Europa diskutieren. Nach dem ESM-Urteil ist eine solidarische Politik von unten nötig

»Mit diesem Vertrag beginnen Sie die Gründung einer europäischen Föderation, der Vereinigten Staaten von Europa, und zwar über eine Fiskalunion«, erklärte der Vorsitzende der Linksfraktion Gregor Gysi Ende März 2012 vor dem Bundestag und schlussfolgerte, dass der zur Debatte stehende Fiskalvertrag verfassungswidrig sei. Als hätte Gysi hellseherische Fähigkeiten, verkündete EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am 12. September 2012, dem Tag des ESM-Urteils durch das Bundesverfassungsgericht, eine »Föderation der Nationalstaaten«. »Dies bedeutet eine Union mit den Mitgliedstaaten, nicht gegen die Mitgliedstaaten«, so Barroso weiter. Continue reading “Europa diskutieren. Nach dem ESM-Urteil ist eine solidarische Politik von unten nötig”

FAQ. Noch Fragen? Draghikomödie: Viel Lärm um nichts

Nachdem EZB-Chef Draghi bekannt gab, dass die Europäische Zentralbank (EZB) unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen würde, war die Aufregung groß – zumindest in den deutschen Medien. Die Springerzeitung Die Welt (6.9.2012) beklagte, dass die Finanzmärkte den »Tod der Bundesbank« bejubelten; Nikolaus Blome bedauerte auf bild.de einen »Blanko-Scheck für Schulden-Staaten« und fragte rhetorisch, ob »Draghi damit den Euro kaputt« mache?

Angela Merkel hingegen gab zu Protokoll, dass das Aufkaufprogramm vom EZB-Mandat gedeckt sei. Selbst Bundesbankchef Jens Weidmann, der als einziger Vertreter im EZB-Rat gegen die Wiederaufnahme des Aufkaufprogramms stimmte, vermied es geflissentlich, zu behaupten, das Programm sei illegal. Vielmehr sprach er im Vorfeld von »Bauchschmerzen«, die er bei diesem »heiklen« Vorhaben habe, das er »jedenfalls vermeiden« wolle. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Draghikomödie: Viel Lärm um nichts”

ak-Sonderseite zum Verhältnis von Parteien, organisierter Linke und Bewegungen

Anfang Juni 2012 wurden in Göttingen Katja Kipping und Bernd Riexinger zu den Vorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt. Eine Fortsetzung des selbstzerstörerischen innerparteilichen Konflikts schien vorerst abgewendet zu sein. Diesen »Kurswechsel« nahmen 18 Linke aus sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Gewerkschaften zum Anlass, öffentlich ihren Eintritt in die Partei zu erklären. Dieser Schritt löste eine Debatte aus, die in ak 574 in Ausschnitten dokumentiert und in einem polemischen Aufmacher kommentierten wurde. Es war (und ist) der ak-Redaktion unklar, was die GenossInnen mit dem Eintritt in die Partei politisch bezwecken wollen.

Die ak-Redaktion argumentiere an der Problematik vorbei, kritisiert Mario Candeias, der zu den 18 Neumitgliedern zählt. In einem an die ak-Redaktion adressierten Text verdeutlicht er die Gründe der Initiative und plädiert für ein anderes Parteiverständnis. Auch Raul Zelik antwortete der ak-Redaktion und mir, da ich in einem Offenen Brief an Raul Zelik wenig Verständnis für die Initiative gezeigt hatte. Die meisten Debattentexte in diesem Zusammenhang sind auf der Website Lafontaines Linke dokumentiert. Die ak-Redaktion hat nun Debattenbeiträge der letzten Jahre auf einer Sonderseite zusammengestellt.

Aus einem finanztheoretischen Lehrbuch von 1969

Vor der Durchssetzung der Neoklassik als Mainstream konnte noch Unerhörtes in finanztheoretischen Lehrbüchern[1. Horst Claus Recktenwald (Hg.): Finanztheorie, Köln-Berlin 1969] behauptet werden, nämlich dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen durch die Drosselung der öffentlichen Nachfrage gegen die ökonomische Vernunft verstoße: Die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften hätten bis nach dem Zweiten Weltkrieg

»Enthaltsamkeit des Staates, Budgetausgleich wegen Inflationsgefahr (!) und neutrale Finanzpolitik [gefordert] […]. Alles das klingt heute selbst in den Ohren jedes Erstsemesters als eine Herausforderung, da bewusste Drosselung der öffentlichen Nachfrage […] gegen elementare ökonomische Vernunft verstößt. Die hausbackene, biedere Vorstellung, was für den einzelnen gut sei, sei auch stets für die Gesamtwirtschaft richtig, erwies sich als falsch.« (S. 16, HerV.: I.S.)

So liest sich die Kehrseite eines wirtschaftspolitischen und wirtschaftstheoretischen Paradigmenwechsel.

Ist die ganze Welt bald pleite?

Viele fragen sich noch immer: Ist die ganze Welt bald pleite? Die gleichnamige Bildungsbroschüre zu Staatsverschuldung, die ich zusammen mit Stephan Kaufmann verfasst habe, liegt endlich in in der vierten und überarbeiteten Auflage vor und ist über die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu beziehen.

Aus der Einleitung:

In den 1990er Jahren war es die «Globalisierung», heute gilt die «Staatsverschuldung» als das zentrale Problem der Weltwirtschaft. Der Grund: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind es nicht die sogenannten Entwicklungsländer, die eine Schuldenkrise erleben, sondern die etablierten Industriestaaten. In Europa sind einige Regierungen zahlungsunfähig geworden und müssen von anderen Staaten finanziert werden. In den USA wachsen die Staatsschulden in Höhen, die sonst nur nach Kriegen erreicht werden. «Geht bald die ganze Welt pleite?», fragt die Bild-Zeitung (13.7.2011), und der Spiegel (32/2011) titelt «Geht die Welt bankrott?».

In der öffentlichen Diskussion scheinen zwei Dinge klar: Staatsschulden sind schlecht. Und sie sind zu viel. «Sparen» ist daher das Gebot der Stunde. Die Staaten wollen «schlanker» werden, öffentliches Eigentum wird privatisiert, das nationale Lohnniveau soll sinken, um die «Wettbewerbsfähigkeit» des Standortes zu erhöhen. Die Staatsverschuldung zeitigt damit die gleichen politischen Maßnahmen wie das Schreckensgespenst «Globalisierung» im Jahrzehnt zuvor.

Nun haben sich alle Regierungen der Industrieländer vorgenommen, härter zu sparen. Dies trifft vor allem die Armen in Form von Sozialkürzungen – in allen Ländern. Warum ist das eigentlich so? Wo kommen überhaupt die ganzen Schulden her? Warum machen alle Staaten Schulden – obwohl sie allgemein als Übel gelten? Und warum streicht man die Schulden nicht, wenn schon die ganze Welt unter ihnen leidet? Dies sind einige Fragen, die diese Broschüre beantworten will. Sie will nicht behaupten, Staatsschulden seien eigentlich kein Problem. Sondern sie will zeigen, welchem Zweck Staatsschulden dienen, wann sie zu einem Problem werden – und für wen. Denn am Ende sind Schuldenfragen immer Verteilungsfragen: Einige müssen zahlen, andere dürfen verdienen.

CfP: Demokratie und Herrschaft, Parlamentarismus und Parteien

Die Prokla-Redaktion lädt zur Einsendung von Exposees zum Thema Demokratie und Herrschaft, Parlamentarismus und Parteien:

Nicht erst infolge der großen Krise ab 2008 wird eine Erosion der Demokratie konstatiert. Dies geschieht seit langem. In der linken Diskussion stehen dafür die Namen Agnoli, Poulantzas, Hirsch und jüngster Zeit Crouchs Diagnose von der Postdemokratie. Aber gibt es tatsächlich ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ Demokratie? Kann es einen kontinuierlichen Abbau der Demokratie geben? Wann gab es denn die ‚wirklich‘ demokratischen Verhältnisse?

Weiterlesen bei PROKLA.

Addendum on Graeber’s Debt

»It is probable that the majority of the difficulties of contemporary ethnology and anthropology arise from their approaching the ›facts‹, the ›givens‹ of (descriptive) ethnography, without taking the theoretical precaution of constructing the concept of their object: this omission commits them to projecting on to reality the categories which define the economic for them in practice, i.e., the categories of the economics of contemporary society, which to make matters worse, are often themselves empiricist. This is enough to multiply aporia.« (Althusser/Balibar, Reading Capital)

»The habit of always saying ›please‹ and ›thank you‹ first began to take hold during the commercial revolution of the sixteenth and seventeenth centuriesamong those very middle classes who were largely responsible for it. It is the language of bureaus, shops, and offices, and over the course of the last five hundred years it has spread across the world along with them. It is also merely one token of a much larger philosophy, a set of assumptions of what humans are and what they owe one another, that have by now become so deeply ingrained that we cannot see them .« (Graeber 2011, 124)

David Graeber presents his book »Inside Occupy« / CC-Lizenz/Tine Nowak

I had already written an addendum for the German version of the review I wrote of David Graeber’s Debt for the newspaper ak – analyse und kritik. Some points had only been touched upon; in the case of others, my intent was known only to those familiar with certain debates (alluded to between the lines). For that reason, I wrote a short, summary addendum.[1. Whoever has not read my ak review should read it first. I do not explicitly deal here with some points that are already addressed there.] For this translation, I have revised the addendum, in order to more precisely address some points after David Graeber heavily criticized me for my review. The heated reaction, also from and toward other individuals, was and is disturbing for me and can hardly be attributed to differences concerning matters of substance. It’s also probably not a mere coincidence that only men had their say. Also, a staccato in 140-character tweets and commentary at various places on the Internet (instead of where the text originally appeared) were not very encouraging for a meaningful debate based upon mutual understanding. In the meantime, the debate on Graeber’s debt has advanced. A very intensive discussion is still going on, for example with regard to Mike Beggs’ review in Jacobin magazine and on the blog Crooked Timber. Unfortunately, I was not able to take any new aspects or arguments arising from this discussion into consideration.

Just one more preliminary note, since the battle lines of »Marxist« vs. »Anarchist« were all too quickly drawn. Many points of my critique of the conceptual and theoretical approach of Debt also apply to the historical work of Marxists. In their case, the forces of production or class struggle are the trans-historical constants. For that reason, they are also »ahistorical«, despite their historical self-conception. More on that shortly.

For these reasons, and in the hope for better understanding, I have requested that the addendum also be translated. So I’d like to here say »many thanks«. Continue reading “Addendum on Graeber’s Debt”

Der zerbrochene Kopf des Kapitals

In der Diskussion über Sahra Wagenknechts politische Aneignung einiger Begriffe von Ludwig Erhard und über die Frage, ob die Linke – nicht nur die gleichnamige Partei – die Krise theoretisch auf ausreichendem Niveau reflektiert, haben im neuen deutschland bereits Ulrike Herrmann von der “Tageszeitung” (hier) und Albrecht von Lucke von den “Blättern für deutsche und internationale Politik” (hier) ihre Positionen dargelegt. Ingo Stützle fordert eine Krisenanalyse, der es um die Veränderung der Verhältnisse geht. Warum nicht Roosevelt?, fragte Ulrike Herrmann unlängst und kritisierte, dass Sahra Wagenknecht auf den Liberalen Ludwig Erhard hereinfalle. Stimmt gar nicht, schreibt nun Ingo Stützle – und fordert eine linke Krisenanalyse, der es nicht um die Einhaltung ordnungspolitischer Ideen geht, sondern um die Veränderung der Verhältnisse.

Die Krise brachte nicht nur Banken- und Unternehmenspleiten, Armut und explodierende Staatsschulden mit sich, sondern auch eine tief greifende Verunsicherung der ökonomischen Zunft und der bürgerlichen Klasse. Diese fanden im Feuilleton zusammen: Gleich hinter dem Wirtschaftsteil wird seit Monaten in allen größeren Zeitungen darüber diskutiert, welche Verantwortung die Wirtschaftstheorie für die Krise hat, welche Grundannahmen realitätsfern sind und wohin die Reise theoretisch wie wirtschaftspolitisch gehen soll.

Diese Debatte ist interessant und lässt zuweilen tief blicken. Die Linke sollte sich jedoch nicht zu früh freuen, schließlich findet hier eine bürgerliche Selbstverständigung statt, bei der sie wenig zu gewinnen hat. Es geht bei diesem Diskurs nicht darum, den Kern der Krise anzugehen, den Kapitalismus, sondern vielmehr darum, die bürgerliche Gesellschaft vor destruktiven Momenten zu schützen. Das zeigt sich auch an Ulrike Herrmanns Kritik an Wagenknechts Erhard-Rezeption. Aber eins nach dem anderen.

Zurecht nimmt Ulrike Herrmann die eigenartige Begeisterung von Sahra Wagenknecht für Ludwig Erhard vor. Sie konzentriert sich hierbei auf seine wirtschaftstheoretischen Annahmen, die an zentralen Punkten mit Wagenknechts Marx-Verständnis übereinstimmen. Herrmann erwähnt jedoch nicht Erhards Rolle als Berater bei der Wirtschaftsintegration der besetzten Gebiete ins Deutsche Reich nach 1939, als Leiter des Instituts für Industrieforschung, bei der Planung einer Nachkriegsökonomie oder bei den westdeutschen Konzepten zur Annexion der DDR ab 1952. Auch geht Herrmann nicht darauf ein, woran Erhards Herzblut nach 1949 hing: an der Verhinderung des Keynesianismus in Deutschland. Ein Programm, das wunderbar in den antikommunistischen Grundkonsens der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft passte. Schließlich kennzeichnete „Staatsintervention” die sogenannte NS-Befehlswirtschaft und die Planwirtschaft „von drüben”. Der Siegeszug der ordoliberal ausgerichteten »Sozialen Marktwirtschaft« ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Allerorten willkommene Gesprächspartnerin

Wagenknecht scheint aber – entgegen Herrmanns Vermutung – vor allem einen taktisch-strategischen Grund zu haben. Wie Erhards »Wohlstand für alle« eine Wahlkampfschrift ist, so klug nutzt Wagenknecht die Ideen des Ordoliberalen mit Zigarre, um die politische Klasse hinsichtlich ihrer Krisenpolitik vorzuführen und zu blamieren, indem die Kommunistin sie ständig an ihre eigenen Prinzipien misst und erinnert. Das klappt auch ganz gut, sonst wäre Wagenknecht nicht allerorten willkommene Gesprächspartnerin. Allerdings könnte diese Strategie Wagenknecht schon bald auf die Füße fallen, wenn die WählerInnen lieber beim ordnungspolitischen Original das Kreuz machen.

Der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) schrieb 2008 in der “Frankfurter Allgemeinen”: »Wie in jeder Katastrophe darf der Staat retten, aufräumen, wiederaufbauen. Dann aber muss er wieder heraus aus den wirtschaftlichen Prozessen des Tages und zurück in die Schranken des Regelwerkes.« Dieses Selbstverständnis prägt seit Beginn die deutsche EU-Krisenpolitik. Im Rahmen dieses politischen Selbstverständnisses wird die Krise, so schrieb Michael Wohlgemuth vom ordoliberalen Walter Eucken Institut 2009 im »Wirtschaftsdienst« in Anlehnung an Carl Schmitt treffend, als »Ausnahmezustand« wahrgenommen, der es erlaubt, wirtschaftspolitische Mittel einzusetzen, »die im Normalzustand aus guten Gründen als nicht markt- oder systemkonform, als wenig verfassungs- oder verhältnismäßig oder auch als schlicht ökonomisch schädlich abgelehnt worden wären«.

Während Wagenknecht sich an der gegenwärtigen Feuerwehrpolitik in Krisenzeiten abarbeitet, müsste eine linke Krisenanalyse und -politik vielmehr zeigen, warum der Kapitalismus notwendigerweise krisenhaft ist und es deshalb wenig hilfreich ist an der Einhaltung ordnungspolitischer Ideen mangelt, sondern es einer grundlegenden Veränderung der ökonomischen Verhältnisse bedarf.

Traditionelles Marx-Verständnis und Neoklassik

Herrmann trifft jedoch auch einen richtigen Punkt: Das traditionelle Marx-Verständnis teilt mit der Neoklassik die Vorstellung, dass Geld für kapitalistische Produktion und Warenzirkulation keine konstitutive Rolle spielt. Der späteren Staatsideologie Marxismus-Leninismus war es wichtig, den Klassencharakter des und die Ausbeutung im Kapitalismus herauszustellen. Diese kennzeichnen ihn aber gerade nicht, sondern sind für jede Gesellschaft charakteristische gewesen. Marx’ zentrale Fragestellung war deshalb, welche spezifischen Formen Herrschaft, Arbeit und Ausbeutung im Kapitalismus annehmen. Ein Charakteristikum sind deren unpersönliche und sachvermittelte Form: Staat und Geld.

Hinsichtlich des Geldes stellte dies bereits der unter Stalin ermordete Marxforscher Isaak Rubin heraus. Dieser Punkt wurde in der Debatte um die sogenannte monetäre Werttheorie weiter herausgearbeitet. Es konnte gezeigt werden, dass Marx zentrale Kritik an der ökonomischen Klassik war, dass sie den Zusammenhang von Arbeit und Geld nicht verstand und damit die geld- und kreditvermittelte Form der Produktion nicht adäquat analysieren konnte. Das Geld fungiert Marx zufolge quasi als Vergesellschaftungsinstanz für die voneinander getrennten Warenproduzenten. Inzwischen wurde hierzu viel publiziert; dominant ist leider nach wie vor ein sehr traditionelles Marxverständnis.

Hinsichtlich der Frage des monetären Charakters der Produktion sind sich Keynes und Marx näher, als so manche Marxistin glauben will. Im Gegensatz zu Keynes greift Marx aber Geld nicht einfach als überhistorische Gegebenheiten des menschlichen Lebens auf, sondern zeigt, warum Geld eine dem Kapitalismus eigentümliche Form der Vermittlung des gesellschaftlichen Stoffwechsels ist – und eben keineswegs eine quasinatürliche Einrichtung.

Was Keynes nie begrifflich durchdrungen hat

Vor diesem Hintergrund kann Marx die Banken als Sammelstelle des Geldkapitals thematisieren und wie das Kreditsystem als strukturelle Steuerungsinstanz das anlagesuchende Kapital auf profitable Sphären verteilt. Eine Verteilung, die selbst profitgetrieben vonstatten geht, weil Geld zu einer Ware sui generis wird und derart den krisenhaften Charakter der kapitalistischen Produktionsweise noch verstärkt. Aber das ist noch nicht alles: Marx ist der bisher einzige Ökonom, dem es gelungen ist, im Rahmen seiner Ökonomiekritik Wertpapiere als fiktives Kapital zu begreifen, als eine Verdoppelung von Kapital, die in einer vom fungierenden Kapital getrennten Form eine eigene Preisbewegung annehmen kann – die Grundlage für eine »Vermögensblase«. Keynes hat diesen Zusammenhang begrifflich nie durchdrungen, sondern ihn nur beschrieben.

Herrmann liegt deshalb mit ihrer Kritik nur zum Teil richtig – sie trifft bei Wagenknecht zurecht ein traditionelles Marxverständnis, geht aber an Marx selbst völlig vorbei. Auch stößt sie an politische Grenze. Marx ging es eben nicht – wie etwa Keynes – darum, den Kapitalismus vor seiner eigenen Destruktivität zu schützen. Während Herrmann an diesem Programm festhält, deshalb eine Lanze für Roosevelt bricht, bleibt Wagenknecht in ihrer traditionellen marxistischen Vorstellung befangen und setzt dem kapitalistischen Profitwahn vor allem den Staat entgegen.

Herrmann findet sich in ihrer Forderung, dass sich Löhne an der Produktivität orientieren sollen nicht nur ökonomisch bei Erhard und Keynes wieder, sondern auch politisch bei der von Erhard Mitte der 1960er Jahre geforderten »formierten Gesellschaft«. Denn nur wenn Lohnarbeit und Kapital sich einem gemeinsamen Ziel oder Gemeinschaftssinn unterordnen, etwa dem deutschen Standort, das den Klassenantagonismus überschreibt, kann diese scheinbar vernünftige Forderung garantiert werden. Es waren auch keynesianistischen Wissenschaftler, die in den 1970er Jahren vor ausufernden Arbeitskämpfen und überzogenen Lohnforderungen warnten.

Aber auch der Staat ist kein Gegenprinzip zu Kapitalismus, wie Wagenknecht und viele staatstragende Linken glauben. Als ideeller Gesamtkapitalist ist seine Aufgabe, dass trotz Krisen und Klassenkämpfen die Verwertung des Kapitals langfristig garantiert ist. Eine Aufgabe, die selbst Resultat eines krisenhaften, hoch konfliktiven und umkämpften Prozesses ist. Soll es aber darum gehen, die Krise wirklich im Sinne einer emanzipatorischen Befreiungsperspektive zu nutzen, dann müsste es darum gehen, dem Staat und der privat organisierten, auf Profit ausgerichteten Wirtschaft die Organisationsleitungen für die Gesellschaft abzuringen. Nicht Wettbewerbsfähigkeit oder Verstaatlichung sollten auf ganz oben Agenda stehen, sondern die Frage, wie solidarisches, kooperatives und auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtetes Wirtschaften jenseits von Ausbeutung und Herrschaft aussehen könnte. Die Linke sollte sich an keiner Debatte beteiligen, wo sie sich den Kopf des Kapitals zerbricht.

Ingo Stützle ist Politikwissenschaftler und Redakteur von „analyse & kritik“. Texte von ihm finden sich auf seiner Website

Erschienen in: neues deutschland, 1.9.2012 (nur online)

Der zerbrochene Kopf des Kapitals

In der Diskussion über Sahra Wagenknechts politische Aneignung einiger Begriffe von Ludwig Erhard und über die Frage, ob die Linke – nicht nur die gleichnamige Partei – die Krise theoretisch auf ausreichendem Niveau reflektiert, haben Ulrike Herrmann von der tageszeitung (hier) und Albrecht von Lucke von den Blättern für deutsche und internationale Politik (hier) ihre Positionen dargelegt. Warum nicht Roosevelt?, fragte Ulrike Herrmann und kritisierte, dass Sahra Wagenknecht auf den Liberalen Ludwig Erhard hereinfalle. In meiner Replik argumentiere ich, dass beide, Herrmann wie Wagenknecht, die falschen Fragen stellen.

Eine detailiertere Auseinandersetzung mit Keynes findet ihr hier.