Wie die Mathematik in die Wirtschaftswissenschaften kam und die Verhältnisse mystifiziert

Wenn jeder Mensch auf eine Zahl reduziert wird, kann das Unternehmen niemals die ganze Person sehen«, heißt es im Harvard Business manager (7/2022, S. 28), womit das Magazin eine gängige Kritik formuliert, warum der Kapitalismus unmenschlich ist, nämlich, dass von all dem, was einen Menschen ausmacht, abstrahiert wird und am Ende nur eine Zahl übrig bleibt. Ein Businessmagazin hat selbstredend keine Gesellschaftskritik im Sinn. Wer diese jedoch formuliert, kommt nicht umhin, auch die Wirtschaftswissenschaften zu kritisieren, die beanspruchen, die herrschende Wirtschaftsweise zu verstehen.

Nicht ohne Grund trägt Marx’ Hauptwerk »Das Kapital« den Untertitel »Kritik der Politischen Ökonomie«, womit der Kapitalismus und die Wissenschaft gemeint sind. Und die Disziplin, selbst die Strömungen, die sich als »heterodox«, also nicht dem Mainstream folgend, verstehen, zeichnen sich heute durch Mathematik aus: Formeln, Gleichungssystem, Kurven und Matrizen. In einem verhältnismäßig weit verbreiteten heterodoxen VWL-Lehrbuch heißt es: »Es gibt Vertreter in der Zunft der Volkswirte, die davon ausgehen, dass erst mit der Einführung der Mathematik die Volkswirtschaftslehre zur Wissenschaft geworden ist und theoretische Aspekte, die nicht mathematisch formulierbar sind, in der Volkswirtschaftslehre keinen Platz haben sollten.«

Die marginalistische Revolution

Mathematik fasste erst im 19. Jahrhundert Fuß in den Wirtschaftswissenschaften, während aus political economy die Selbstbezeichnung economics wurde, und mauserte sich zur tonangebenden wissenschaftlichen Methode. Das lässt sich anhand der Verwendung in Fachzeitschriften aufzeigen. So wurden 1930 in zehn Prozent der Beiträge in den Fachzeitschriften Economic Journal und American Economic Review Formeln verwendet, während es 50 Jahre später bereits 75 Prozent waren. Im Jahr 1892 wurden in 95 Prozent aller Artikel in den vier führenden Wirtschaftszeitschriften weder geometrische Darstellungen noch Formeln verwendet, während etwa hundert Jahre später sich das Verhältnis umgedreht hatte.

Dieser Prozess ging mit der sogenannten marginalistischen Revolution einher, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog und die neue Fragestellungen etablierte. Die gesellschaftliche Konfliktlinie war nicht mehr die zwischen grundbesitzendem Feudaladel und industriellem Kapital, wie zur Zeit der ökonomischen Klassik (von William Petty bis David Ricardo), sondern der Kapitalismus hatte sich bereits etabliert und die zentrale Konfliktlinie war nunmehr die zwischen Lohnarbeit und Kapital – zwischen formal Freien und Gleichen, die gleichermaßen nach Glück streben.

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