Nachtrag zur Graeber-Besprechung

»Die Gewohnheit, immer ›bitte‹ und ›danke‹ zu sagen, setzte sich während der kommerziellen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts durch – bei eben jenen Mittelschichten, die hauptsächlich für diese Revolution verantwortlich waren. Es ist die Sprache der Ämter, der Läden und Kanzleien, und im Lauf der letzten 500 Jahre hat sie sich mit diesen Einrichtungen ausgebreitet. Dies Sprache ist nur ein Zeichen einer umfassenden Denkweise, einer Reihe von Annahmen, was Menschen sind und was sie sich einander schulden. Heute sind diese Annahmen so tief verwurzelt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.« (Graeber 2011: 131)

Meine Besprechung zu Graebers Schulden-Buch musste knapp ausfallen. Ein paar Punkte sind nur angerissen. Bei anderen wissen nur diejenigen, die bestimmte (zwischen den Zeilen zu findende) Debatten kennen, worauf ich hinaus will. Deshalb ein kurzer, summarischer Nachtrag. Wer meine ak-Besprechung nicht kennt, sollte sie vorher lesen. Auf viele Punkte, die ich dort ausführe, gehe ich hier wiederum nicht ein.

Buchpräsentation zu »Inside Occupy« mit David Graeber. Foto : CC-Lizenz/Tine Nowak

Graeber orientiert sich an einer klassischen Frage der politischen Ökonomie – was ist Geld? Er kritisiert den Mainstream scharf und klopft im ersten Teil seines Buches die Wirtschaftstheorie kritisch ab – zu Recht. Diese geht meist von unhistorischen und fiktionalen Gesellschaften aus, in denen Menschen ihren natürlichen Neigungen nachgehen, unter anderem ihrem Hang zu Tausch und Handel. Graeber kritisiert richtigerweise, dass ökonomische Lehrbücher immer mit dem Barter, einem einfachen Produktentausch ohne Geld beginnen.[1] In seiner Auseinandersetzung streift Graeber u.a. Smith, Menger, Jevons, Keynes, Knapp, Samuleson und Aristoteles und Aglietta.

Wen Graeber zu Beginn seines Buchs nicht kritisiert bzw. diskutiert ist Marx, obwohl dieser auch mit dem Warentausch beginnt – könnte man zumindest meinen. Und genau hier zeigt sich Graebers grundlegendes Problem, der zwar viel historisch-anthropologisches Material zusammenträgt, es aber nicht theoretisch-begrifflich durchdringt. Hierfür bedürfte es nämlich einer Theorie des Kapitalismus, Kriterien, was den Kapitalismus auszeichnet – eine Formanalyse und Kritik.

Genau eine solche Analyse/Kritik formuliert Marx im Kapital, wo er zu Beginn anhand der begrifflichen Konstruktion einer Warenbeziehung zeigt, dass sich erst mit Geld Waren als Werte aufeinander beziehen können. Erst das Geld ermöglicht einen allgemeingültigen, gesellschaftlichen Bezug von Waren produzierenden Arbeiten aufeinander. Erst das Geld konstituiert die gesellschaftliche Gesamtarbeit vor dem Hintergrund unabhängiger Privatproduktion. Diese Analyse führt Marx weiter, um derart nicht nur dem konstitutiven Zusammenhang von Ware und Geld nachzuspüren, sondern auch zu den weiteren Kategorien (u.a. Kapital, Zins etc.) zu gelangen. Dieser systematische Zugang ermöglicht es Marx, zwischen der Beziehung der ökonomischen Kategorien im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise und in der Geschichte zu unterscheiden. Mehrfach betont Marx, dass die historische Abfolge (bzw. das in Erscheinung treten) der Kategorien nicht mit der Beziehung derselben im Kapitalismus zusammenfällt. Diese Analyse und Kritik der Kategorien ermöglicht es, den historischen Konstitutionsprozess des Kapitalismus zu rekonstruieren und Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformationen herauszustellen. Bei Graeber sind, wie erwähnt, alle Katzen grau. Dies lässt sich an ein paar Punkten genauer aufzeigen.

Markt und Kapitalismusentstehung

Die Historikerin Ellen Meiksins-Wood (1999) zeigt (im Anschluss an die sogenannte Brenner-Debatte zur historischen Entstehung des Kapitalismus) , dass sich die kapitalistische Logik in England auf dem Land entwickelte – als aus dem Markt als Möglichkeit ein ökonomischer Imperativ wurde. Noch vor der endgültigen Expropriation der unmittelbaren ProduzentInnen, wie sie Marx im Kapital beschreibt, wurde für diese wie für die GrundbesitzerInnen die Steigerung der Arbeitsproduktivität (und damit die Konkurrenzfähigkeit) wichtiger als Formen der »politischen Ausbeutung«, d.h. die Abpressung von Mehrarbeit durch unmittelbare Gewalt. Die ökonomischen Formen wie Konkurrenz dominierten verstärkt über die nicht-ökonomischen und setzten eine Wachstumsdynamik in Gang, die schließlich viele Kleinproduzenten verdrängte und somit die ProduzentInnen freisetzte. Dies vollzog sich vor dem Hintergrund der spezifischen Verhältnisse in England. Andere AutorInnen wiederum zeigten, dass erst der ökonomische Konkurrenzdruck aus England anderen Ländern die kapitalistische Logik aufzwang. [2] Weder die Massenproduktion für kriegführende Staaten, noch der sich ausweitende Handel (in den italienischen Städten oder später Holland) waren für die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise ausschlaggebend. [3]

Weil Graeber (prä-)industrielle Massenproduktion, d.h. die stofflich-organisatorische Seite der Arbeitsorganisation, bereits mit Kapital identifiziert, bleibt ihm diese Entwicklung verborgen. Mit Marx zu sprechen, ist er einer jener Theoretiker, »die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen.« (MEW 42: 18)  Dazu gleich.

Staat und Krieg

Dass Graeber keine unsinnigen Geschichten erzählt oder aufbereitet, zeigt sich am Beispiel der Rolle des Geldes im Zusammenhang mit der Entstehung von Söldnerheeren. Vielmehr stellt sich an dem von Graeber präsentierten Material die Frage, wie Geschichte betrachtet werden sollte und welche Schlüsse aus den Beispielen gezogen werden können. [4] Auch Marx konstatiert den von Graeber angeführten Zusammenhang von Soldatensold und Geld. Sein Freund Engels schrieb 1857 das Stichwort »Army« für »The New American Cyclopædia« und schickte Marx eine Abschrift. Marx schrieb nach der Lektüre an Engels (25.9.1857):

»Die Geschichte der army hebt anschaulicher als irgend etwas die Richtigkeit unsrer Anschauung von dem Zusammenhang der Produktivkräfte und der sozialen Verhältnisse hervor. Überhaupt ist die army wichtig für die ökonomische Entwicklung. Z.B. Salär zuerst völlig in der Armee entwickelt bei den Alten. Ebenso bei den Römern das peculium castrense erste Rechtsform, worin das bewegliche Eigentum der Nichtfamilienväter anerkannt. Ebenso das Zunftswesen bei der Korporation der fabri. Ebenso die Anwendung der Maschinerie im großen. Selbst der besondre Wert der Metalle und ihr use als Geld scheint ursprünglich […] auf ihrer kriegerischen Bedeutung zu beruhn. Auch die Teilung der Arbeit innerhalb einer Branche zuerst in den Armeen eingeführt. Die ganze Geschichte der bürgerlichen Gesellschaften ferner sehr schlagend darin resümiert. Wenn Du einmal Zeit hast, musst Du einmal die Sache von diesem Standpunkt ausarbeiten.« (MEW 19: 192)[5]

Noch vor Werner Sombart (1913) und Graeber waren also auch Marx diese historischen Tatsachen bekannt. Aber was bedeuten sie theoretisch und für die Entstehung des Kapitalismus?

Obwohl das Kriegs- und Söldnerwesen viele Elemente der späteren bürgerlichen Gesellschaft hervorbrachte, stellen diese Elemente keinen ausreichenden Grund dafür dar, dass sich die kapitalistische Produktionsweise als dominante durchsetzen konnte. Noch bilden sie als einzelne Erscheinung (oder in der Summe) kapitalistische Elemente. [6]

Diese Idee führte Marx etwa im Brief an »Otjetschestwennyje Sapiski« aus. Dort weist Marx darauf hin, dass die ehemals freien Bauern Roms (Plebejer) (nach derExpropriation ihrer Produktions- und Subsistenzmittel) neu entstandenem Großgrundbesitz und großen Geldreichtümern gegenüberstanden. »Damit schien die paradigmatische Situation hergestellt zu sein, in der es in Westeuropa zur historischen Herausbildung des besonderen Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital gekommen ist« (Wolf 2006: 172). Und dennoch: Die ›römischen Proletarier‹ wurden keine LohnarbeiterInnen, sondern ein dem ›Nichtstun frönender Mob‹ und die kapitalistische Produktionsweise konnte sich nicht durchsetzen.[7] Grund war nicht der Stand der Produktivkräfte, sondern die unterschiedlichen historischen Milieus (Umwelten), die trotz Ähnlichkeiten zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen führten (ebd.).

Ein weiteres Beispiel wäre das Athen des 5. Jahrhunderts, wo tagelöhnernde Theten, durch die »demokratische Durchsetzung ihrer öffentlichen Versorgung mit Tagegeldern und Arbeitsaufträgen, der vollen Lohnabhängigkeit« entgingen ( Wolf 2006: 184; vgl. Wood/Wood 1978: 62f.). Oder China, wo die Bürokratie verhinderte, dass landlose Bauern ausbeutenden Kapitalien gegenübertraten (Lorenz 1977: 67f. u. 70ff.).

Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass es eben nicht ausreicht zu konstatieren, dass es bestimmte Phänomene (wie Geld, industrielle Produktion, Kredit etc.) schon ›früher‹ gegeben habe. Entscheidend ist vielmehr, wie sich deren Zusammenhang darstellt, ob dieser Zusammenhang durch die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise hergestellt worden ist und welche spezifische Form diese Phänomene demnach angenommen haben. Schließlich sind das die Voraussetzungen dafür, dass sich mit dem Profit (als unmittelbarem Zweck der Produktion) eine Dynamik und Verhältnisse durchsetzen konnten, die man als kapitalistisch bezeichnen kann. Gerade wenn man aus der Geschichte lernen will, wie es ein Leben nach dem Kapitalismus geben kann, dann ist die Frage, wie man die Vorgeschichte des Kapitalismus betrachtet, alles andere als irrelevant.

Das liebe Geld

So ist auch Geld nicht in allen Gesellschaften gleich Geld und nimmt auch nicht im selben Maße eine konstitutive Rolle für die Gesellschaft bzw. die gesellschaftliche Arbeitsteilung ein. Das macht etwa der Historiker Jacques Le Goff (2010) beispielhaft für das Mittelalter deutlich. Die graue Eminenz der Mittelalterforschung betont, dass es bis ins Mittelalter »keine einheitliche Bezeichnung« für Geld gab (ebd.: 9). Aber genau das wird u.a. von Graeber suggeriert. Damit wird eine moderne Vorstellung von Geld in die Vergangenheit projiziert und somit werden die Unterschiede und Differenzen eingeebnet.

»Geld war zwar eine Realität, mit der die mittelalterliche Gesellschaft immer stärker rechnen musste und die Formen anzunehmen begann, die mit ihm in der Moderne eigen werden, aber die Menschen des Mittelalters, einschließlich der Kaufleute, Kleriker und Theologen, hatten nie eine klare, einheitliche Vorstellung davon, was wir heute unter diesem Begriff fassen.« (Le Goff 2010: 9f.)

Ist aber Geld als soziale Realität in und als einheitlicher Begriff auf vorkapitalistische Gesellschaften nicht ›anwendbar‹, muss gleiches für Kredit gelten. Graebers wichtigster Begriff. Und: Vor diesem Hintergrund beginnt auch Graebers zentrale These zu zerbröseln, nämlich, dass Kredit dem Geld vorausgehe.

Borgen, Leihen und Kredit

Graebers These von der Vorgängigkeit des Kreditverhältnisses vor dem Geld widerspricht der auch von Graeber rezipierten Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1979). Geld könne erst Zahlungsmittel werden, d.h. Zahlungsversprechen (Kredit), wenn es als Tauschmittel allgemein akzeptiert ist (ebd: 325). Geld muss ein Zahlungsversprechen abschließen können. Dafür bedarf es eines »statusfreien Geldes« (ebd.: 368). Was bedeutet das? Erst wenn ›Geld‹ nicht der Logik und Struktur einer Gesellschaft folge, die durch persönliche Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse geprägt und dominiert sei, könne von Geld im modernen Sinne gesprochen werden, von Geld, das eine spezifische gesellschaftliche Qualität zum Ausdruck bringt.

Polanyi trifft sich hier mit Marx. Einer Quantifizierung (durch Geld) müsse eine gemeinsame Qualität zugrunde liegen. Diese gemeinsame, d.h. einheitliche soziale Qualität existiert erst mit der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise. Erst die Warenproduktion setzt die Arbeiten gleich und erst in ihr gelten sie gesellschaftlich einander gleich – das Geld vermittelt diese Gleichsetzung und ist zugleich deren sachlicher Ausdruck. Voraussetzung hierfür ist wiederum die doppelt freie Arbeit in Form von Lohnarbeit, die dem Kommando des Kapitals subsumiert ist.

Deshalb ist Kredit in vorkapitalistischen Gesellschaften auch nicht mit dem kapitalistischen Kredit gleichzusetzen. [8] In vorkapitalistischen Gesellschaften seien »Verpflichtungen«, so Polanyi (1979: 323),

»in der Regel spezifischer Art, und ihre Erfüllung ist eine qualitative Angelegenheit, wodurch ihnen ein Wesensmerkmal der Bezahlung fehlt – ihr quantitativer Charakter.«

Polanyi weiter:

»Eine Verletzung sakraler und gesellschaftlicher Verpflichtungen, sei es gegenüber Gott, Stamm, Sippe, Totem, Dorf, Altersgruppe, Kaste oder Zunft, wird nicht durch Bezahlung ausgeglichen, sondern durch eine qualitative Tat. Die Erfüllung einer Verpflichtung kann Brautwerbung, Eheschließung, Ausschließung, Tanz, Gesang, Verkleidung, Fasten, Wehklagen, Zerfleischung, ja sogar den Selbstmord umfassen, doch stellen sie deshalb noch keine Form der Bezahlung dar.« (Ebd.: 323)

Eine gesellschaftliche Verpflichtung ist also nicht gleich Kredit, und selbst Kredit ist nicht gleich Kredit. Das stellte auch Marx in den Grundrissen heraus: »Geborgt und geliehen ward auch in frühren Zuständen, und der Wucher ist sogar die älteste der antediluvianischen [vorsintflutlichen; Anm.: I.S.] Formen des Kapitals. Aber Borgen und Leihen konstituiert ebenso wenig den Kredit, wie Arbeiten industrielle Arbeit oder freie Lohnarbeit konstituiert.« (MEW 42: 441) Was meint er damit? Wie manufakturell oder industriell organisierte Arbeit, d.h. Arbeitsteilung eben nicht freie Lohnarbeit und somit die kapitalistische Logik und Form der Produktion begründet oder unterstellt, so auch Borgen und Leihen nicht Kredit. [9]

Und jetzt?

»Alle Wirtschaftsgeschichte ist ein Krieg zwischen Gläubigern und Schuldnern, und die Beschaffenheit des Geldes gibt das Schlachtfeld ab.« (David Graeber)

Graebers Buch ist wie eine Bombe eingeschlagen – vor allem in Deutschland. Laut Graeber ist das Original seit Juli 2011 60.000 Mal verkauft worden.  Von der deutschen Übersetzung gingen in der ersten Woche bereits 30.000 Exemplare über den Ladentisch.

Die deutsche Presse ist aus dem Häuschen. [10] Richtig eingeprügelt auf Graebers Buch hat bisher nur Rainer Hank in der FAS (13.5.2012). Bisher hätte niemand Adam Smith bezwungen, schreibt Hank. Dieser selbstbewusste Ton zeigt vor allem eins: Die bürgerliche Klasse fühlt sich in ihrem von der Neoklassik geprägten Selbstbewusstsein alles andere als infrage gestellt. Schließlich war Marx nicht der Letzte, der Smiths Theorie und Prämissen kritisierte. [11] Putzig ist die Hank-Besprechung vor allem deshalb, weil sie kein Klischee bürgerlicher Phrasendrescherei auslässt: der Mensch zeichne sich durch eine natürliche Neigung zu Handel und Tausch aus, er sei egoistisch und Geld sei zur Vereinfachung des Handels erfunden worden. [12]

Nachdem Graeber in der FAZ nicht nur mehrmals besprochen wurde und sogar ein Auszug aus seinem Buch gedruckt wurde, muss Hank natürlich eine deutliche Duftmarke setzen: Er attestiert Graeber einen »Gläubiger-Hass«, schlägt den linken Anthropologen und will aber eigentlich die radikale Linke in Griechenland um Alexis Tsipras treffen. Graeber würde, so Hank, seine »Quellen ideologisch (also im Dienste der Weltanschauung) und nicht wissenschaftlich« instrumentalisieren. [13]

Ganz anders sieht es hingegen Steffen Vogel im freitag: Graebers Buch sei »ebenso das aufklärende und engagierte Buch eines politischen Kopfes wie die gründlich dokumentierte Arbeit eines Wissenschaftlers, der die historische Vogelperspektive einnimmt, um ein drängendes Gegenwartsproblem zu erhellen.« Wie doch die Meinungen hinsichtlich »Wissenschaftlichkeit« auseinandergehen können.

Florian Schmid sieht im freitag gar »die Front zur Verdammung aller linksradikalen Positionen« langsam bröckeln. Wer einen Artikel von Graebers »Lehrer« Michael Hudson liest (ebenfalls in der FAZ abgedruckt, siehe auch hier) ahnt jedoch, was die Debatte eigentlich zum Ausdruck bringt: einen Streit darüber, wie der Kapitalismus re-reguliert werden kann und soll. Das hat wenig damit zu tun, dass bürgerliche Kräfte antikapitalistisch werden oder plötzlich eine Affinität zur kommunistischen Idee entwickeln. Vielmehr verständigen sie sich unter sich, d.h. als bürgerliche Klasse, wie der Kapitalismus eine Zukunft habe kann. [14] Ein Konflikt, der seit Monaten in der FAZ offen ausgetragen wird –  zwischen Feuilleton und Wirtschaftsteil. Ein Konflikt, bei dem die Linke keinen Blumentopf gewinnen, wenn sie mit von bürgerlichen Kräften zum Popstar stilisierten Kapitalismuskritikern wie Graeber nicht selbst eine kritische Auseinandersetzung suchen, sich selbst darüber verständigen, wohin die Reise gehen und wie Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit aussehen sollte. Diese Auseinandersetzung wird das FAZ- Feuilleton uns nämlich nicht abnehmen.

Anmerkungen

1. Siehe hierzu auch die Auslassungen bei Heinsohn/Steiger (2006), die Ähnliches bei der Klassik und Neoklassik mokieren und ihr den Status einer Theorie ganz absprechen. Eine treffende Kritik an ihrem Ansatz hat Reichelt (2008: 275ff.) formuliert. 2. So zeigen etwa Comninel (1987) und Gerstenberger (1990), dass auch die Französische Revolution nicht als Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden kann und schon gar nicht durch deren Logik erklärt werden könne. 3. Das gleiche gilt für die Rolle des Staates (und die Herausbildung des modernen Steuerstaats), die recht unterschiedlich verlief, wie historische Forschungen zeigen. 4. Deshalb kann Graebers Buch mit Marx’ Kritik der politischen Ökonomie im Hinterkopf durchaus mit Gewinn gelesen werden. 5. Zeitgleich zu diesem Brief schrieb Marx an den Grundrissen. 6. Auch verändern sich Form und Inhalt von ›Krieg‹, wie etwa Teschke (2003), Gerstenberger (1990) und Siegelberg (1994) zeigen. 7. Das ist der Hintergrund vor dem Marx auch formuliert, dass die LohnarbeiterInnen »erst gezwungen werden (müssen), zu den vom Kapital gesetzten Bedingungen zu arbeiten. Der Eigentumslose ist mehr geneigt, Vagabund und Räuber und Bettler als Arbeiter zu werden. Dies versteht sich erst von selbst in der entwickelten Produktionsweise des Kapitals.« (MEW 42: 631) 8. Das gilt auch für die Staatsschuld, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe. 9. »Hier ist daran zu erinnern, dass für Marx ›Industrie‹ nichts anderes bedeutet als die systematische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse als Technologien auf Produktionsprozesse und nicht etwa ein bestimmtes materiell abgrenzbares Feld menschlicher Produktion.« (Wolf 2006: 184) 10. Weitere Besprechungen finden sich u.a. hier: die tageszeitung, Die Zeit, Die Welt, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, DeutschlandRadio Kultur I, DeutschlandRadio Kultur II, ttt der ARD. Linke Kritiken sind bisher rar. Vgl. u.a. die Replik auf Rainer Hank im Krisenblog und wobblies.de. 11. Vgl. hierzu u.a. meinen Aufsatz zu Keynes. 12. Noch einmal Marx, weil die Formulierung so nett ist: Geld ist in diesem Verständnis nichts anderes als ein »pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel« (MEW 13: 36f.). 13. Frank Schirrmacher besprach bereits 2011 die englische Ausgabe, Rainer Hank folgte, Werner Plumpe legte nach und Frank Lübberding kommentierte Graebers Auftritt bei Maybrit Illner.

Literatur
– Comninel, Georg C. (1987): Rethinking the French Revolution. Marxism and the Revisionist Challenge, London-New York 1990
– Gerstenberger, Heide (1990): Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster
– Graeber, David (2011): Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012
– Heinrich, Michael (1999): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster
– Heinsohn, Gunnar/ Steiger, Otto (2006): Eigentumsökonomik, Marburg
– Le Goff, Jacques (2010): Geld im Mittelalter, Stuttgart 2011
– Lorenz, Richard (1977: Die traditionale chinesische Gesellschaft: Eine Interpretation sowjetischer Forschungsergebnisse, in: ders. (Hg.), Umwälzung einer Gesellschaft: Zur Sozialgeschichte der chinesischen Revolution (1911-1949), Frankfurt/M, 11-93.
– Polanyi, Karl (1979): Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M
– Reichelt, Helmut (2008): Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik, Hamburg
– Sombart, Werner (1913): Krieg und Kapitalismus (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, Bd.2), München-Leipzig
– Siegelberg, Jens (1994): Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Kriege und militante Konflikte, Nr.5, Münster-Hamburg
– Stützle, Ingo (2006): Die Ordnung des Wissens. Der Staat als Wissensapparat, in: Bretthauer, Lars/ Gallas, Alexander, et al. (Hg.): Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg, 188-205.
– Teschke, Benno (2003): Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster 2007
– Wolf, Frieder Otto (2006): Marx’ Konzept der ›Grenzen der dialektischen Darstellung‹, in: Hoff, Jan/ Petrioli, Alexis, et al. (Hg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster, 159-188.
– Wood, Ellen Meiksins (1999): The origin of capitalism. A longer view, London – New York, 2002
– Wood, Ellen Meiksins/ Wood, Neal (1978): Class Ideology and Ancient Political Theory. Socrates, Plato, and Aristotle in Social Context, Oxford