute, Bern, 1947
– Rosanvallon, Pierre (1990): Der Staat in Frankreich. Von 1789 bis heute, Münster 2000
– Schrader, Fred E. (1980): Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum “Kapital” von Karl Marx in seinen Studienheften 1850-1858, Hildesheim
– Schumpeter, Joseph A. (1918): Die Krise des Steuerstaats, in: Hickel, Rudolf (Hg.): Goldscheid, Rudolf/ Schumpeter, Joseph: Die Finanzkrise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, Frankfurt/M 1976, 329-379.
– Simmert, Diethard B./ Wagner, Kurt-Dieter (Hg.) (1981): Staatsverschuldung kontrovers, Köln
– Smith, Tony (o.J.): The Place of the World Market in Marx’s systematic Theory, unter: http://www.public.iastate.edu/~tonys/worldmarket.html, Zugriff am: 10.10.2007
– Sombart, Werner (1913): Krieg und Kapitalismus (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, Bd.2), München-Leipzig
– Stasavage, David (2003): Public debt and the birth of the democratic state. France and Great Britain, 1688 – 1789, Cambridge u.a.
– Stützle, Ingo (2006): Die Ordnung des Wissens. Der Staat als Wissensapparat, in: Bretthauer, Lars/ Gallas, Alexander, et al. (Hg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg, 188-205.
– Sweezy, Paul/ Dobb, Maurice/ Takahashi, Kohachiro/ Hilton, Rodney u.a. (1984): Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Frankfurt/M
– Teschke, Benno (2003): Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster 2007
– ders. (2005): Bürgerliche Revolution, Staatsbildung und die Abwesenheit des Internationalen, in: Prokla 141, 35.Jg., H.4, 575-600.
– Ullmann, Hans-Peter (1983): Öffentliche Finanzen im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne. Die bayerische Finanzreform der Jahre 1807/08, in: Archiv für Sozialgeschichte, H.23, 51-98.
– Weyermann, Moritz R. (1927): Theorien des öffentlichen Kredits, in: Gerloff, Wilhelm/ Meisel, Franz (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaften, Bd.2, Tübingen, 516 – 586.
– Wirsching, Andreas (1990): Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen-Zürich
– Wolf, Frieder Otto (2006): Marx’ Konzept der ‘Grenzen der dialektischen Darstellung’, in: Hoff, Jan/ Petrioli, Alexis, et al. (Hg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster, 159-188.
– Wood, Ellen Meiksins (1999): The origin of capitalism. A longer view, London – New York, 2002

Eine Torte für Keynes. Keynes’ 125. Geburtstag und wie der Ökonom in der LINKEN (nicht) diskutiert wird

Anfang 1935 schrieb John M. Keynes an den Schriftsteller George B. Shaw, dass er gerade an einem Buch über eine ökonomische Theorie sitze, die vielleicht nicht sofort, aber doch in den kommenden Jahrzehnten die Art und Weise, in welcher über ökonomische Probleme gedacht wird, revolutionieren werde. Er sollte Recht behalten. Wahrscheinlich ist es zu voreilig, gegenwärtig von einer Krise der Neoklassik zu sprechen. Aber von einer Legitimationskrise des Neoliberalismus, in den zentrale Vorstellungen der Neoklassik eingeschrieben sind, ist allemal auszugehen.

Nicht nur nach der Forderung einiger IWF-Ökonomen nach einer aktiveren Finanzpolitik fiel der Name Keynes immer häufiger. Als Antwort auf die vom US-amerikanischen Häusermarkt ausgehende Finanzkrise legte der Bundestagsabgeordnete Axel Troost zusammen mit Philipp Hersel ein Papier vor, das neben der Tobinsteuer und weiteren Regulierungsmaßnahmen Keynes’ Vorschlag einer Internationalen Clearing Union (ICU) aufgreift. (1) Dabei vertrauen sie auch auf die Autorität Keynes’: Er hätte als “gedanklicher Vater ein hohes Maß an ökonomischen Vorschuss-Lorbeeren. Kaum jemand wird sich trauen, die Idee kurzerhand als Hirngespinst ökonomischer Spinner vom Tisch zu wischen.”

Continue reading “Eine Torte für Keynes. Keynes’ 125. Geburtstag und wie der Ökonom in der LINKEN (nicht) diskutiert wird”

Logik mit mittelgroßen Löchern

Die Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen der hegelschen Logik und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ist so alt wie Marx’ Schriften selbst. Erinnert sei hier nur an die immer wieder zu Missverständnissen führende Anmerkung im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals (MEW 23: 27), Engels Versuche einer materialistischen (Real-)Dialektik im Anti-Dühring oder in der Dialektik der Natur sowie Lenins Anmerkungen in den “genialen” (Važjulin) Philosophischen Heften, dass das Kapital deshalb nicht verstanden werde, weil sich kaum eineR Hegels Logik angeeignet habe. Oder auch Lukács Anmerkungen in Geschichte und Klassenbewusstsein, dass im Kapital “eine ganze Reihe der stets angewendeten entscheidenden Kategorien der Methode direkt aus der Logik Hegels stammt”. Mit der zweiten großen Welle der Kapital-Lektüre, also um 1968, wurde erneut das Verhältnis der beiden Denker diskutiert. Vor allem in Frankfurt am Main, wo die bei Adorno und Horkheimer Studierenden mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung die Möglichkeit hatten, in der gut sortierten Institutsbibliothek die Erstauflage der Kapitals von 1867 zu studieren. In dieser Textversion ist die Wertformanalyse anders konzipiert als in der überarbeiteten Zweitausgabe von 1872 und allen weiteren Textfassungen. So behauptete Helmut Reichelt, Student in Frankfurt, in seiner Dissertation, die 1970 für diesen Zyklus der Kapital-Lektüre sowohl den Höhepunkt wie den Abschluss bildete, dass die “strukturelle Gemeinsamkeit” zwischen Hegels Philosophie und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ein konstitutives Moment der Darstellungsweise im Kapital darstellt. Zu vergessen sind nicht die Arbeiten von Hans-Jürgen Krahl, die z.Z. neu erschlossen werden und neues Material zu dieser Frage aus der Zeit um 1968 zu Tage fördern werden.

Mit der dritten Welle der Kapital-Lektüre, die gerade erst begonnen hat, findet die Auseinandersetzung zum Verhältnis von Hegel und Marx eine Renaissance. So hat z.B. vor wenigen Jahren Chris Arthur für den angelsächsischen Sprachraum ein stark an hegelianische Argumentationsfiguren angelehnte Interpretation von Marx Arbeiten vorgelegt. Diese sehr selbstbezügliche Arbeit war deshalb möglich, weil es aufgrund einer mangelnden internationalen Debatte und fehlenden Übersetzungen in den letzten Jahrzehnten kaum Austausch gab. Fast könnte man meinen, die Tragödie einer stark an Hegel orientierte Interpretation findet so ihre Farce.

Aber nicht nur neue Interpretationen beginnen alte Fragen aufzuwerfen, sondern ebenso werden ältere Studien erneut aufgelegt. So zum Beispiel die oben bereits erwähnte Arbeit von Helmut Reichelt: “Die logische Struktur des Kapitalbegriffs”. Es werden aber auch Übersetzungen von Arbeiten angefertigt, die bereits seit vielen Jahren vorliegen. Das trifft auf die 1968 erstmals veröffentlichte Arbeit von Viktor A. Važjulin zu, die 2002 in Russland erneut aufgelegt wurde und nun aus dem Russischen übersetzt in deutscher Sprache vorliegt.

Nach vierzig Jahren sollte natürlich für eine Rezension einer solchen Publikation zunächst die Frage geklärt werden, welche Ansprüche an ein solches Buch gestellt werden können und was es leisten soll. Handelt es sich um einen systematischen Vergleich von Hegels Logik und der marxschen Darstellungsweise im Kapital, so müsste gezeigt werden, wie sich die jeweiligen Argumentationsstrukturen gleichen bzw. nicht und warum. Würde hingegen bereits vorausgesetzt, dass Marx im Kapital Hegels Logik zur Anwendung bringt, dann stellte sich die Frage, wie Marx dies genau macht, wo Grenzen sind und welche Erkenntniseffekte dies für das Verständnis des Kapitals mit sich bringt. Važjulins Buch gehört zu letzterer Kategorie von Publikation, wenn auch die alternative Fragestellung für eine Auseinandersetzung nicht irrelevant wird.

Im Vorwort wird das Buch von einem Herrn Golobokov als eine “wissenschaftliche Sensation” angekündigt, als ein Werk, das Probleme löst, über die “sich die marxistischen Philosophen der Sowjetunion schon einige Jahrzehnte lang den Kopf zerbrochen hatten” (7). Was genau die Probleme sind, bleibt allerdings unklar. Zu allem Überdruss sucht man auch nach Hinweisen auf eine kritische Historisierung vergebens. Dass im Zuge der Stalinisierung bedeutende Marx-Forscher (Isaak Iljitsch Rubin, David Rjazanov oder der Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis) ermordet wurden, wird verschwiegen, ihre namen kommen auch in Važjulins Text auch nicht vor, während vor genau dieser Leerstelle Theoretiker wie Važjulin als Genies scheinbar aus dem Nichts emporsteigen können. Für eine Neuauflage wäre eine (selbst)kritische Reflexion dessen was sich vor 1968 in der Marx-Forschung ereignet hat mehr als notwendig gewesen.

Wie auch immer dieser befremdliche Befund zu beurteilen und die Ambitionen des Autors politisch und historisch zu verorten sind, der Auseinandersetzung mit dem konkreten Textmaterial ist man dadurch nicht enthoben. Wie auch Die Frage nach der Logik des Kapitals von Marx müsste mit der Frage beginnen, was der eigentliche Gegenstand ist und es ist sicherlich nicht, wie Važjulin meint, der Forschungsgegenstand “Kapitalismus” (22), einen Begriff den Marx kaum kannte und noch seltener im Mund führte. Schon schwant es einem, er sähe hier den Autor mit dem linken Bein „aufstehen“. Der enttäuschende Eindruck wird im weiteren Verlauf des Buches erhärtet. Dabei ist der Anfang von Važjulins konkreter Analyse der Darstellung eigentlich recht ausgewogen. So plädiert für das Studium des Inhaltsverzeichnisses als dem ersten Schritt (47) und pocht darauf, dass das Setzen der Ware zu Anfang der Darstellung weder unmittelbar plausibel ist (44), noch eine andere Ware als die bereits kapitalistisch produzierte Ware sein kann (49). Die Logik des Kapitals zu rekonstruieren, zudem mit Važjulins Überzeugung, Hegel habe bei der Darstellung Pate gestanden, macht zunächst einmal neugierigund natürlich setzt Važjulin Hegel und Marx nicht in eins. Eine Kritik an Hegel ist, dass dieser die “Herkunft der Kategorien” (23) nicht habe erklären können. Diese Kritik mündet dann jedoch in einen quasi-feuerbachschen Materialismus, der sich eigenartig mit der hegelschen Erkenntniskritik aus der Phänomenologie des Geistes verbindet: “Der Übergang von den Sinnen, von der lebendigen Anschauung zu Begriffen und Kategorien tritt hier nicht als wirkliche Voraussetzung und wirkliches Moment der Bewegung des Denkens zum Vorschein, sondern gänzlich durch die ‘Selbstentfaltung’ des Denkens gesetzter Schein.” (24, Herv.: IS; vgl. auch 43, 57ff., 92, 235). Die Fragwürdigkeit dieser Kritik wird verstärkt, wenn Važjulin sich darin versucht, die marxsche Darstellung der Kategorien zu begründen. Während bei Hegel diese sich aus sich selbst heraus entwickeln würden, würde das kategoriale Fortschreiten bei Marx dazu zwingen, “sich an diese oder jene Gegebenheit der lebendigen Anschauung zu wenden, an die Tatsachen, an die Praxis, an die gedankliche Verarbeitung dieser Tatschen in Einheit mit der betreffenden Prämisse, die gleichsam priori hingenommen wurde.” (59) Und weiter: Eine Prämisse, also z.B. die zu Anfang im Kapital gesetzte Ware, führe zu einer ganz bestimmten Auswahl an Tatsachen und zum anderen würden die Tatsachen “selbst ihren Zusammenhang auf[zeigen]” und den Übergang von einer Kategorie zur anderen “diktieren” (59). Dieses unklare Verhältnis zwischen idealer Reproduktion in Begriffen und ihrer Darstellung auf der einen und gesellschaftlicher Wirklichkeit auf der anderen Seite, zieht sich durch das ganze Buch. Und das obwohl Važjulin behauptet, Marx wäre der erste gewesen, der prinzipiell die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Wirklichkeit gestellt hätte (26). Das stimmt zwar so nicht, aber z.B. die zentralen Aussagen aus dem so genanten Methodenkapitel in den Grundrissen hätten durchaus geholfen, eine Interpretationsfolie für das Kapital plausibel zu machen. Die Folie von Važjulin hätte jedoch kaum begründen werden können, weil hier durchaus mehr und andere Unterschiede zwischen Hegel und Marx deutlich werden, als Važjulin lieb sind.

Aber auch welche Logik sich im Kapital ins Werk setzt bleibt rätselhaft. Nicht nur bleibt das Verhältnis von formaler bzw. das was Važjulin “klassische Logik” nennt ungeklärt, auch führt Važjulin das abgestandene Argument ins Feld, dass letztere keinen Prozess denken könne (144). Was schließlich eine “marxistische Logik” (154) sein soll, bleibt mehr als schleierhaft. Der zentrale Unterschied zwischen Hegel und Marx, auf den zumindest Važjulin immer wieder (29, 220, 195 u.ö.) aufmerksam macht ist der, dass es Marx um einen historisch spezifischen Gegenstand geht. Dieser kritische Anspruch ist bereits in Marx’ Elend der Philosophie eingeschrieben. Was ist jedoch die spezifische Form der Kritik im Kapital? Der Unterschied muss für Važjulin solange unklar bleiben, wie er nicht zwischen Forschung und Darstellung unterscheidet (25 u.ö.). Dass es Marx genau darum geht, mit der Darstellung der Kategorien eine Kritik derselben zu ermöglichen, muss für Važjulin verborgen bleiben. Die Kategorien der politischen Ökonomie stellen im Kapital einen verkehrten Ausdruck der wirklichen Verhältnisse dar, während Marx bis in die 1850er Jahre davon ausging, dass die Kategorien einen wirklichen Ausdruck verkehrter Verhältnisse darstellen. Aber wie denkt Važjulin selbst die Darstellung im Kapital?

“Im ersten Kapitel des ‘Kapitals’ rekonstruiert Marx die Gedankenbewegung vom Unmittelbaren zum Wesen (der Ware) nur in ihren hauptsächlichen Momenten (Qualität, Quantität, Maß). Er beschreibt nicht ausführlich den Weg, durch den die Forscher das Wesen im Unmittelbaren aufgefunden haben (im vorliegenden Fall den Wert der Ware), sondern breitet dagegen ausschließend in aller Ausführlichkeit die Gedankenbewegung vom Wesen zu den Erscheinungsformen und zur Wirklichkeit aus.” (68) In seiner konkreten Rekonstruktion stülpt Važjulin dann leider das hegelianische Vokabular der marxschen Darstellung einfach über, statt zu zeigen, was Marx eigentlich im Kapital macht. Das zeigt sich, wenn Važjulin die Methode als eine Bewegung in großen und kleinen Spiralen charakterisiert, wobei die drei Bände des Kapitals eine große Spiralbewegung darstellen sollen (41) und ein Abschnitt einer Windung bzw. einer kleine Spiralwindung entspricht (vgl. 172). Ungeklärt bleibt, warum die fortschreitende Spirale dann offenbar als theoretisch vernachlässigbar behandelt wird. Der zweite und dritte Band des Kapital kommen bei Važjulin vollkommen zu kurz. Der dritte Band nimmt gerade einmal drei Druckseiten ein. Gleichzeitig stellt Važjulin steile Thesen auf, so zum Beispiel, dass die Entstehung der Formen aus dem Gesamtprozesses des Kapitals, als das was Marx im dritten Band des Kapitals macht, der “Gedankenentwicklung” dem “Abschnitt A (‘Die Auslegung des Absoluten’) des Kapitels über das Absolute in der “Wissenschaft der Logik'” “entspricht” (sic!) (233). Auch hier gilt wie für das ganze Buch, dass Važjulin das alles behauptet, aber weder nachvollziehbar zeigt, noch richtig zu zeigen versucht.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass durch solche eine Interpretation die vermeintlich beantworteten Fragen im krassen Missverhältnis zu den offenen stehen. Wie sieht es gerade mit der Grenze der dialektischen Darstellung aus, von der Marx in der Grundrissen spricht? Genau an diesen Grenzen wäre zu klären, was Marx eben im Unterschied zu Hegel macht. Aber darauf geht Važjulin nicht ein. Zu nennen wäre hier nicht nur das 24. Kapitel über die so genannte ursprüngliche Akkumulation. Hier zeigt Marx die historische Entstehung des doppelt freien Lohnarbeiters. Ein Kapitel, das am Ende der systematischen Darstellung innerhalb des ersten Bandes steht und eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise einholt, die nicht aus der Logik der dialektischen Darstellung im Kapital selbst begründet werden kann.

Eine weitere Grenze der dialektischen Darstellung ist im Übergang von der allgemeinen, entfalteten Äquivalentform zur Geldform zu sehen. In der Erstauflage endet Marx mit einem Paradox: Es gibt auf der entwickelten Argumentationsebene des ersten Kapitels kein Kriterium dafür, welche Ware den Status des allgemeinen Äquivalents einnehmen soll. Somit schließen sich alle Waren gegenseitig aus. Die Lösung dieses Problems bedarf einer anderen Ebene der Argumentation, die Ebene der gesellschaftlichen Tat. Auf die geht Marx im zweiten Kapitel – dem Austauschprozess – ein. Gerade hinsichtlich einer möglicherweise hegelianischen Perspektive müsste dieser Bruch (und seine Erklärung) in der Darstellung für die Auseinandersetzung interessant sein. Für Važjulin ist dieser jedoch völlig irrelevant (114).

Ein weiterer problematischer Punkt ist, dass die zentrale Rolle des Geldes unklar bleibt, denn sonst würde bei Važjulins Analyse des dritten Kapitels nicht die Funktion des Geldes als Maß der Werte fehlen (161). Ohne Geld, das ist ja gerade die zentrale marxsche Kritik an Ricardo, können die Waren gar nicht als Werte aufeinander bezogen werden. Ist jedoch die Funktion des Geldes, Maß der Werte zu sein, nicht einmal erwähnenswert, bleibt die Frage, was eigentlich von der Analyse der Wertform tatsächlich verstanden wurde.

Ein Moment, das wahrscheinlich ohne die durch Hegel geschulte Sensibilität für das Problem des Anfangs unbeachtet geblieben wäre, ist die nur scheinbare Evidenz des Anfangs, bei welchem Marx die Ware als erste Kategorie setzt. Dieser Anfang sei alles andere als unmittelbar und selbsterklärend – vielmehr werde er von Marx einfach nur “postuliert” (44). Diese Setzung müsse Marx noch begründen. Leider kommt Važjulin im Fortgang seines Textes nicht auf dieses Problem zurück, noch thematisiert er die bei Marx vorliegende Form der progressiv-regressiven Darstellung, die durchaus auch bei Hegel zu finden ist (HW, Bd. 6, Logik, 570). Diese Form der sich im Laufe der Darstellung entwickelnden und zugleich rückwärts begründenden Argumentation ist leider in der Literatur bisher nicht genügend ausgeleuchtet worden – Važjulin beachtet sie überhaupt nicht, obwohl er dazu allen Grund dazu gehabt hätte, statt einfach auf nichts sagende Metaphern von großen und kleinen Spiralen zurück zu greifen.

Statt also zu unterstellen, Marx würde im Kapital die hegelsche Logik bereits anwenden, wäre eine Arbeit, die beide Darstellungsformen vergleicht für die gegenwärtige Diskussion hilfreicher gewesen. Weder für das Verständnis des Kapitals noch zur Klärung der vorhandenen Entwürfe einer “dialektischen Logik” kann Važjulins Darstellung etwas beitragen.

Ingo Stützle, Berlin

Važjulin, Viktor A. (1968): Die Logik des “Kapitals” von Karls Marx, Norderstedt 2006, 264 Seiten, 21 €

Erschienen in: Z., Nr. 72, Dezember 2007, 216-220.

Marx’ innerer Monolog. Vor 150 Jahren schrieb Karl Marx die “Grundrisse”

Im Jahr 1857 bricht in allen entwickelten Industrieländern die erste Weltmarktkrise aus. Zum ersten Mal erschüttert eine Geldkrise fast gleichzeitig die Finanzmärkte in London, New York, Hamburg und Paris. Karl Marx notiert in einem Brief an Friedrich Engels am 8. Dezember 1857: “Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner Ökonomischen Studien, damit ich wenigstens die Grundrisse im klaren habe bevor dem déluge (der Sintflut; Anm. ak)”. Marx erwartet, ebenso wie Engels, mit der Krise den Ausbruch der proletarischen Revolution. Unter großem Zeitdruck schreibt er zwischen Oktober 1857 und Mai 1858 in einer kaum leserlichen Schrift die Manuskriptseiten, die Jahrzehnte später als die “Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie” bekannt werden.
Continue reading “Marx’ innerer Monolog. Vor 150 Jahren schrieb Karl Marx die “Grundrisse””

Aufgeblättert: »Das Weltkapital« von Robert Kurz

Im Anschluss an Marx’ Bücherplan zum Aufbau einer Kritik der politischen Ökonomie ist es sicherlich eine sinnvolle Aufgabe, sich dem Weltmarkt als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie zu widmen (35). Ausgehend von den ›Globalisierungskritikern‹ nähert Verf. sich dem Kapitalismus als Weltsystem (42 ff), streift die Imperialismustheorie (78 f) und setzt sich intensiv mit ›Globalisierungsleugnern und Verdrängungskünstlern‹ (187) auseinander. Die Kritik läuft nach bekanntem Muster: ›Alle sind konservativ geworden, so wie in anderer Weise (…) alle neoliberal geworden sind.‹ (370) ›Linke Gesellschaftskritik‹ bewegt sich immer noch im ›Gehäuse kapitalistischer Kategorien‹ (19) und linke Theoriegeschichte ist weiterhin nicht aufgearbeitet (326). Verf. arbeitet sich allerdings an schwachen Gegnern ab, andere werden kaum einmal in einem Nebensatz gewürdigt (Wallerstein, Altvater).

Die neue Qualität des Kapitalismus sieht Verf. im veränderten Charakter des Finanzkapitals, welches die Globalisierung vorantreibt – für ihn ist letztere nur ein ›eskalierter Krisenprozess‹ (59). Dem Finanzkapital komme die konstitutive Funktion bei der Simulation eines funktionierenden Systems zu, ohne die es bereits zum Zusammenbruch des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gekommen wäre (220). Aus der zunehmenden Entkopplung des Geldes von seiner Substanz Arbeit (119) folge eine ›Virtualität‹ der Kreditverhältnisse. Das Geld sei zu einer juristischen Konstruktion verkommen (122 f), während Arbeit ihre Bedeutung verliere. Unklar bleibt allerdings, wie Verf. ständig von überflüssiger Arbeit und der abnehmenden Relevanz der Arbeitskosten sprechen kann und gleichzeitig die Verlagerung von Arbeitsplätzen als zentrales Moment der Globalisierung konstatiert, was doch nur vor dem Hintergrund besserer Ausbeutungsbedingungen sinnvoll ist (94, 133, 168 f).

Weiter widmet er sich den Tücken der verkürzten Kapitalismuskritik (299 ff), vor allem dem ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff) und den Illusionen gegenüber dem Staat (366 ff). Der ›objektive Verblendungszusammenhang‹, den der Kapitalismus für alle ›immanenten Akteure‹ hervorbringe, führe in der Krise dazu, dass die ›innere systemische Logik‹ auf den Kopf gestellt werde (299): Die innere Schranke der Verwertung erscheine als Zirkulationsphänomen, was Teile der Linken, allen voran die Linkspartei, mit nationalem Keynesianismus beantworteten, der die Ursache der Krise in einem nicht mehr an den Nationalstaat gebundenen Finanzkapital sehe (u.a. 320). Pauschalisierend sieht Verf. diese Politik vor dem Hintergrund schwindender Arbeit in Forderungen nach einem starken Staat, Arbeitszwang und dem Schutz der deutschen Arbeiter umschlagen. Dabei seien diese Programme gesellschaftlichen Formen geschuldet, die einen ›strukturellen Nationalismus‹ (380) ebenso hervorbrächten wie einen ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff). – Verf. bewegt sich dabei allerdings auf unterschiedlichen Kritikebenen. Bestimmten theoretischen Vorstellungen meint er einfach mit der Empirie, der Wirklichkeit (64) oder der realen Historie (67) beikommen zu können, statt die von ihm eingeklagte kategoriale Kritik wirklich durchzuführen. So konstatiert er beim Theorem der komparativen Kostenvorteile im Anschluss an Ricardo nur dessen Blamage gegenüber der Wirklichkeit (64), kritisiert also bloß, dass Ricardo den kapitalistischen Formbestimmungen aufsitze. Auch mit seinem Kronzeugen Marx geht Verf. wenig sorgsam um. Aus den ›ökonomischen‹ Bewegungsgesetzen – wie Marx im Vorwort des Kapitals seinen Gegenstand skizziert – werden ›gesellschaftliche‹ (20), was einen Unterschied ums Ganze macht, der von Engels geprägte Begriff des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ wird Marx zugeschrieben (39) usw.

Gegenüber den ›Globalisierungsleugnern‹ besteht Verf. auf der neuen Qualität, die das Weltkapital mit sich bringe: ›Wenn die Veränderung im Verhältnis des Exportvolumens und der Direktinvestitionen von 6 auf mehr als 50 Prozent keine qualitative sein soll, dann gibt es (…) offenbar überhaupt keinen Umschlag von Quantität in Qualität mehr.‹ (171) – So wie hier das engelssche Argument bloß oberflächlich aufgesetzt wirkt, greift Verf. des öfteren auf suggestive Begriffe zurück und ersetzt Argumente durch eine Rhetorik des angeblich ›glasklaren‹ oder ›eindeutigen‹ Charakters eines Sachverhalts, während das Gegenteil statt widerlegt bloß als lächerlich abgetan wird (171 ff, 194 ff, 365 ff).

Kurz, Robert, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Edition Tiamat, Berlin 2005 (479 S., br., 18 Euro)

Erschienen in: DAS ARGUMENT 265/2006

Kein Blut für Petro-Dollar? Das Weltgeld und das Schmiermittel des globalen Kapitals

Auch Verschwörungstheorien haben manchmal einen realen Kern. Die Initiative Nachrichtenaufklärung nominiert seit zehn Jahren vernachlässigte Nachrichten. Im Jahr 2005 befand sich unter den Top-Ten die Meldung, dass der Iran eine internationale Ölbörse plant. Der Rohstoff, der die Welt bewegt, sollte dort nicht mehr in US-Dollar, sondern in Euro gehandelt werden. Die Begründung für die Wahl dieser Nachricht liegt auf der Hand: Die Denomination einer der wichtigsten Rohstoffe des globalen Kapitalismus in Euro hätte Auswirkungen auf die ganze Weltwirtschaft und auf das Verhältnis zwischen USA und EU – den zwei größten Wirtschafts- und Machtblöcken der Welt. Continue reading “Kein Blut für Petro-Dollar? Das Weltgeld und das Schmiermittel des globalen Kapitals”

Wir sind alle Konterrevolutionäre. Zum Tod von Milton Friedman

Kein anderer Ökonom steht für die Idee und die Politik der Neoliberalismus wie Milton Friedman, und niemand prägte die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts so wie er. Friedman gehörte zu den vielen neoklassischen Nobelpreisträgern für Wirtschaftswissenschaften in den 1970er Jahren. Seine bekanntesten Schüler sind sicherlich die “Chicago Boys”, eine Gruppe neoliberaler Ökonomen, die als Berater oder Minister unter der Pinochet-Diktatur in Chile ein neoliberales Wirtschaftsprogramm durchsetzten und Chile so zum Testballon für die tief greifenden Umwälzungen in allen westeuropäischen Industriestaaten machten. Am 16. November diesen Jahres ist Milton Friedman im Alter von 94 Jahren gestorben.
Continue reading “Wir sind alle Konterrevolutionäre. Zum Tod von Milton Friedman”

Gleich zwei auf einen Streich

Das Kapital neu lesenEndlich ist auch “Das Kapital neu lesen” erschienen. Es ist über den Verlag Westfälisches Dampfboot und dem (linken) Buchladen Eures Vertrauens zu haben.

Der Klappentext: Es gab einmal eine Kapital-Lese-Bewegung. Sie hat in der Mitte der 1960er Jahre begonnen und bis in die 90er Jahre hinein eine “neue Kapitallektüre” auf den Weg gebracht. Nach dem historischen Ende der historischen Marxismen ist inzwischen eine neue Generation der Kapitallektüre möglich geworden. Es geht darum, Marx’ wissenschaftliche Revolution in allen ihren Konsequenzen zu entfalten, ohne die Probleme zu verwischen, die sie für weitere theoretische Forschungen aufwirft. Die Beiträge dieses Bandes sind Versuche, diese neue Generation der Kapitallektüre auf den Weg zu bringen. Mit Beiträgen Jacques Bidet, Bernard Guibert, Christian Iber, Frieder O. Wolf, Rick Wolff u.a.

Kapitallektürekurs: “Dem Wert auf der Spur”

Mit dem lauthals proklamierten “Ende der Geschichte” wurde nach dem Ende des real existierenden Sozialismus auch Marx in die Mottenkiste verstaubter Theorien versenkt. Damit ist nicht nur die traditionelle Lesart der Kritik der Politischen Ökonomie verschwunden (Marxismus-Leninismus im Osten und traditioneller Marxismus im Westen), sondern auch die damals noch recht junge und unbekannte Kritik an diesen Lesarten. Durch eine gegenwärtig zu beobachtende Marx-Renaissance bekommt auch diese “neue Marx-Lektüre”, deren Wurzeln – mit wenigen Ausnahmen – in die 70er Jahre reichen, langsam wieder Aufwind und dient aktuellen, gesellschaftskritischen Analysen als wichtiger theoretischer Ansatz. Obwohl der Zugang zu Marx sich anfangs oft schwierig gestaltet, lohnt es sich daher allemal, im Geiste der “neuen Marx-Lektüre” tiefer in das Original einzusteigen. Wir lesen gemeinsam den ersten Band von “Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie”.

Der Kurs wendet sich an “AnfängerInnen”, es werden keine Marx-Kenntnisse vorausgesetzt
Zeit: Erstes Treffen am 30. Oktober 2006, 20h

InteressentInnen können sich in die Mailingliste eintragen, dort wird dann auch der Ort bekannt gegeben:

Abonnieren:
wertspur2-subscribe@yahoogroups.de

Abonnement kündigen:
wertspur2-unsubscribe@yahoogroups.de


Siehe www.das-kapital-lesen.de/

AnsprechpartnerInnen sind Sabine Nuss und Ingo Stützle

Was ist und welchen Zweck hat Privatisierung? Anmerkungen zu einer linken Politik öffentlicher Güter

“Die Welt ist keine Ware” ist seit mehreren Jahren der Slogan der globalisierungskritischen Bewegung. Er wendet sich gegen die Tendenz, möglichst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und sogar das Leben selbst dem Imperativ der Verwertung zu unterwerfen. Die Welt ist in weiten Teilen längst eine Ware und der Rest, jenseits der Warenform, soll nun über eine linke Politik öffentlicher Güter einer anstehenden Privatisierung entzogen werden. Ob damit eine andere Welt tatsächlich möglich ist bzw. welche Relevanz hierbei z.B. öffentliche Güter haben, darüber lässt sich trefflich streiten. Bereits bei den grundlegenden Begriffen ist eine Verständigung notwendig.
Continue reading “Was ist und welchen Zweck hat Privatisierung? Anmerkungen zu einer linken Politik öffentlicher Güter”

Pfannkuchen, Emanzipation und Vergesellschaftung

Zu Befreiung der Körper (arranca! 33)

Während irgendwie nie so richtig klar war, was das Wertgesetz eigentlich sein soll, haben es einige Postoperaisten bereits für überwunden erklärt. In der letzten arranca! wurden im Anschluss an diese Behauptung einige Thesen präsentiert. Dem scheinbaren Ende des Wertgesetzes soll hier auf den Grund gegangen werden. Continue reading “Pfannkuchen, Emanzipation und Vergesellschaftung”

Konkrete Arbeit am Kapital. Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie

Mit der globalisierungskritischen Bewegung artikuliert sich ein diffuser Missmut gegenüber den Entwicklungen, die der Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten hervorgebracht hat. Die unterschiedlichsten Gruppierungen entwickeln auf Grundlage der eigenen Erfahrungen einen Antikapitalismus, der durchzogen ist von den verschiedensten Vorstellungen darüber, was Kapitalismus überhaupt ist und welche Bedeutung dem bürgerlichen Staat zukommt. Dies nimmt Michael Heinrich zum Ausgangspunkt seiner politischen Intervention. In der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlages stellt Heinrich den bereits existierenden Einführungen zu feministischer Theorie (vgl. ak 480) und Internationalismus eine zur Kritik der politischen Ökonomie zur Seite.
Dem spontanen Antikapitalismus der globalisierungskritischen Bewegung versucht Heinrich, mit der Einführung die Marxsche Theorie näher zu bringen. “Die Frage, wie der gegenwärtige Kapitalismus funktioniert, ist […] keine abstrakt akademische, vielmehr hat die Antwort auf diese Frage unmittelbar praktische Relevanz für jede kapitalismuskritische Bewegung.” Ist der Staat Garant des Allgemeinwohls oder Instrument der herrschenden Klasse? Ist Kapitalismuskritik per se moralisch? Ist Herrschaft im Kapitalismus personalisierbar? Das sind keine Fragen, die im Vordergrund der Einführung stehen; sie werden dort aber durchaus mit der Folie der Marxschen Theorie beantwortet.
Die Einführung ist aber nicht nur an junge LeserInnen gerichtet, sondern auch an gestandene MarxistInnen, die bereit sind, “auch scheinbar Bekanntes und Selbstverständliches […] zu überprüfen.” Denn neben dem diffusen Antikapitalismus herrscht auch eine Menge Dogmatismus, der sich in der Marx-Rezeption seit den 70ern festgesetzt hat. Das Festhalten an Kategorien wie Basis und Überbau oder die Vernachlässigung des zweiten wie des dritten Bandes, die für ein Verständnis von Finanzmärkten unabdingbar sind, gehören ebenso dazu wie die völlige Unterschätzung des Geldes, deren Folge nicht zuletzt die Reduzierung der Marxschen Theorie auf eine Form linker Arbeitsmengentheorie war. Aber auch die leninistischen Lesarten des Kapitals sind hier zu nennen, die sich in so mancher recycleten Imperialismustheorie wieder finden und hinter Kriegen eine taskforce aus Monopolkapitalen und Staatsapparat wittern.
Gut ein Drittel des Buches widmet sich dem ersten Kapitel des Kapitals. Dem Zusammenhang von Arbeit in kapitalistischer Warenproduktion, Wert und Geld wird ebenso nachgegangen wie der Frage, wie diese mit den verschiedenen Fetischformen zusammenhängen. Allerdings unterscheidet sich die Einführung von vielen anderen, die darin den Stoff bereits als erschöpft ansehen. Auch der Rest des ersten Bandes sowie die Bände zwei und drei des Kapitals werden eingehend gewürdigt. Dabei kommt Heinrich auch auf den Staat zu sprechen, der in den aktuellen Debatten – ob es nun um imperialistische Kriege oder die Forderung nach einer Tobin-Steuer geht – eine zentrale Rolle spielt. Der Exkurs zu Antisemitismus kann als weiterer Hinweis auf die virulente politische Bedeutung dieser Einführung genommen werden. Im Gegensatz zu vielen anderen, die in der letzten Zeit die Marxsche Theorie hochhalten und vor verkürztem Antikapitalismus warnen, der immer schon mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, weiß Heinrich um die Grenzen der Aussagefähigkeit der Marxschen Kategorien, ohne die wertvollen Erkenntnisse zu diesem Thema klein zu reden.
Allerdings betont Heinrich gleich zu Beginn des Buches, dass seine Einführung die eigene Lektüre des Kapitals nicht ersetzen kann. Seine Einführung legt er als Produkt einer bestimmten Interpretation der Marxschen Theorie – die seit den 70er als “neue Marx-Lektüre” bekannt ist – offen.
Wenn diese Einführung als politische Intervention zu werten ist, dann bleibt jedoch eines unklar: Welchen Stellenwert nimmt die Beschäftigung mit der Marxschen Theorie in sozialen Kämpfen ein? Diejenigen, die in den letzten Jahren eine verstärkte Marx-Rezeption eingefordert haben – nicht zu unrecht wohlgemerkt – gehen von einem Erkenntniseffekt durch eine aufklärerische Praxis aus. Viele haben sich inzwischen mit ihrem Zynismus dem bürgerlichen Fortschrittsglaube verpflichtet und erkennen im sich artikulierenden Antikapitalismus nur noch die Reaktion, auf die es schon gar nicht mehr einzuwirken gilt. Wie Marx aber gezeigt hat, stellen sich Vorstellungen über die Gesellschaft in gesellschaftlichen Praxen her. Erst wenn sich hier eine Kraft entwickelt, die herrschende Produktions- und Verkehrsverhältnisse in Frage stellt, kann auch ein reflektierter Antikapitalismus wirksam in Erscheinung treten. Für diese Reflexion ist Michael Heinrichs Einführung sehr hilfreich, sie kann aber die Organisierung einer kommunistischen Praxis nicht ersetzen. Und hier herrscht Einigkeit: “Trotz all dieser Schwierigkeiten ist aber kein Argument ersichtlich, warum eine kommunistische Gesellschaft prinzipiell unmöglich sein sollte.”

Ingo Stützle

Schmetterling Verlag, Reihe theorie.org, Stuttgart, 10 Euro

Weitere Informationen und Texte von Michael Heinrich sind unter www.oekonomiekritik.de zu finden.

Erschienen in: ak – analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr.481 v. 20.02.2004

Ideal und Wirklichkeit. Freihandelstheoretiker und ihre Kritiker haben einiges gemeinsam

Nicht nur die Praxis, auch die Theorie des weltweiten Freihandels ist Jahrhunderte alt. Doch was sind ihre Grundannahmen, und wie schließen die heutigen Neoliberalen und WTO-Befürworter daran an? Auch die Kritik am Freihandel entstand nicht erst mit der globalisierungskritischen Bewegung. Trifft sie ihren Gegenstand, oder unterminieren bestimmte Formen von Kritik ihren antikapitalistischen Anspruch?

Mit der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren ist ein alter Schlachtruf wieder in aller Munde: »Laissez faire et laissez passer«. Diese Parole ist wohl auf Jacques Vincent de Gournay zurückzuführen, der in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert wie viele französische Kaufleute für die Befreiung vom Merkantilismus plädierte. Für den Merkantilismus als wirtschaftspolitisches Theorem des Absolutismus hatte der »Reichtum der Nationen« (Adam Smith) vor allem eine Ursache: der Exportüberschuss, der sich in einer aktiven Handelsbilanz ausdrückte. Mit dieser Vorstellung war eine bestimmte Politik verbunden: Niedrige Ausfuhrzölle, hohe Einfuhrzölle, Förderung des Transportwesens, Erweiterung und Regulierung des inneren Marktes usw. Der dem Handel zugesprochene produktive Charakter wurde unter Umständen auch gewaltsam erzwungen. Die Kolonisierung der Welt zur Sicherung von Rohstoffen, Handelsstrukturen und Absatzmärkten haben im Merkantilismus ihren Anfang.

Diese Politik hatte jedoch auch in Europa selbst negative Auswirkungen, vor deren Hintergrund der freihändlerische Schlachtruf entstand. In Frankreich wurde die Landwirtschaft durch die hohe Besteuerung der Landwirte und die Getreidepreisbindung, welche die Löhne für die Manufakturen niedrig halten sollten, fast vollständig ruiniert. Hinzu kam, dass die aristokratischen Grundherren durch Steigerung der Pachtzinsen ihre Einkünfte erhöhen wollten. Hier setzten die Physiokraten an, die im Gegensatz zu merkantilistischen Vorstellungen davon ausgingen, dass allein die landwirtschaftliche Produktion produktiv sei. Freihandel hatte für François Quesnay (1694-1774), dem wichtigsten Vertreter der Physiokraten, vor allem den Zweck, die gegängelte (Land-)Wirtschaft zu stärken. Damit könnte die Versorgung gewährleistet und bei Krisen und Missernten Abhilfe geschaffen werden, da ohne Handelsbeschränkungen eine ausgleichende Versorgung der Provinzen sichergestellt werden könnte.

Auch in späteren Auseinandersetzungen spielte das Getreide eine zentrale Rolle. In der ersten Hälfte des 19.Jh. setzte das aufstrebende industrielle Kapital in England alle Hebel in Bewegung, um die Abschaffung der so genannten Korngesetze durchzusetzen. »Cheap food, high wages« war bereits damals die demagogische Parole der Freihändler, die als erste politisch organisierte Bewegung der neuen industriellen Bourgeoisie versuchten, die breite Bevölkerung vom Freihandel zu überzeugen. Die damalige Argumentation ist auch heute noch von zentraler Bedeutung: Zölle auf Getreide verteuern die Lebensmittelkosten und senken die Reallöhne.

Kosten und andere Vorteile
Der Klassiker unter den Freihandelstheoretikern ist David Ricardo (1772-1823). Bis heute bildet sein Theorem der »komparativen Kostenvorteile« die Grundlage aller Freihandelstheorien. Die Grundidee ist simpel: Im Gegensatz zu Adam Smith ging Ricardo davon aus, dass es keinen absoluten Produktionskostenvorteil eines Landes gegenüber einem anderen geben muss, damit der Reichtum in einem Land steigt. Ricardo ging dagegen von den relativen Preisverhältnissen (da er vom Geld abstrahiert, eigentlich von Tauschverhältnissen) unterschiedlicher Güter aus, die ihm zufolge wiederum durch die Arbeitskosten bestimmt sind.

Voraussetzung für seine weitere Überlegung ist, dass sich durch internationale Konkurrenz und Kapitalbewegungen keine globale Profitrate erstellt. Damit bestimmt sich Ricardo zufolge der Wert auf dem internationalen Markt anders als innerhalb eines Landes. Wenn sich nun die Länder auf die Produktionszweige spezialisieren, in denen sie im Verhältnis zu anderen Ländern billiger produzieren, dann ergibt sich ein positiver Effekt für alle Länder, weil sie die gegebenen Ressourcen von der unrentablen in die effizientere Produktion verlagern. Das von Ricardo selbst angeführte Beispiel verdeutlicht seine Überlegungen: England und Portugal benötigen für die Produktion von Tuch und Wein jeweils eine bestimmte Arbeitsmenge je Wareneinheit. Deren Gesamtmenge könnte laut Ricardo jedoch effektiver eingesetzt werden, wenn sich beide Länder auf die Produktion spezialisieren, in der sie vergleichsweise, d.h. komparativ besser sind. Beide Länder könnten so ihre verfügbare Arbeitszeit effektiver einsetzen und durch den Tausch der insgesamt größeren Masse an Gebrauchswerten einen Wohlfahrtsgewinn realisieren. Diese effizienzsteigernde Wirkung der internationalen Arbeitsteilung wird spätestens seit Ricardo systematisch theoretisiert. Von Befürwortern wie Kritikern wurde dieses Theorem in seinen Grundannahmen meist akzeptiert und lediglich anders ausgelegt oder kritisch reformuliert.

Die erste Weiterentwicklung der Überlegungen von Ricardo stammt von John Stuart Mill (1806-1873), der sowohl klassisch, arbeitswerttheoretisch wie Ricardo als auch neoklassisch, rein preistheoretisch argumentierte (zur Neoklassik siehe unten). Er ging von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht mit einem gleichgewichtigen Wechselkurs und damit einem gleichgewichtigen System von relativen Preisen aus, mit welchem über Export und Import Angebot und Nachfrage in allen Ländern zur Deckung kommen. Über den Wechselkurs und damit die veränderte Kaufkraft einer Währung für ein bestimmtes Gut in einer anderen Währung (terms of trade) wird Mill zufolge die internationale Struktur von Angebot und Nachfrage so lange »reguliert«, bis diese zur Deckung kommen.

Das Herz der Freihandelstheorie
Die heutige Idee vom freien Handel ist ohne die Neoklassik weder vorstellbar noch zu erklären. Vor allem die neoklassische Preistheorie und die daraus entwickelte allgemeine Gleichgewichtstheorie sind zentrales Fundament des Freihandelsparadigmas. Die Grundlagen der Neoklassik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die klassische Nationalökonomie (Smith, Ricardo u.a.) weiterentwickelte, beruhen im Grunde auf normativen Aussagen: Es wird ein ideales Verhalten der wirtschaftenden Menschen konstruiert, welches eine optimale Situation des Gleichgewichts und ideale Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass auf der einen Seite die Bedürfnisse der Individuen unendlich sind, die Ressourcen zu ihrer Befriedigung dagegen endlich. Damit entsteht für die Subjekte der Zwang zu Arbeitsteilung und Tausch – gerade auch international. Treten keine externen Schocks (z.B. Kriege oder Naturkatastrophen) auf, ist der Markt ein endogen stabiles System. In diesem Gleichgewicht gibt es ein Ensemble von relativen Preisen, die keinen mehr besser stellen können, ohne dass gleichzeitig andere MarktteilnehmerInnen schlechter gestellt werden (so genanntes Pareto-Optimum).

Grundlegend für die Neoklassik ist die Trennung von monetärer und realer Sphäre. Es herrscht eine »Zwei-Welten-Lehre«, die streng zwischen der Sphäre der Preise und Geldmengen auf der einen Seite und physischer Produktion von Gütern sowie den dazu nötigen Produktionseinheiten auf der anderen Seite unterscheidet. Diese Unterscheidung kommt auch bei der Außenwirtschaft zur Geltung.

Bei den monetären außenwirtschaftlichen Aktivitäten kommt vor allem der Devisenmarkt in Betracht. Angebot und Nachfrage von Währungen bestimmen hier den Wechselkurs, Geld existiert nur als Währung neben anderen Währungen, ohne Bezug auf die »reale« Produktion. Es können zwei Szenarien unterschieden werden. Einmal in einem System fester Wechselkurse (wie zum Beispiel das von Bretton Woods bis 1973) und einmal im System flexibler Wechselkurse, wie es heute weitgehend gegeben ist. Bei letzterem bleibt für die Neoklassik das Theorem des Gleichgewichts zentral. Langfristig gilt im System flexibler Wechselkurse bei Kaufkraftparität ein Gleichgewicht zwischen den Währungen. Der Wechselkurs ist durch die Relation der Preisniveaus bestimmt. Verändert sich dieses in einem Land, verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Exporte nehmen ab und Importe zu. Das bedeutet, dass eine erhöhte Nachfrage nach Devisen dazu führt, dass die inländische Währung gegenüber der ausländischen so weit abgewertet wird, bis die Nachfrage nach Devisen befriedigt ist. Damit ist erneut ein Gleichgewicht zwischen den beiden Währungen hergestellt. Der Neoklassik zufolge ist somit durch den freien Wechselkurs (d.h. keine Handelsbeschränkungen für Devisen und Kapitalmärkte) eine perfekte Abschirmung gegen importierte Inflation aus dem Ausland möglich. Damit wird deutlich, dass die Neoklassik, deren höchstes Gut die Preisstabilität ist, für freien Handel auf den Devisenmärkten und flexible Wechselkurse plädiert.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Freihandel mit Gütern wieder verstärkt Gegenstand der neoklassischen Theorie. Insbesondere die Spezialisierung der einzelnen Länder aufgrund unterschiedlicher Ausstattung von Kapital und Arbeit rückte in den Mittelpunkt der Analysen. Zunächst wurde in den 1930er Jahren im so genannten Heckscher-Ohlin-Theorem behauptet, dass sich Länder unter Effizienzkalkülen entlang der Intensität von Arbeit und Kapital spezialisieren. Wohlfahrtsgewinne seien vor allem dann zu erzielen, wenn sich Länder auf die Produktion spezialisieren, für die sie prädestiniert sind: Portugal etwa durch niedrige Lohnkosten und England durch Geldkapital. Nachdem festgestellt wurde, dass dieses Theorem empirisch nicht haltbar war, wurde es im Stolper-Samuelson-Theorem mit der Argumentation gerettet, dass nicht von einer Homogenität der Ware Arbeitskraft ausgegangen werden könne. Stolper/ Samuelson erklärten, dass bei erhöhter Nachfrage nach einem Gut und damit steigenden Löhnen in diesem Sektor die Löhne für die Produktion eines anderen Gutes sinken. Mit der Aufnahme von Handelsbeziehungen und den damit einhergehenden Wohlfahrtsgewinnen seien demzufolge immer Einkommensumverteilungen verbunden. Wesentliche Aussagen der klassischen wie der neoklassischen Außenhandelstheorie lassen sich bereits im Rahmen ihrer eigenen theoretischen Grundlage kritisieren: Ricardos Argument vom komparativen Kostenvorteil ist nur gültig, wenn vom Zins abgesehen wird und eine (Handels-)Welt mit nur einem einzigen Gut vorausgesetzt wird. Nur so wären die Preisverhältnisse ausschließlich durch Technologie bestimmt. Dies ist jedoch eine geradezu irrwitzige Annahme für den internationalen Handel, wo es gerade darum geht, unterschiedliche Güter zu tauschen. Ohne diese Annahme und unter Einbeziehung der Verteilung von Zins- und Lohnsatz ist weder ein klarer Zusammenhang der Preisentwicklung in den unterschiedlichen Ländern konstatierbar, noch kann eine Aussage über Vorteile einer kapital- oder arbeitsintensiven Produktion getroffen werden. Die suggerierten klaren Zusammenhänge, auf welchen alle Erklärungen der (neo)klassischen Freihandelstheorien bauen, sind somit in ihrem Kern zerstört.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die neoklassische Wirtschaftstheorie zunächst einen schlechten Stand, da sie sich als unfähig erwiesen hatte, eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 zu finden. Doch trotz dieser Krise der ökonomischen Theorie wurde politisch im Rahmen des Systems von »Bretton Woods« und den GATT/ WTO-Runden unter der Hegemonie der USA auf die Etablierung eines möglichst freien Weltmarkts gedrängt. Etappenweise fand weltweit eine Internationalisierung des produktiven Kapitals und schließlich des Geldkapitals statt. Mit letzterem kann auch die neue Qualität der Globalisierung herausgestellt werden, nämlich dass sich eine globale Durchschnittsprofitrate etabliert, an der sich alle Verwertungsmöglichkeiten in Konkurrenz um das Geldkapital messen lassen müssen.

Die neoliberale Freihandelsideologie, wie sie sich nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nahezu allgemein durchsetzte, ist im Kern nichts Neues und schließt nur an allgemeine neoklassische Argumentationen an. Es gab in ihrem Rahmen keinen Versuch, eine neue integrierte Theorie zu formulieren, lediglich Akzentuierungen. So wird etwa ins Feld geführt, dass die Transaktionskosten durch den Freihandel sichtlich gesenkt werden können und sich somit ein allgemeiner Wohlfahrtseffekt einstellt. Desweiteren wird argumentiert, dass durch die vertiefte weltweite Arbeitsteilung eine Steigerung der Produktivkräfte ermöglicht wird. Inzwischen ist mit dem Buch »Free Trade Today« (2002) von Jagdish Bhagwati, einem Anwärter auf den Nobelpreis für Ökonomie, die wirtschaftstheoretische Zunft dort angelangt, wo sich bereits die klassische Freihandelsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert versucht hat: der Bevölkerung allgemeinverständlich nahe zu bringen, warum der Freihandel zu ihrem Besten ist.

Die Theorien sind schön …
Fast genauso alt wie die Theorie und Praxis des Freihandels ist die Kritik daran. Diese bewegt sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen, und nicht selten trifft sie ihren Gegenstand eher schlecht als recht.
Eine erste Kritiklinie versucht Ricardos Theorem von den komparativen Kostenvorteilen kritisch zu reformulieren oder dessen kritische Punkte auszuleuchten. So argumentierten beispielsweise viele Dependenztheoretiker, dass im Falle von Dritte-Welt-Ländern mit einer Spezialisierung der Produktion eine zunehmende Abhängigkeit vom Welthandel verbunden sei und somit die Gefahr von Krisen. Bei einseitiger Ausrichtung auf landwirtschaftliche Produktion mache sich ein Land von der Witterung abhängig, und die Monokultur wirke sich nachteilig auf die Qualität der Produkte und auf die natürlichen Ressourcen wie z.B. Böden aus.

Andere Dependenztheoretiker wie Arghiri Emmanuel, aber auch Marxisten wie Ernest Mandel betonten darüber hinaus in den 1960er und 70er Jahren im Anschluss an die marxsche Werttheorie den »ungleichen Tausch« zwischen den verschiedenen Ländern. Die Ausbeutung der Dritten Welt wurde von ihnen als Werttransfer gedacht. So geht Emmanuel davon aus, dass die Lohnunterschiede zwischen Peripherie und Zentrum größer seien als die Niveaus der Produktivität. Deshalb kann er auf Grundlage der ricardianischen Theorie der komparativen Kosten davon ausgehen, dass ein einseitiger Transfer von Werten stattfindet, und zwar von Süd nach Nord. Diese Grundüberlegung liegt auch der Fair-Trade-Bewegung zugrunde. Wie die »ricardianischen« Sozialisten des 19. Jahrhundert einen gerechten Lohn einforderten, geht die Fair-Trade-Bewegung davon aus, dass die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse des kapitalistischen Weltsystems durch »gerechte« Preise aufgebrochen werden können. Es wird somit ein bürgerliches Ideal, der gerechte Preis, gegenüber einer räuberischen Praxis, dem ungleichen und ungerechten Tausch, eingeklagt.

Das Theorem vom »ungleichen Tausch« wurde schon früh kritisiert, denn es beruht auf einer überkommenen marxistischen Werttheorie, die ähnlich wie Klassik und Neoklassik eine »Zwei-Welten-Lehre« vertritt. Das Geld dient, wie in der Neoklassik, nur als Schmiermittel des Tausches. Damit lässt sich die Vorstellung vom ungleichen Tausch bereits in den Grundannahmen in Frage stellen, weil sie lediglich einen Tausch von Arbeitsquanten unterstellt (etwa wenn in einem Produkt aus Afrika 20 Arbeitsstunden stecken, während in dem dagegen eingetauschten Produkt aus Deutschland nur eine Arbeitsstunde enthalten ist). In seiner naturalistischen Annahme von Arbeit, Ware und Wert unterschlägt das Theorem vom ungerechten Tausch jedoch den konstitutiven Charakter des Geldes, ohne welches überhaupt nicht von Wert gesprochen werden kann und welches eine untrennbare konstitutive Relevanz für den kapitalistischen Gesamtzusammenhang und damit auch für Lohnarbeit, ‚reale’ Produktion und Tauschvorgänge hat.

… aber die Realität ist hässlich
Eine zweite Form der Kritik, die insbesondere vom reformorientierten Flügel der heutigen globalisierungskritischen Bewegung formuliert wird, vergleicht das Ideal des Freihandels mit der Wirklichkeit. Der Freihandel wird gemäß seinen eigenen Maßstäben daran gemessen, was er als Befriedungs- und Demokratisierungsstrategie, als Wohltäter für Reich und Arm und Garant für ökonomische Stabilität leistet. In diesem Zusammenhang wird oft die widersprüchliche Politik der Industriestaaten kritisiert, vor allem die auf Freihandel drängenden USA und die EU, die zugleich manche heimische Wirtschaftssektoren mit hohen Zöllen oder Subventionen schützen. Auch im Zusammenhang mit protektionistischen Maßnahmen – die mal als unabdingbare Voraussetzung für Industrialisierungsprozesse in Dritte-Welt-Ländern, mal als Abschottung der Industrieländer gegen Produkte aus dem Süden interpretiert werden – wird die staatliche Wirtschaftspolitik von dieser Warte aus kritisiert.

Diese Form der Kritik misst zwar die Freihandelstheorie an ihren eigenen Ansprüchen und kann somit ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Die Vorstellung, dass der Staat eins zu eins für eine Umsetzung ökonomietheoretischer Konzepte wie der Freihandeltheorie zuständig ist, trifft jedoch wenig. Weil es dieser Form der Kritik an einer Staatstheorie fehlt, wird verkannt, dass der Staat in seiner Form und Funktionsweise einen »ideellen Gesamtkapitalisten« darstellt. Dieser kann sich durchaus auch gegen einzelne Kapitalfraktionen richten, wenn es erforderlich scheint.

Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Ende März 2003 mussten die USA vor der WTO eine Niederlage im Streit um ihre 30prozentigen Schutzzölle auf Stahlimporte einstecken. US-amerikanische Stahlerzeuger und Gewerkschaften waren angesichts dieses Schiedsspruchs der WTO beunruhigt, Zuspruch kam hingegen von der stahlverarbeitenden Industrie, zu deren Vorteil fortan die staatliche Zollpolitik gestaltet wurde. Die Stahlunternehmer mussten sich ebenso wie die StahlarbeiterInnen damit abfinden, dass das Interesse der stahlverarbeitenden Industrie an billigem ausländischen Stahl Berücksichtigung fand. Hier wird deutlich, dass weder das gesamte Kapital ein Interesse an Freihandel hat, noch dass eine Kapitalfraktion unmittelbar die staatliche Politik bestimmen kann. Beide Momente kommen in der Freihandelskritik meist zu kurz.

Das Beispiel verdeutlicht darüber hinaus, dass der »Handelskrieg« um den Stahl ohne unmittelbare Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auskam, er aber eine dritte, vermittelnde Instanz benötigte. Ausbeutung und Herrschaft findet heute nicht (mehr) in der Form von Raubzügen und Plünderungen statt, sondern in der Form des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft das Privateigentum vom Staat garantiert, der relativ autonom von allen Klassen und Klassenfraktionen existiert. Auf nationaler Ebene formuliert erst der Staat so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals. Davor stehen die Einzelkapitale in Konkurrenz zueinander. Über Aushandlungsprozesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit und im Diskurs um das »Allgemeinwohl« setzt der Staat ein allgemeines Kapitalinteresse nicht nur gegen, sondern auch mit Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durch und bringt somit alle Interessen in einen herrschaftsförmigen Konsens.

Auf internationaler Ebene gilt ähnliches: Die Staaten verhalten sich ebenso wie die Bürger als formal freie und gleiche (Völkerrechts-)Subjekte zueinander. Das ‚globale Allgemeinwohl’, welches das Allgemeinwohl der mehr oder weniger kapitalistischen Einzelstaaten darstellt, wird unter der Führung einer Hegemonialmacht im Rahmen von internationalen Institutionen wie der WTO ausgehandelt und formuliert. In diesen politischen Formen organisieren die Staaten internationalen Wettbewerb. Damit ist klar, dass kapitalistische Ökonomie sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene nicht ohne Staatlichkeit und politische Institutionen möglich ist. Markt und Staat sind zwar unterschiedliche gesellschaftliche Strukturierungsmodi. Eine Gegenüberstellung, bei der der Staat als positives Gegengewicht zum Markt dargestellt wird, verhindert jedoch nur die Etablierung einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik.

Gewalt, Lug und Trug?
In einer dritten Form der Kritik, die sich selbst oft als radikal versteht, wird Freihandel als ideologischer Schein einer im Kern räuberischen und gewalttätigen Herrschaftsausübung gebrandmarkt. Außenwirtschaft wird auf unmittelbare Gewaltakte, Raubwirtschaft und Plünderungszüge reduziert. Diese Form der Kritik kann bis auf die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg zurückverfolgt werden. Mit diesen begann eine Debatte um die »Vermachtung von Märkten«, gemäß der die Freiheit und Gleichheit im Tausch abgelöst wird von mächtigen Monopolen, die Monopolprofite durchsetzen – allem Gerede vom Freihandel zum Trotz mit protektionistischen Maßnahmen.

Diese Form antiimperialistischer Kritik findet sich bis heute in jeglicher Couleur, etwa bei Noam Chomsky, einer Leitfigur der globalisierungskritischen Bewegung. Er geht in anarchistischer Tradition affirmativ von bürgerlichen Formen von Freiheit und Gleichheit aus und kritisiert dann deren mangelhafte Umsetzung sowie die damit verbundenen personalen Herrschaftsverhältnisse. So heißt es in seinem Buch »War against People« (2003), Privatkonzerne seien eine »Form privatisierter Tyrannei«. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus scheine es keine »Alternative zu dem System eines von Staat und Konzernen betriebenen Merkantilismus [zu geben], das sich hinter Zauberformeln wie ‚Globalisierung’ oder ‚Freihandel’ versteckt.« Für Chomsky laufen vom Freihandel »vielleicht 70 Prozent der grenzüberschreitenden Transaktionen (die zu Unrecht ‚Handel’ genannt werden) tatsächlich innerhalb von zentral gesteuerten Institutionen« ab, und zwar »in Konzernen und Konzernverbindungen«, was eine »marktwidrige Wettbewerbsverzerrung« darstelle. Auch bei den so genannten Handelsabkommen gehe es »nicht um Freihandel«, sondern »diese Abkommen haben sehr stark gegen den Markt gerichtete Elemente«.

Der Markt erscheint somit bei Chomsky als Ideal und eben nicht als Instanz, die den nicht-personalen Zwang der ökonomischen Verhältnisse exekutiert. Gegenstand seiner Kritik ist nicht der Freihandel als konkrete Form bürgerlicher Tauschverhältnisse, sondern dessen angebliche Perversion durch einzelne Staaten, Konzerne und deren Tycoons. In bürgerlichen Gesellschaften ist die herrschende Form der Reproduktion jedoch weder durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, noch durch unmittelbaren Einsatz von Gewalt bei der Abpressung eines Mehrprodukts gekennzeichnet (wie z.B. Leibeigenschaft, Sklaverei). Zwar existieren diese Formen immer noch, besonders in nicht stabilen bürgerlichen Gesellschaften. Aber immer dort, wo sie auftreten, benötigen sie eine besondere ideologische (oft religiöse) Legitimierung, die mit Freihandelstheorie in der Regel nicht viel zu tun hat.

In seiner Kritik der politischen Ökonomie konnte Marx erklären, wie sich Ausbeutung und Herrschaft unter bürgerlichen Verhältnissen darstellen. In seinem Hauptwerk Kapital zeigte er, dass sich diese nicht-personalen Verhältnisse gegenständlich in Ware, Geld, Kapital und anderen ökonomischen Formen ausdrücken. Das Problem an den oben skizzierten Formen der Kritik an Freihandelstheorie ist demgegenüber, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem »idealen Durchschnitt« (Marx) gerade nicht Gegenstand von Kritik ist. Vielmehr wird ein kapitalistisches Ideal gegenüber einer schlechten, durchaus existenten Realität eingeklagt. Herrschaftskritisch mögen diese Formen der Kritik am Freihandel sein, mit einem avancierten kritischen Verständnis von Kapitalismus ist es dagegen nicht weit her.

Ingo Stützle

Eine kommentierte Literaturliste zu diesem Text ist unter www.iz3w.org zu finden.

Erschienen in: iz3w, Nr.289, 2005