Ein Brief an Raul Zelik

Vor ein paar Tagen ist der Schriftsteller und Politautor Raul Zelik in die Linkspartei eingetreten. Der Schritt hat eine Debatte über das Verhältnis von unabhängigen Linken und der Partei angestoßen – unter anderem bei Lafontaines Linke. Anne Roth fragt sich, wie es gelingen soll, diese Partei, in der gleich mehrere Flügel quasi mit Gewalt jede Veränderung bekämpfen, von innen zu ändern, nur weil der Vorstand gewechselt hat. Thomas Seibert sieht nach dem Göttinger Parteitag für die Linkspartei bessere Chancen, über ihr bisheriges Milieu hinaus attraktiv zu werden – will aber lieber im Rahmen der Mosaiklinken und nicht als Mitglied die Zusammenarbeit fortsetzen. Ich habe zu dieser Debatte einen weiteren Gastbeitrag beigesteuert:

Lieber Raul,

etwas erstaunt habe ich deinen Eintritt in die Linkspartei zur Kenntnis genommen – und meine Überraschung hat weniger damit zu tun, dass du diesen Schritt getan hast, sondern wie das geschehen ist. Du hast deine Mitgliedschaft öffentlich erklärt, deshalb möchte ich dir öffentlich darauf antworten.

Deiner Meinung nach sollte linke Kritik an Parteien, deren Politik auf Parlamente und den Staat ausgerichtet ist, angesichts der aktuellen Entwicklungen in Europa und der Veränderungen innerhalb der Linkspartei relativiert werden. Die für deinen Eintritt angegebenen Beweggründe beanspruchen also eine gewisse Allgemeingültigkeit. Es scheint für dich gegenwärtig politisch richtig und wichtig, dass Linke in die Linkspartei eintreten.

Ich wurde von GenossInnen gefragt, warum du das gemacht hast. Einige haben vermutet, es ginge dir vielleicht um einen Parteiposten. Ich weiß: Solche Standardreflexe mancher radikaler Linker werden weder deinem Anliegen noch dir als politischem Menschen gerecht. Wir kennen uns seit fast 15 Jahren und haben lange gemeinsam Politik gemacht. Gerade deshalb aber halte ich eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die du vorbringst, für nötig.

Noch eine letzte Vorbemerkung. Ich bin kein „Parteienhasser“, meine Identität als politischer Linker ist nicht auf eine antiparlamentarische Attitüde gebaut. Trotz meiner Kritik an der Linkspartei ist und war es mir nie egal, was mit ihr und in ihr passiert. Ich habe 2005 den offenen Brief an WASG und PDS mit initiiert, in dem wir beide Parteien dazu aufgefordert haben, im Wahlkampf antirassistische Positionen offensiv zu vertreten. Als Redakteur bei ak – analyse & kritik habe ich mich seit Jahren dafür eingesetzt, dass die Zeitung über die Linkspartei berichtet und außerparlamentarische Linke über die Partei und deren Politik diskutieren. Ich habe mich an Diskussionen mit VertreterInnen der Linkspartei beteiligt, unter anderem mit Katja Kipping, die 2006 mit anderen Abgeordneten die Kontaktstelle für soziale Bewegungen ins Leben gerufen hat und die immer wieder dafür gesorgt hat, dass AktivistInnen aus Initiativen und sozialen Bewegungen mit Teilen der Linkspartei ins Gespräch kamen. Was das alles gebracht hat oder ob die Kontaktstelle für die Linksfraktion mehr als eine Alibieinrichtung war und ist steht auf einem anderen Blatt.

Wenn du aus Kolumbien wieder zurück bist, würde ich deinen Entschluss gerne mit dir diskutieren. Ein paar Nachfragen und kritische Anmerkungen an dieser Stelle schon einmal vorweg.

Du beschreibst die Linkspartei als feine und dissonante Stimme der Vernunft, als die politische Kraft, die „wesentliche Fragen überhaupt erst wieder thematisiert“ hat. Deine Ausführungen hierzu sind etwas knapp, ich habe die vergangenen Jahre durchaus anders erlebt.

Es stimmt zwar: Mit der Linkspartei ist in Deutschland endlich europäische Normalität eingezogen, es gibt eine parlamentarische Kraft links der Sozialdemokratie, die, wenn auch mit Abstrichen, medial ernst und wahrgenommen wird. Sie setzt die Sozialdemokraten von links unter Druck – ohne Linkspartei hätte sich die SPD wohl nie derart beim Mindestlohn in die Offensive gewagt, was dann sogar die Union zum Einsatz für eine „Lohnuntergrenze“ gedrängt hat. Und das ist nicht das einzige Beispiel.

Auch die gesellschaftliche Debatte hat sich verändert. Linke Positionen scheinen nicht mehr ganz so jenseitig – aber dass wir im Kapitalismus leben, hat seit Ausbruch der Krise 2007 niemand mehr bestritten. Die Financial Times organisierte eine Debatte zur Zukunft des Kapitalismus, die Frankfurter Allgemeine druckte Auszüge aus Keynes BBC-Radiobeiträgen und ließ über die Krisenhaftigkeit des Systems diskutieren. Bücher zu Marx fluten den Markt, das Manifest „Der kommende Aufstand“ oder jüngst David Graebers „Schulden“ wurden breit rezipiert, Stefan Hessels Schrift „Empört euch!“ gab es als Quengelware an den Kassen.

Wenn Positionen der Linkspartei in der Öffentlichkeit präsenter waren und Sahra Wagenknecht oft und gerne in Talkshows eingeladen wurde, dann war das also eher Ausdruck einer tiefen bürgerlichen Verunsicherung. Der Beinahe-Kollaps des Kapitalismus warf die Frage auf, wie die Gesellschaft reformiert werden muss, um, und das ist entscheidend, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. An einer besonderen Leistung der Linkspartei lag diese temporäre Öffnung des Diskurses jedoch nicht. Und auch sinnvolle Deutungsangebote oder neue Politikoptionen habe ich in der letzten Zeit von der Linkspartei nicht gehört.

Statt von Klasseninteressen haben deren Politiker von der „Mehrheit der Bevölkerung“ gesprochen und von der „Gier der Banker“. Du schreibst, die Linkspartei habe Krisenanalysen mit Tiefgang geliefert. Worauf beziehst du dich? Auf die Bücher von Sahra Wagenknecht? Gibt es in der Linkspartei Kritik am kapitalistischen Wachstumszwang? Hast du dazu mal eine Umfrage beim gewerkschaftlichen Flügel und der Sozialistischen Linken gemacht?

Die Linkspartei konnte von der Krise des Kapitalismus nicht profitieren, im Gegenteil. Sie ist selbst in die Krise geraten – und das hatte Gründe, die nichts mit Personalquerelen zu tun haben, aber trotzdem bei der Linkspartei selbst liegen. Sie kritisierte oft nur, dass Maßnahmen wie die Re-Regulierung der Finanzmärkte oder die Einführung einer Finanztransaktionssteuer nicht konsequent umgesetzt werden würden. Es ging also um die politische Agenda von anderen – von der Linkspartei selbst war wenig Neues oder Radikaleres zu hören. Und macht es wirklich Sinn, die Verstaatlichung von Banken zu verlangen, wenn genau dieser gerade stattfindet – als Vergesellschaftung von exorbitanten Schuldenbergen?

Was mir in deiner öffentlichen Erklärung zum Eintritt in die Linkspartei auch fehlte: Es steht darin nichts über die Erfahrungsprozesse und Mobilisierungserfolge, welche die Bewegungslinken in den vergangenen Jahren gemacht und erreicht haben. Nichts von Heiligendamm, nichts von Castor Schottern, nichts von Blockupy, nichts von Dresden Nazifrei und den vielen Konferenzen und Kongresse. Mehr noch: Es sind ja gerade diese Beispiele, die zeigen, dass es bereits seit Jahren eine vertrauensvolle und gute Kooperation zwischen organisierten Teilen der Bewegungslinken und der Linkspartei gibt – mit Höhen und Tiefen und sicherlich auch mit Konflikten.

Es geht nicht darum, Erfolge der Bewegung gegen die Linkspartei auszuspielen. Aber bei dir tauchen die wichtigen Etappen der vergangenen Jahre nicht einmal auf. Und das, obwohl es hier um das letztlich auch für deine Entscheidung zum Eintritt in die Linkspartei so wichtige Verhältnis von Partei und Bewegung geht. Hier wird gern auf die Metapher von der Mosaiklinken zurückgegriffen, aber damit ist zu ungenau beschrieben, was die einzelnen Teile einer solchen Linken wie zusammenhält und was ihre Anordnung bestimmt – erst das macht ein Gesamtbild aus.

Zu Beginn deiner Erklärung führst du wichtige Punkte einer linken Parteien- und Staatskritik an – nimmst sie dann aber leider weder auf noch ernst. Sonst hättest du nämlich skizzieren müssen, wie diese Kritik auf die politische Praxis der Linkspartei zutrifft, wo sie zum Teil relativiert werde kann und was man innerhalb der Partei zum Beispiel gegen die „Parlamentarisierung“ linker Politik machen kann. Was willst du als neues Parteimitglied in dieser Frage unternehmen? Wo innerhalb der PdL siehst du den Ort, wo du in Zukunft linke Politik vorantreiben kannst? Auf eine Antwort auf diese Fragen bin ich gespannt.

Eine Klassenpartei, wie du suggerierst, kann die Linkspartei nicht werden. Es sei denn, sie würde ihren Charakter grundlegend verändern. Davon ist aber nicht auszugehen. Parteien, die um parlamentarische Mehrheiten kämpfen, können keine Klassenorganisationen werden. Das zeigt nicht nur die Geschichte. Claus Offe hat es einmal exemplarisch anhand des „Formprinzips der Konkurrenzpartei“ beschrieben: „Die Logik der nach ,Regierungsverantwortung‘ strebenden Konkurrenzpartei legt es den Parteien nahe, Wählerstimmen zu suchen, wo immer sie zu bekommen sind, sich also jeder Bezugnahme auf (klassenmäßige, konfessionell oder sonst wie) spezialisierte ,Einzugsbereiche‘ zu erhalten. Dementsprechend wird der Bürger als abstraktes Willenssubjekt, als ein mit Stimmrecht ausgestatteter Jedermann angesprochen.“

Wenn man diesen Gedanken ernst nimmt, klingt deine Aussage, nach der es dich wenig interessiert, ob die Linkspartei Wahlen gewinnt oder nicht, sehr naiv. Eine Partei muss Wahlen gewinnen. Dass die, in die du eingetreten bist, es momentan nicht tut, macht einen guten Teil ihrer Krise aus. Die Fokussierung auf den Wahlerfolg wird auch in Zukunft die inhaltlichen Debatten und die politischen Auseinandersetzungen in der Linkspartei prägen. Und da du oft von den „Orten“ sprichst, die es braucht für ein neues gesellschaftliches Projekt der Veränderung, für die Formulierung von Erfahrungen, für das Gespräch über Widerstand: Warum sollte ausgerechnet die Linkspartei dieser Ort sein?

Eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft und das Ende von Herrschaft wird nur erreicht werden können, wenn die Linke und soziale Bewegungen dem Staat Organisationsleistungen für die Gesellschaft abringen. Staatliche Politik ist immer herrschaftsförmig. Für eine wirklich linke Partei als Teil des Staatsapparats bedeutet dies also, dass sie in der Perspektive ihre eigene Existenz überflüssig machen muss. Das steht zur Zeit nicht auf der Agenda, das stimmt. Aber für neue Projekte der Veränderung bedarf es eben auch neuer Orte der Verständigung – und keinen Eintritt in die Linkspartei, die, um im Bild zu bleiben, ein „alter Ort“ ist.

Du selbst schreibst, dass du nicht wüsstest, ob die Linkspartei der richtige Ort ist. Lieber Raul, was liegt denn für jemanden wie dich, der selbst Kritik an Parteipolitik formuliert, nahe? Was hat sich in der Linkspartei in dieser Frage verändert? hat sich überhaupt etwas verändert? Ist sie durch offenen und solidarischen Streit mit den sozialen Bewegungen aufgefallen? Protestaktionen wie Blockupy finden zwar alle GenossInnen der Partei toll – doch werden solche „Events“ vor allem als Bühne für die Repräsentationspolitik der Linken benutzt. Das liegt in der Logik der Sache: Die Straße ist nur bedingt der Ort einer Partei.

Noch ein Wort zur Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ich stimme dir zu: Ohne Linkspartei gebe es die Stiftung nicht, und ohne Stiftung würde wiederum ein Raum für viele parteiunabhängige Linke fehlen. Ich selbst verdiene bei der Stiftung mit Kapitalkursen einen Teil meiner Brötchen. Aber muss ich deshalb auch in die Linkspartei eintreten? Liegt die Bedeutung der Luxemburg-Stiftung für die gesellschaftliche Linke nicht gerade in ihrer Unabhängigkeit von der Partei? Eine Unabhängigkeit übrigens, die zum Beispiel von Oskar Lafontaine öffentlich angezweifelt wurde und immer wieder verteidigt werden muss.

Diese Autonomie der Stiftung ließe sich nutzen, um linke Parteipolitik und außerparlamentarische Bewegung ins Gespräch zu bringen. Denn wenn es tatsächlich Interesse an gemeinsamen Debatten, Initiativen und Projekten gibt, dann müssen diese an Orten außerhalb der Partei entwickelt werden, jenseits von der ihr immanenten politischen Logik. Und ja: Dafür braucht es institutionalisierte Formen, die einen solchen Austausch auch unabhängig von Einzelpersonen ermöglichen. Für diesen Schritt ist große Bereitschaft nötig – von allen Seiten. Aber ein Parteibeitritt kann nicht Voraussetzung für eine solche Diskussion sein. Genauso wenig wäre es richtig, wenn die unabhängigen Linken den Genossen der Linkspartei ständig vorhalten, dass sie in der Partei und in Parlamenten Politik machen.

Lieber Raul, ich habe vieles nur nur angerissen und manches noch nicht einmal. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Fragen in einigen Wochen in Berlin zusammen weiter diskutieren könnten.

Beste Grüße,
Dein Ingo