Aufgeblättert: Wahlen im Maßnahmenstaat Griechenland

»Seit den Kreditverträgen vom Mai 2010 zwischen Griechenland, der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds stehen alle zentralen Entscheidungen des griechischen Parlaments unter dem Vorbehalt der Gläubiger« – so der Klappentext zu Gregor Kritidis Buch »Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmenstaat«. Und man möchte ergänzen: Selbst die Wahl des Parlaments steht unter Vorbehalt. Zumindest wenn man den deutschen Pressekommentaren lauscht. Denn seit dem klar ist, dass im Januar Neuwahlen anstehen und die Linkspartei SYRIZA laut Umfragen die stärkste Kraft ist, dreht vor allem die deutsche Politikelite am Rad. Obwohl klar ist, dass es keine rechtlichen Möglichkeiten gibt, dass Griechenland die Eurozone verlässt, wird das Grexit-Szenario angerufen und somit deutlich gemacht: die EU und auch der Euro beruhen vor allem auf Machtverhältnissen, die Deutschland bestimmt und bestimmen will. In den kommenden Wochen wird sich deshalb auch zeigen, wie es EU- und Euro-Institutionen gelingt, sich gegen Deutschland durchzusetzen.

Die gegenwärtige Debatte ist die Spitze eines Eisbergs, Ausdruck der autoritären Krisenpolitik der letzten Jahre, die Kritidis in seinem Buch in neun Abschnitten nachzeichnet. Griechenland, so die Frage im Titel, auf dem Weg in den Maßnahmenstaat? Den Begriff Maßnahmenstaat hat Kritidis von Ernst Fraenkel übernommen, der in seiner Analyse des Faschismus nachzeichnet, wie sich die Logik eines Maßnahmenstaats gegenüber dem Normenstaat zunehmend Bahnen bricht.

Wer wissen will, wie die »verordnete Schocktherapie« (Kritidis) Griechenland in eine soziale und politische Krise trieb, sollte das Buch zur Hand nehmen. Der Zerfall der demokratischen Institutionen, die Verelendung und der Aufstieg der extrem rechten Kräfte sind kein Zufall, sondern Ergebnis der Troika-Politik zugunsten der Gläubiger-Institutionen und -Staaten. Die gesammelten Beiträge verstehen sich als Aufklärung und Form von Gegenöffentlichkeit in einer Zeit, in der Unwissenheit und Ressentiments die Berichterstattung und Deutung der Eurokrise prägt. So kurz vor den Wahlen in Griechenland, sind dem Buch noch viele LeserInnen zu wünschen.

FAQ. Noch Fragen? Investitionslücke

Nachdem das Haushaltsloch gestopft ist und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine schwarze Null schreiben kann, war plötzlich in der Zeitung von einem neuen Mangel zu lesen: Um eine bestehende »Investitionslücke« zu stopfen, seien bis 2017 jährlich mehrere Milliarden Euro notwendig – so ein Gutachten der Ökonomen Henrik Enderlein und Jean Pisani-Ferry für das deutsche Wirtschaftsministerium. Bereits im August 2014 hatte das Deutsche Wirtschaftsinstitut (DIW) behauptet, dass schwache Investitionen ein geringes Wachstum zur Folge hätten. Warum aber sollen ausbleibende Investitionen dafür verantwortlich sein, dass die Wirtschaft kaum wächst? Wenn keine Investitionen getätigt werden, werden keine Arbeitskräfte engagiert, werden keine Rohstoffe und Produktionsmittel gekauft – und keine Waren hergestellt, die wiederum verkauft werden. Okay. Aber gilt der Satz nicht auch anders herum? Sind die Investitionen nicht deshalb so schwach, weil die Wirtschaft kaum wächst? Wann sind Unternehmen bereit, Geld in die Hand zu nehmen, sogar Kredite aufzunehmen und zu investieren, das heißt Geld für Löhne, Rohstoffe und Produktionsmittel auszugeben? Genau, dann, wenn die Wirtschaft wächst, Profite winken, aus investiertem Geld (G) mehr Geld (G’) wird. Es zeigt sich also, dass Investitions- und Wachstumsschwäche zwei Seiten einer Medaille sind, nämlich der kapitalistischen Verwertungslogik, deren unmittelbarer Zweck die Verwertung von Geldkapital ist – und der »ultimative Zweck allen Wirtschaftens« ist eben nicht, wie ZEIT-Wirtschaftsredeakteur Mark Schiernitz im Zuge der Debatte um die Investitionslücke behauptete, »der Konsum«. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Investitionslücke”

Aufgeblättert: Stefan Beck zur deutschen Exportorientierung

Im Zuge der Eurokrise wurde oft kritisiert, dass Deutschlands Wirtschaft stark auf den Export ausgerichtet ist, eine sogenannte merkantilistische Strategie fährt. Die dadurch entstehenden Handelsungleichgewichte, wenn einige Länder mehr exportieren als importieren, wirken destabilisierend – vor allem dann, wenn man eine gemeinsame Währung hat: den Euro. Dass die deutsche Strategie kein neues Phänomen ist, zeigt Stefan Beck in seiner wichtigen Studie über die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1950er Jahren. Er stellt dabei zwar einen Wandel innerhalb der Exportorientierung ab den 1980ern fest, als Deutschland verstärkt auf den europäischen Binnen- und den Weltmarkt setzte, aber der Export spielte seit dem Koreakrieg Anfang der 1950er Jahre immer eine besonders wichtige Rolle. Während in der ersten Phase hohe Löhne und Wirtschaftswachstum noch keinen Widerspruch zur Exportorientierung darstellten, ist die Phase seit den 1990er Jahren von einer »Unterdrückung lohngetriebener Wachstumsimpulse« geprägt. Ein sogenannter selektiver Korporatismus, der Teile der Gewerkschaften und der Lohnabhängigen auf Kosten anderer Teile einbindet, sicherte selbst bei sinkenden Löhnen das »Modell Deutschland«. Beck zeigt also, dass das, was die Gewerkschaften derzeit beklagen – schwache Binnenwirtschaft aufgrund niedriger Löhne – etwas ist, was sie aktiv mitgetragen haben bzw. das gegenwärtige wettbewerbsorientierte Modell gerade ausmacht.

Ingo Stützle

Stefan Beck: Vom Fordistischen zum Kompetitiven Merkantilismus. Die Exportorientierung der Bundesrepublik Deutschland zwischen Wirtschaftswunder und Europäischer Krise. Metropolis, Marburg 2014. 426 Seiten, 38 EUR.

Erschienen in: ak — ana­lyse & kri­tik. Zei­tung für linke Debatte und Pra­xis, Nr. 600 vom 16.12.2014.