Ist der Kapitalismus in einer Formkrise?

Vergleiche werden gern gezogen. Sie können Einschätzungen erleichtern – aber auch den Blick verstellen. Auch die Finanzkrise wird gegenwärtig gern mit 1929 verglichen. Weniger mit der letzten großen Krise ab Mitte der 1970er Jahre. Es sei mal dahingestellt, welcher Vergleich eher trägt und was derartige Vergleiche bringen. Setzten wir einmal voraus, wofür vieles spricht, dass wir es in jedem Fall mit einer Krise von ähnlichem Ausmaß zu tun haben. Welche Konsequenzen hat dies für die gesellschaftliche Verarbeitung der Krise? Hier kann Elmar Altvaters Unterscheidung von großer und kleiner Krise weiterhelfen (1).Elmar Altvater kritisiert zunächst, dass von einer Krise nicht erst dann gesprochen werden sollte, wenn sie einen politischen Charakter angenommen hat (2). Der Begriff der Krise mache wenig Sinn, so Altvater, wenn er nur bei einer existenziellen Gefährdung des gesamten Systems angewendet werde. Vielmehr müsse die Krise als spezifische Lösungsform der in den Kapitalismus eingeschriebenen Widersprüche verstanden werden (vgl. auch MEW 26.2, 514). Altvater schreibt:

“Als ein Prozess der Restrukturierung schafft die Krise gerade die Voraussetzung für eine neue Entwicklungsphase der kapitalistischen Gesellschaft, indem die hypertrophierten Widersprüche redimensioniert werden.”

Die Krise ist das reinigende Gewitter, das die Bedingungen für eine profitable Verwertung gewaltsam wieder hergestellt.

Interessant ist vor allem Altvaters Unterscheidung von kleiner und großer Krise:

” ‘Kleine Krisen’ können als die immer notwendigen Anpassungsprozesse innerhalb der von der Produktionsweise vorgegebenen Formen definiert werden. Die sind Krisen, da die Anpassung niemals ohne einen Eklat der Widersprüche stattfinden könnte und da mithin auch Bereinigungsprozesse notwendig werden. Also dienen kleine Krisen dazu, das immer prekäre Gleichgewicht innerhalb der historisch tradierten Formen wiederherzustellen, verstanden als die Reduzierung von Gegensätzen bis zu einem Maße, in dem sie sich wieder wechselseitig vermitteln lassen.”

Dieser Charakterisierung stellt er die großen gegenüber. Diese seien

“strukturelle Krisen, Formkrisen; in ihren reicht eine bloße Reduzierung von Gegensätzen nicht auf ein den tradierten gesellschaftlichen Formen vermittelbares Maß nicht aus. Die Form selbst steht zur Disposition.”

Weiter schreibt er:

“Im Rahmen der nicht starren, sondern veränderbaren Formen der gesellschaftlichen Reproduktion (einschließlich der Sozialintegration) sind Funktionen zu erfüllen, deren Gesamtheit die Formen der Gesellschaft näher bestimmen.”

Damit sind politische Verhandlungs- und Repräsentationsformen ebenso gemeint wie die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaates. Formen in denen durch Repression, Disziplinierung und soziale Zugeständnisse ein Konsens hergestellt wird. Diese gesellschaftlichen und politischen Formen, die Reproduktionsbedingungen einer konkreten kapitalistischer Gesellschaftsformation überhaupt ermöglichen, materialisieren sich in politischen und gesellschaftlichen Institutionen und verändern sich mit der Zeit – mitunter grundlegend. Auch wenn Altvater hier sehr abstrakt bleibt, erinnern diese Formulierungen stark an die sog. Regulationstheorie.

Eine große Krise würde sich demnach dadurch auszeichnen, dass sich auch das Ensemble der politischen und gesellschaftlichen Formen restrukturiert. Es gehe nicht einfach um eine Neuverteilung von Profit und Einkommen sowie eine zyklische Krise. Deshalb geht Altvater auch davon aus, dass die große Krise ab Ende der 1970er Jahre nicht einfach durch keynesianische Krisenregulierung hätte bereinigt werden könnten: Der Keynesianismus musste an der großen Krise scheitern. Ein Punkt, den sich viele Sozialdemokraten bisher nicht eingestehen wollen.

Nochmals Altvater:

“Wenn es also in der ‘kleinen’ Krise genügt, bei einer Störung des ‘Verteilungsgleichgewichts’ […] durch die Mittel der Umverteilung diese periodisch zu stabilisieren, steht in der ‘großen’ Krise die Form zu Disposition, in der primäre und sekundäre Verteilung vollzogen werden. Es geht also nicht allein um die Höhe von Profit und Profitrate, sondern um die gesellschaftlichen Formen der Lohnfindung, z.B. um das komplexe System industrieller Beziehungen mit einer Vielzahl von Kompromissinstitutionen”.

Wenn dies die wesentlichen Charakteristika einer großen Krise sind und die gegenwärtige Krise eine ähnliche Form annehmen wird, dann werden die kommenden Monate und Jahre mehr als spannend werden. Es wird nämlich nicht nur um die Frage gehen, wer die Zeche der Krise zahlen wird, wie weit Löhne sinken werden und durch Steuern und staatliche Programme jeglicher Art gesellschaftlicher Reichtum umverteilt wird. Es wird vielmehr um die politischen und sozialen Formen gehen, in welchen bisher gesellschaftliche Widersprüche und Interessen ausgehandelt, kanalisiert und herrschaftsförmig verarbeitet wurde. Dies ist kein Prozess, der einem vorgegebenen Muster abläuft oder dessen Resultat bereits in der Krisendynamik angelegt ist. Es ist und wird ein zutiefst umkämpfter Prozess sein. Nicht nur zwischen Lohnarbeit und Kapital, sondern auch zwischen einzelnen Kapitalfraktionen. Das Kapital hat den Federhandschuh inzwischen aufgenommen. Die subalternen Klassen warten wohl noch auf eine Einladung – von wem ist mir allerdings nicht so recht klar.

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1) Altvater, Elmar (1983): Der Kapitalismus in der Formkrise. Zum Krisenbegriff in der politischen Ökonomie und ihrer Kritik, in: Aktualisierung Marx’ (Argument Sonderband AS 100), Berlin, 80-100.
2) Hier ließe sich an Nicos Poulantzas Unterscheidung anschließen, die Thomas Sablowski in seinem Beitrag für Poulantzas lesen anhand dessen Faschismusanalyse diskutiert hat.