»Was machst Du denn gerade?« In der Linken wird seit einiger Zeit viel über Prekarisierung diskutiert – Proletariat war gestern

Teile der Linken haben ein neues Subjekt entdeckt und das Feuilleton eine neue Spezies – den Homo precarius. Noch vor einem Jahr haben sich linke Aktivisten hierzulande nur schwer mit dem Begriff Prekarisierung verständlich machen können. In anderen Ländern – wie Italien oder Frankreich – ist er schon seit längerem zentraler Bestandteil sozialer Kämpfe. Inzwischen scheint er auch im deutschen Sprachgebrauch angekommen zu sein. Soziale Realität ist er schon lange.

Prekarisierung – was bis vor kurzem vereinfachend mit atypischer Beschäftigung übersetzt wurde – ist inzwischen selbst zur Normalität geworden. Das müssen Eltern erfahren, die ihren Kindern monatelange Praktika finanzieren müssen, und Großeltern, die auf die Frage, was die Enkelkinder von Beruf seien, nur ein Schulterzucken als Antwort bekommen. Da haben es Kinder – aber auch Enkelkinder – in den USA schon einfacher. Hier wird nämlich die Frage meist konsequent anders gestellt: »Was machst Du denn gerade?«
Mit Prekarisierung soll die Zunahme an Unsicherheit nicht nur (in) der Arbeit bezeichnet werden, sondern aufgrund der Entgrenzung von Leben und Arbeit die umfassende Verunsicherung des menschlichen Daseins. Dabei steht weniger Verarmung im Mittelpunkt des Interesses. Armut ist vielmehr ständig als Damoklesschwert präsent und liefert der ideologischen Anrufung des Neoliberalismus eine soziale Grundlage: »You can do it if you really want«.
Es stellt sich indes die Frage, was hieran neu sein soll. Schließlich schrieb bereits Karl Marx vor 150 Jahren: »In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Pauper ist: virtueller Pauper«. Dass Menschen dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf den Markt zu tragen, bedeutet also immer schon die Möglichkeit, dass die Ware Arbeitskraft entweder gar nicht oder nur zu einem nicht existenzsicherden Lohn verkauft werden kann.

Versperrter Blick

Während diese Feststellung gegen scheinbar modische Begriffe der Linken deutlich macht, dass der Fordismus – die relativ kurze Phase des prosperierenden und fast krisenfreien Kapitalismus bis Mitte der 1970er – eine Ausnahme war, verliert sie aus dem Auge, was sich en détail geändert hat und versperrt sich so den Blick für mögliche und adäquate Gegenstrategien. Diese Auseinandersetzung findet auf einer anderen Ebene ihre Fortsetzung. Während die einen betonen, dass Prekarität das Proletariat immer ausgezeichnet hat, schwören andere eine neue Form des Proletariats herauf. Die verallgemeinerte Unsicherheit sei die soziale Grundlage eines neuen Subjekts – des Prekariats. Gerade die gemeinsame Betroffenheit mache es möglich, die bisher getrennt geführten oder eben gerade nicht geführten Kämpfe zu verbinden.

Dem entgegnen vor allem diejenigen, die froh sind, dass endlich das scheinbar zentrale Subjekt der Geschichte – die weiße männliche Arbeiterklasse – von der Leinwand verschwunden ist, dass es nicht Ziel sein könne, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, das heißt, ein einheitliches Subjekt zu halluzinieren, das nur noch wachgeküsst werden müsse. Diese Sichtweise würde die unterschiedlichen sozialen Realitäten ausblenden. Denn auch wenn eine illigale weibliche Putzkraft ebenso vom Prozess der Prekarisierung betroffen sei wie ein männlicher Werbegraphiker mit Hochschulabschluss, so seien nicht die Voraussetzungen, unter denen Kämpfe geführt werden könnten, und die Interessen sehr unterschiedlich. Sondern auch und vor allem wie der Alltag bewältigt werden könne. Mit dem Begriff des Prekariats würden vorschnell Widersprüche und Unterschiede eingeebnet – mit weitreichenden Folgen für politische Gegenstrategien.
Diese könnten nicht unterschiedlicher sein. So scheint prekäre Realität vieler Menschen – ob mit oder ohne Arbeit – vor allem bei den Gewerkschaften noch immer nicht angekommen zu sein. Schließlich ist die Prekarität in der Mitte des Arbeitsmarktes angekommen: Eine grundsätzliche Befristung der Arbeitsverhältnisse hat sich inzwischen bei kleinen und mittleren Betrieben nahezu flächendeckend durchgesetzt. Auch das Gesetz der großen Koalition vom November 2005, das die Probezeit beim Einstieg in einen Job auf zwei Jahre verlängert, führte zu keinem Aufschrei. Ganz anders im Frühjahr dieses Jahres in Frankreich, wo eine ähnliche Gesetzesänderung zu nahezu flächendeckenden Protesten führte.

Traditionen verhaftet

Inzwischen herrscht in allen Arbeitsverhältnissen, auch in Großbetrieben, das Leitbild des so genannten Arbeitskraftunternehmers, der ganz ohne Stechuhr und Vorarbeiter sich selbst aktiviert und kontrolliert.
An dieser inzwischen schon nicht mehr all zu neuen Realität geht die gegenwärtige Kampagne der Gewerkschaften – die Forderung nach Mindestlohn – vorbei und bleibt in traditionellen Strategien verhaftet. Auch wenn die Forderung durchaus Sinn macht, bleibt sie begrenzt – vor allem auf legal hier lebende Menschen mit Arbeit. Demgegenüber wird von vielen Linken, von der radikalen Linken bis zu Attac, ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert. Aber auch wenn diese Forderung durchaus universeller angelegt ist und die Frage nach Existenzsicherung jenseits des Zwangs zu Lohnarbeit richtig und anders gestellt wird, so ist unklar, wer diese Forderung durchsetzen soll. Damit drängt sich die Mutter aller Fragen auf – die nach der Klassenkonstitution. Aber diese ist angesichts der deutschen Realität mit kaum existierenden sozialen Kämpfen schwer zu artikulieren.

Ingo Stützle

Erschienen in: Neues Deutschland v. 21.07.2006