Welche Keynes-Kritik hätten sie den gerne?

Keynes-KarikaturAuf »Wirtschaft und Gesellschaft« versuchte vor ein paar Tagen Christian Christen, Keynes vor seinen LiebhaberInnen zu retten – zu Recht. All zu oft firmiert unter Keynesianismus etwas, was an Keynes und seiner Kritik an der Neoklassik vorbeigeht. Ein Grund, warum viele von Bastard-Keynesianismus sprechen, ein Begriff, der auf die Ökonomin Joan Robinson zurückgeht. Als Kritikfolie zieht Christian Christen auch einen Artikel von mir heran. Einen recht kurzen Artikel für die Tageszeitung neues deutschland, in dem ich zu Keynes Position beziehen sollte. Eine klassische Pro/Contra-Diskussion, bei der sich Heiner Flassbeck für den Keynesianismus ins Zeug legen sollte. Kein Wunder also, dass Keynes bzw. der Keynesianismus bei mir nicht all zu gut wegkam. Auftrag erledigt.

Continue reading “Welche Keynes-Kritik hätten sie den gerne?”

Karl Marx zu den jüngsten Nahrungsmittelskandalen

»Der bibelfeste Engländer wußte zwar, daß der Mensch, wenn nicht durch Gnadenwahl Kapitalist oder Landlord oder Sinekur ist, dazu berufen ist, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, aber er wußte nicht, daß er in seinem Brote täglich ein gewisses Quantum Menschenschweiß essen muß, getränkt mit Eiterbeulenausleerung, Spinnweb, Schaben-Leichnamen und fauler deutscher Hefe, abgesehn von Alaun, Sandstein und sonstigen angenehmen mineralischen Ingredienzien.« (KI, 264)

Nach Feierabend: Linke lesen Leni … äh, Marx, natürlich

Satellitenseminare2010Neulich war der Jens Rosbach vom Deutschlandfunk im Kapitalkurs zu Besuch. Er hatte viele Fragen mitgebracht – zu unsere Motivation und was so diskutiert wird. Aus zwei Stunden Frage-und-Antwort-Material und O-Tönen ist ein etwas mehr als fünf Minuten geworden. Am Zusammenschneiden saß Jens Rosbach bestimmt zwei Tage. Als freier Journalist bekommt man für die fünf Minuten etwa 300 Euro – ich hoffe, Herr Rosbach ist angestellt.

In jedem Fall Anlass genug, sich den ersten Band des Kapitals anzutun, um herauszufinden, was es mit der Mehrarbeit und dem Kampf um den Normalarbeitstag auf sich hat.

Das rote Büchlein, das am Anfang erwähnt wird, ist übrigens die von Dietmar Dath kommentierte Ausgabe von Lenins Staat und Revolution.

Die Anmoderation ist zum Glück nicht mehr zu hören. Dass Marx nämlich wenig mit moralischer Kritik zu tun hat, wie seit der Krise immer wieder im bürgerlichen Feuilleton behauptet wird, hätte man in ak 533 lesen können – sozusagen als Vorbereitung für den Radiobeitrag, der die Marx-Bubble zum Thema hat.

Aber hört selbst:

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2013/02/14/dlf_20130214_1951_6702c367.mp3

Ach ja: Das nächste Mal werde ich auf eine Quotierung der Redezeit drängen – Valeria hatte eigentlich genausoviel zu sagen.

Der Beitrag kann auch hier nachgelesen werden.

Addendum on Graeber’s Debt

»It is probable that the majority of the difficulties of contemporary ethnology and anthropology arise from their approaching the ›facts‹, the ›givens‹ of (descriptive) ethnography, without taking the theoretical precaution of constructing the concept of their object: this omission commits them to projecting on to reality the categories which define the economic for them in practice, i.e., the categories of the economics of contemporary society, which to make matters worse, are often themselves empiricist. This is enough to multiply aporia.« (Althusser/Balibar, Reading Capital)

»The habit of always saying ›please‹ and ›thank you‹ first began to take hold during the commercial revolution of the sixteenth and seventeenth centuriesamong those very middle classes who were largely responsible for it. It is the language of bureaus, shops, and offices, and over the course of the last five hundred years it has spread across the world along with them. It is also merely one token of a much larger philosophy, a set of assumptions of what humans are and what they owe one another, that have by now become so deeply ingrained that we cannot see them .« (Graeber 2011, 124)

David Graeber presents his book »Inside Occupy« / CC-Lizenz/Tine Nowak

I had already written an addendum for the German version of the review I wrote of David Graeber’s Debt for the newspaper ak – analyse und kritik. Some points had only been touched upon; in the case of others, my intent was known only to those familiar with certain debates (alluded to between the lines). For that reason, I wrote a short, summary addendum.[1. Whoever has not read my ak review should read it first. I do not explicitly deal here with some points that are already addressed there.] For this translation, I have revised the addendum, in order to more precisely address some points after David Graeber heavily criticized me for my review. The heated reaction, also from and toward other individuals, was and is disturbing for me and can hardly be attributed to differences concerning matters of substance. It’s also probably not a mere coincidence that only men had their say. Also, a staccato in 140-character tweets and commentary at various places on the Internet (instead of where the text originally appeared) were not very encouraging for a meaningful debate based upon mutual understanding. In the meantime, the debate on Graeber’s debt has advanced. A very intensive discussion is still going on, for example with regard to Mike Beggs’ review in Jacobin magazine and on the blog Crooked Timber. Unfortunately, I was not able to take any new aspects or arguments arising from this discussion into consideration.

Just one more preliminary note, since the battle lines of »Marxist« vs. »Anarchist« were all too quickly drawn. Many points of my critique of the conceptual and theoretical approach of Debt also apply to the historical work of Marxists. In their case, the forces of production or class struggle are the trans-historical constants. For that reason, they are also »ahistorical«, despite their historical self-conception. More on that shortly.

For these reasons, and in the hope for better understanding, I have requested that the addendum also be translated. So I’d like to here say »many thanks«. Continue reading “Addendum on Graeber’s Debt”

Welttreffen am Sankt-Immer-Tag. Neuerscheinungen zum Konflikt zwischen Marx und Bakunin provozieren eine neue Debatte um linke Geschichte

Das schweizerische St-Imier (früher: Sankt Immer) war im August 2012 Treffpunkt für Libertäre und AktivistInnen verschiedener anarchistischer Bewegungen. Das »Welttreffen des Anarchismus« hatte einen Anlass: das Jubiläum der Gründung der Antiautoritären Internationalen 1872. »140 Jahre nach dem Kongress von St-Imier ist die Ausbeutung und Entfremdung der Arbeiterinnen und Arbeiter noch ebenso brutal. Die marxistische Illusion ist angesichts der kommunistischen Diktaturen dahingeschmolzen. Der Kapitalismus lebt von Krise zu Krise, gesellschaftliche Krise, politische Krise, zu denen heute noch die ökologische Krise hinzukommt.« [1]

1872 war der Höhepunkt eines jahrelangen Konflikts zwischen Karl Marx und Michael Bakunin bzw. den von ihnen vertretenen politischen Strömungen. Wenige Tage vor dem Gründungstreffen in St-Imier wurde der russische Anarchist zusammen mit James Guillaume auf dem Kongress der Ersten Internationalen in Den Haag ausgeschlossen.

Zum Verhältnis von »Marxismus« und »Anarchismus« und dem Konflikt zwischen den beiden bärtigen Männern sind gleich mehrere Bücher erschienen, die vieles in neuem Licht erscheinen lassen und deutlich machen, dass es schon lange an der Zeit ist, die gemeinsame Geschichte gemeinsam aufzuarbeiten. Der Konflikt ist nicht einfach darauf zu reduzieren, dass zwei Egomanen aufeinandertrafen. Continue reading “Welttreffen am Sankt-Immer-Tag. Neuerscheinungen zum Konflikt zwischen Marx und Bakunin provozieren eine neue Debatte um linke Geschichte”

Isaak Il’ič Rubin: Marxforscher – Ökonom – Verbannter

»Der Menschewik Rubin revidierte Marx’ Lehre vom idealistischen bürgerlichen Standpunkt aus, beraubte den Marxismus seines revolutionären Inhalts, lenkte die Aufmerksamkeit der Ökonomen nach Schädlingsart vom Studium der Fragen der Sowjetökonomie ab und führte sie auf das Gebiet scholastischer Streitereien und Abstraktionen.« (Anmerkung des Instituts für Marxismus-Leninismus in Stalin-Werke, Bd.12, S. 332)

Ein seit zehn Jahren geplanter Band ist nun endlich erschienen: Sonderband 4 der Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Er ist Isaak Il’ič Rubin gewidmet, einem Marx-Forscher, der wie viele andere unter Stalin ermordet wurde. In Deutschland ist er vor allem durch seine Studien zur Marxschen Werttheorie bekannt, die erstmals 1929 erschienen. Das erst 1973 bei EVA auf Deutsch publizierte Buch hat zwei Mankos: Es wurde nicht aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt, sondern aus der englischen Übersetzung aus dem Russischen. Zudem wurde ein (in der englischen Fassung sehr wohl zu findendes) Kapitel einfach ignoriert: das zum Fetisch. Dieses Kapitel wurde dankenswerterweise 2010 von Devi Dumbadze für den Sammelband Kritik der politischen Philosophie ins Deutsche übertragen und von ihm in einem Aufsatz kommentiert. Neben einem etwas skurrilen Sammelband bei VSA ist vor allem noch A History of Economic Thought bekannt.[1. Ein paar Aufsätze von Rubin finden sich hier. Lesenswert ist nach wie vor der Text Abstrakte Arbeit und Wert im Marxschen System von 1927]

Der Sonderband 4 zu Rubin ist schon jetzt ein Highlight des Jahres 2012. Zumindest für alle, die sich für die marxsche Geld- und Werttheorie interessieren. Neben einer Würdigung von Rubins Tätigkeit am Marx-Engels-Insitut, seiner Geschichte der politischen Ökonomie, finden sich im über 200 Seiten starken Sonderband mehrere biografische Aufsätze zu Rubin.[2. Ludmila Vasina schrieb bereits für die Beiträge 1994 eine knappe biografische Skizze] Auf 110 Seiten kommt Rubin selbst zu Wort. Endlich wurde der Text Studien zur Geldtheorie von Marx (von Ilka John) übersetzt und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Anlass des Textes war wahrscheinlich Rubins Übersetzung von Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859, in der Marx etwas ausführlicher (als später im Kapital) auf Ware und Geld eingeht. 1923 im Knast begonnen arbeitete Rubin in den folgenden Jahren weiter an diesem Text. Dass der Text überhaupt überliefert wurde ist ein Glück und u.a. Rubins Frau Polina Petrovna zu verdanken, die die Manuskripte über die Jahre aufbewahrte und in der SU vergeblich für eine Rehabilitation Rubins kämpfte – das geschah erst nach 1990.

In der Ankündigung des Sonderbandes heißt es:

Der Politökonom und Marxforscher Isaak Il’ič Rubin (1886–1937) nahm eine wichtige Stellung in den ökonomischen und philosophischen Diskussionen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in Sowjetrussland ein. Über ihn lag jedoch der „Bann der Partei“ – er war bekennender Menschewik. Sein zweites „Vergehen“ bestand darin, dass er eine Interpretation des ersten Bandes des „Kapitals“ vorlegte, die angeblich idealistischen Charakter trug. Hier wird in Fortsetzung seiner bekannten „Studien zur Marxschen Werttheorie“ erstmals in Übersetzung sein Manuskript über die Geldtheorie von Marx veröffentlicht. Schließlich war Rubin Leiter des Kabinetts für politische Ökonomie des Marx-Engels-Instituts unter Leitung von David B. Rjazanov (1870–1938). Diese Verbindung kam Stalin gerade recht, um beide 1931 aus der wissenschaftlichen Kommunikation ausschließen zu lassen.

Bestellungen nimmt jede gute Buchhandlung entgegen. Ebenso der Argument-Verlag oder die Redaktion der Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge.

Marx zu Obamas Gesundheitsreform

Für die Proteste gegen Obamas Gesundheitsreform ist diese meist Kommunismus und Faschismus in einem.

Die Gesundheitsreform von Obama ist verfassungskonform. Das hat der Oberste Gerichtshof in den USA entschieden. Karl Marx würde die Entscheidung wohl wie folgt kommentieren:

»Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen!« (KI, 505)

Nachtrag zur Graeber-Besprechung

»Die Gewohnheit, immer ›bitte‹ und ›danke‹ zu sagen, setzte sich während der kommerziellen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts durch – bei eben jenen Mittelschichten, die hauptsächlich für diese Revolution verantwortlich waren. Es ist die Sprache der Ämter, der Läden und Kanzleien, und im Lauf der letzten 500 Jahre hat sie sich mit diesen Einrichtungen ausgebreitet. Dies Sprache ist nur ein Zeichen einer umfassenden Denkweise, einer Reihe von Annahmen, was Menschen sind und was sie sich einander schulden. Heute sind diese Annahmen so tief verwurzelt, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.« (Graeber 2011: 131)

Meine Besprechung zu Graebers Schulden-Buch musste knapp ausfallen. Ein paar Punkte sind nur angerissen. Bei anderen wissen nur diejenigen, die bestimmte (zwischen den Zeilen zu findende) Debatten kennen, worauf ich hinaus will. Deshalb ein kurzer, summarischer Nachtrag. Wer meine ak-Besprechung nicht kennt, sollte sie vorher lesen. Auf viele Punkte, die ich dort ausführe, gehe ich hier wiederum nicht ein.

Buchpräsentation zu »Inside Occupy« mit David Graeber. Foto : CC-Lizenz/Tine Nowak

Graeber orientiert sich an einer klassischen Frage der politischen Ökonomie – was ist Geld? Er kritisiert den Mainstream scharf und klopft im ersten Teil seines Buches die Wirtschaftstheorie kritisch ab – zu Recht. Diese geht meist von unhistorischen und fiktionalen Gesellschaften aus, in denen Menschen ihren natürlichen Neigungen nachgehen, unter anderem ihrem Hang zu Tausch und Handel. Graeber kritisiert richtigerweise, dass ökonomische Lehrbücher immer mit dem Barter, einem einfachen Produktentausch ohne Geld beginnen.[1] In seiner Auseinandersetzung streift Graeber u.a. Smith, Menger, Jevons, Keynes, Knapp, Samuleson und Aristoteles und Aglietta.

Wen Graeber zu Beginn seines Buchs nicht kritisiert bzw. diskutiert ist Marx, obwohl dieser auch mit dem Warentausch beginnt – könnte man zumindest meinen. Und genau hier zeigt sich Graebers grundlegendes Problem, der zwar viel historisch-anthropologisches Material zusammenträgt, es aber nicht theoretisch-begrifflich durchdringt. Hierfür bedürfte es nämlich einer Theorie des Kapitalismus, Kriterien, was den Kapitalismus auszeichnet – eine Formanalyse und Kritik.
Continue reading “Nachtrag zur Graeber-Besprechung”

Schuld und Sühne. In David Graebers Buch »Schulden – Die ersten 5.000 Jahre« fehlt die Kapitalismusanalyse

Die letzten Jahre Krisenpolitik waren ein Paradebeispiel dafür, wie Gewinne privatisiert, Verluste hingegen vergesellschaftet werden. Die tiefe Krise des Kapitalismus hinterlässt eine Staatsschuldenkrise. Die Antwort der politischen Klasse ist Haushaltskonsolidierung. Die Renditeansprüche des Finanzkapitals werden staatlich garantiert und eingetrieben. Der unsichtbaren Hand des Marktes wird die sichtbare Faust des Staates zur Seite gestellt. Damit werden die Kämpfe über die Staatsfinanzen in den kommenden Jahren zum zentralen Konfliktfeld.

Wohl auch deshalb wurde die Veröffentlichung von David Graebers Buch »Debt – The First 5.000 Years« so euphorisch begrüßt – auch von der bürgerlichen Presse. Frank Schirrmacher schrieb in der FAS (13.11.2011), dass Graeber »dem Leser die Augen für das (öffnet), was gerade vor sich geht«. Und weiter: »Graebers Text ist eine Offenbarung, weil er es schafft, dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren.« Der Spiegel meint: »Sein Buch über das Wesen von Schulden und deren wirtschaftliches und moralisches Fundament gilt schon jetzt als antikapitalistisches Standardwerk der neuen sozialen Bewegungen, die während der Weltwirtschaftskrise entstanden sind.« Gemeint sind damit die Occupyproteste. Sogar der Chefsvolkswirt der Deutschen-Bank-Gruppe rezipiert Graeber positiv in der wirtschaftspolitischen Monatszeitschrift Wirtschaftsdienst (4/2012) bei der Frage nach der Zukunft der Zentralbankwirtschaft. Das Buch liegt seit Mai 2012 nun auch in deutscher Übersetzung vor.  Continue reading “Schuld und Sühne. In David Graebers Buch »Schulden – Die ersten 5.000 Jahre« fehlt die Kapitalismusanalyse”

Marx goes PowerPoint

Seit einigen Jahren klettert Marx aus der Mottenkiste. Soziale Verwerfungen im globalen Kapitalismus, die Schwächen herrschender Erklärungsansätze für wirtschaftliche Zusammenhänge und schließlich die seit den 1990er Jahren den Erdball erschütternden Krisen sorgen für eine erneute Beschäftigung mit Marx’ Gesellschaftsanalyse. Insbesondere eine jüngere, von ideologischen Grabenkämpfen unbeleckte Generation liest wieder das Kapital. An Universitäten, in Bildungseinrichtungen, bei  Gewerkschaften oder in Wohnzimmern wird die Kritik der politischen Ökonomie in kleinen Gruppen diskutiert.

PolyluxMarx möchte diesen Prozess unterstützen. Das Arbeitsmaterial ist eine Sammlung kommentierter PowerPoint-Folien, die auch auf der Webpräsenz einzelnen vorgestellt werden. Zentrale Argumentationsgänge des Kapital werden illustriert, einführende Texte und knappe Hinweise zu Methode und Didaktik erleichtern die Lektüre.

Valeria Bruschi, Antonella Muzzupappa, Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle
136 Seiten, inkl. CD
19,90 Euro
ISBN 978-3-320-02286-0
Karl Dietz Verlag Berlin

www.polyluxmarx.de

Mit David Harvey den zweiten Band des marxschen Kapitals lesen

Youtube machte David Harveys Vorlesungen zum marxschen Kapital zu Beginn der Krise einem breiteren Publikum bekannt. Harvey hat sie danach verschriftlichen lassen und der VSA-Verlag hat die Vorlesungen in einer sehr guten Übersetzung nun auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht (siehe ak 568). Nun beginnt Harvey seine Vorlesungen zum zweiten Band des marxschen Kapitals – wir dürfen gespannt sein:

Alle weiteren Vorlesungen zum zweiten Band des Kapital finden sich hier: davidharvey.org

Radikale Kritik mit Bart

Mit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise wuchs das Interesse an der marxschen Theorie. Fast jede Neuerscheinung über Marx beginnt mit dieser Feststellung – und es sind viele Bücher: Einführungen, Übersetzungen, Sammelbände und Neuauflagen. Sie alle haben unterschiedliche Ansprüche und AdressatInnen.

Einführungen sollen einen ersten Einblick in die marxsche Kritik geben. Eine zweite Gattung versucht, Marx gegenüber dem Mainstream zu verteidigen. Hier ist »Wo Marx Recht hat« von Fritz Reheis zu nennen, das man jedoch nicht in die Hand nehmen sollte, wenn man über Marx etwas lernen will. (1) Marx für sich zu entdecken prädestiniert nicht automatisch dazu, ihn anderen zugänglich machen zu können.

Die dritte Kategorie hat weder zum Ziel, Marx im Sinne einer Einführung zu erklären, noch seine vermeintlich richtigen »Ideen« zu verteidigen, sondern nimmt ihn als Wissenschaftler ernst. Hierbei geht es durchaus zur Sache: Weiße Flecken werden benannt, wichtige Fragen kontrovers diskutiert und die Unabgeschlossenheit der Kritik der politischen Ökonomie herausgearbeitet.

Einführungen mit Lücken

In einfacher Sprache zentrale Punkte der Theorie nachvollziehbar zu machen, gelingt vor allem David Harvey. Der VSA-Verlag hat seine Vorlesungen in einer sehr guten Übersetzung dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Die Einführung ist lebendig und in angelsächsischer Manier nicht belehrend. Die Gliederung entspricht dem Aufbau des »Kapital«. Leider hat sich Harvey nur den ersten Band vorgenommen. Zentrale Begriffe, die für das Verständnis der Finanzmarktkrise nötig sind (fiktives Kapital, Kreditsystem), sucht man vergeblich.

Georg Fülberth diskutiert auf viel weniger Seiten alle drei Bände – mit inhaltlichen Lücken. Was nicht schlimm wäre, wenn er sich nicht gleichzeitig auf Nebenschauplätzen tummeln würde. Fülberth möchte das marxsche »Kapital« für alle diejenigen erklären, »die ihren Lebensunterhalt nicht mit Kritik der Politischen Ökonomie und Gesellschaftswissenschaften verdienen, sondern mit anderen Tätigkeiten«. Ein löbliches Vorhaben, dem er leider kaum gerecht wird.

Zwar will Fülberth nicht polemisieren, gleichzeitig kritisiert er andere Positionen, wobei ohne Vorkenntnisse und aufgrund der Kürze oft unklar bleibt, was eigentlich das Problem und was genau seine Kritik ist, z.B. beim sogenannten Transformationsproblem. Fülberth diskutiert die seiner Ansicht nach angemessenen Lösungen (zu den den LeserInnen nicht ganz klar gewordenen Problemen) auf über fünf Seiten, und in der Literaturliste gehört fast die Hälfte der aufgeführten Titel zu diesem Themenkreis.

Hürden der Aneignung und Vermittlung

Seine Einführung unterscheidet sich kaum von denen aus den 1970er Jahren und es ist offensichtlich, dass er nicht ernsthaft neue Literatur zur Kenntnis genommen hat. Das zeigt sich bei seinem Seitenhieb gegen die sogenannte monetäre Werttheorie. (2) Gegen sie führt er ins Feld, Marx habe ja gerade gezeigt, dass hinter dem »Wert« die »Arbeit« stecke; nur ein paar Seiten weiter zitiert er Marx zustimmend, dass das ja gar nicht die eigentliche Frage sei.

Selbstredend ist es wichtig, Marx möglichst einfach darzustellen; das macht aber eine inhaltlich-theoretische Diskussion nicht überflüssig – ganz im Gegenteil. JedeR, der oder die sich einmal ans »Kapital« gewagt hat, weiß, dass die Lektüre kein Deckchensticken ist. Das wusste auch Marx, der im Vorwort zu seinem Hauptwerk bemerkte, dass aller Anfang schwer sei. Als das Buch bereits im Druck war, baten ihn seine Freunde Engels und Kugelmann, dem schwer verständlichen Anfang eine ausführliche Version als Nachwort zur Seite zu stellen.

Der Sammelband »Kapital & Kritik« richtet sich an LeserInnen, die die blauen Bände schon durchgekaut haben. Und dennoch: Ausgerechnet in diesem Band findet sich die beste Reflexion über »Hürden der Aneignung und Vermittlung« des marxschen »Kapital« – der Aufsatz von Anne Steckner, auch wenn sie scharf mit den Spezialdiskussionen ins Gericht geht.

Aber genau diese sind auch in diesem Band zu finden – zum Glück. Besonders erhellend ist der Beitrag von Oliver Schlaudt. Der sogenannten monetären Werttheorie, die statt auf Arbeitswerte und deren quantitative Dimension das Geld als ökonomische und gesellschaftliche Qualität ins Zentrum des Interesses rückt, wurde immer vorgeworfen, die quantitative Dimension nicht mehr zu thematisieren. Nicht die Feststellung, dass Ausbeutung stattfindet, und der Zusammenhang von Arbeit und Wert seien das Innovative bei Marx, sondern die Analyse der Form, die diese annehmen: Ausbeutung nimmt die Form der Lohnarbeit an, bei der alle Arbeit als bezahlte erscheint, die warenproduzierende Arbeit nimmt die Form der Geldvermittlung an, und der gesellschaftliche Zusammenhang erscheint als ein sachlicher – ist fetischisiert.

Schlaudt thematisiert Marx als »Messtheoretiker« und legt die Grundlage dafür, an der festgefahrenen Frage inhaltlich weiter zu kommen, indem er die Unterscheidung zwischen »Quantität« und »quantifizierbar« einführt. Das mag für diejenigen, die sich zunächst mit einer Einführung schwer tun, esoterisch klingen; tatsächlich stellt es einen Fortschritt dar, der hoffentlich dazu führt, in verfahrenen Diskussionen z.B. über das Transformationsproblem oder die Wertformanalyse voranzukommen.

Der Band räumt auch mit anderen Mythen auf. Zum Beispiel, dass man Marx als Eurozentristen abheften könne. Kolja Linder zeigt, dass die oft verpönte Marx-Exegese erst ermöglicht, ein differenziertes Bild von Marx zu zeichnen und ihn für andere Wissenschaften zu öffnen – zum Beispiel für die Postcolonial Studies. Nicht nur dieser Beitrag aus »Kapital & Kritik« zeigt, dass man sich erst in Marx hineinknien muss, um die Punkte zu finden, an denen man über ihn hinausgehen muss.

Eine elaborierte methodische Selbstverständigung ist nach wie vor notwendig. Das zeigen vor allem die Einführungen. So hat Harvey nicht verstanden, welche Überlegungen hinter der Darstellung im »Kapital« stecken. Denn auf der einen Seite unterstreicht er die große Bedeutung, die die Methode bei Marx habe. Gleichzeitig ist er schwer verwundert, dass Marx sich scheinbar ständig wiederholt. Die Wiederholungen sind jedoch keine, sondern die Form der Darstellung, die Methode in actu. Wiederholungen sind es nur dann, wenn man eine allgemeine Methode am Werk sieht, die unabhängig vom darzustellenden Stoff existiert. Das schmälert jedoch nicht Harveys »Feingefühl« für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in den unterschiedlichsten Formen zum Ausdruck kommen.

Auf der einen Seite stellt Harvey durchaus die Bedeutung der fetischisierten Formen heraus. Darin liegt zwar nicht unbedingt seine Stärke, aber ihm gelingt es über die Darstellung des ganzen ersten Bandes hinweg aufzuzeigen, welche sozialen Verhältnisse und damit immer gesellschaftlichen Konflikte sich »hinter« den Kategorien der politischen Ökonomie verbergen.

Eine radikale Kapitalismuskritik bedeutet nicht, Spielräume innerhalb des Kapitalismus zu leugnen. Auch Marx war kein Gegner von Reformen oder Verbesserungen proletarischer Lebensbedingungen. Mehr noch: Mit der marxschen Theorie kann man gerade zeigen, wie und wo der Kapitalismus Spielräume aufweist, ohne dass er aufhört, Kapitalismus zu sein. Marx führt diese Perspektive gerade beim Kapitel über den Kampf um den Normalarbeitstag aus, die Harvey diskutiert. Was als »normaler« Arbeitstag in einer Gesellschaft gilt, ist ein Resultat von Kämpfen. Marx zeigt aber auch, dass steigende Löhne mit steigender Ausbeutung zusammenfallen können. Kämpfe um kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne mögen also noch so politisch richtig und wünschenswert sein: Den Kapitalismus heben sie nicht aus den Angeln.

Bei allen Spielräumen geht es immer auch darum, die Grenzen zu benennen und sich ihrer in politischen Auseinandersetzungen bewusst zu sein. Harvey schreibt: »Der Klassenkampf führt nur zu einem Ausgleich im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Nur zu leicht lässt sich der Klassenkampf als eine positive Kraft in die kapitalistische Dynamik integrieren, die zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise beiträgt. Damit zeigt sich zwar, dass der Klassenkampf unvermeidlich und gesellschaftlich notwendig ist, aber die Perspektive einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus bleibt im Dunkeln.« Harvey macht deutlich, dass es für Marx nicht der Punkt ist, dass Klassenkampf und Ausbeutung stattfinden, sondern welche Formen diese annehmen.

Diese Perspektive fehlt bei Harry Cleaver. Sein 1979 erstmals erschienenes Buch hat der Verlag Mandelbaum endlich ins Deutsche übersetzt. Dabei hätten jedoch die HerausgeberInnen in ihrer Vorbemerkung das Buch nach über 30 Jahren historisch kontextualisieren müssen. Marx musste damals dem (orthodoxen) Marxismus erst wieder entrissen werden. In den realsozialistischen Ländern wurde der Marxismus zu einer »Legitimationswissenschaft« (Negt) und die marxsche Ökonomiekritik zu einer Folie für Politische Ökonomie.

Cleaver liest Marx in der Tradition des italienischen Operaismus und zeigt, wie dieser als »Autonomist Marxism« im Angelsächsischen interpretiert wurde: Zentrales Thema war hier der Klassenkampf. Das Kapital wurde verstärkt als gesellschaftliches Verhältnis interpretiert, d.h. nicht als etwas, das – einer eigenen Logik folgend – auf einen historischen Endpunkt zusteuert, sondern als Dynamik, die verschiedene Klassenkräfte einschließt. Die Dynamik des Kapitals gehe vom »Angriffsdruck der Klassenbewegung« aus, heißt es bei Mario Tronti, einem wichtigen Vertreter des Operaismus.

Marx, so wiederum Cleaver, »bestand nicht nur wiederholt darauf, dass das Kapital ein gesellschaftliches Klassenverhältnis ist, sondern er hielt auch explizit fest, dass auf der Ebene der Klasse die sogenannten ökonomischen Verhältnisse in Wirklichkeit politische Verhältnisse sind.« Gemeint sind damit politisch umkämpfte Verhältnisse – wie etwa der Arbeitstag, den auch Cleaver thematisiert. Er erreicht aber nicht Harveys Niveau der Auseinandersetzung; so bleibt seine Forderung in der Luft hängen, »dass jede Kategorie explizit auf den Klassenkampf bezogen werden« müsse, dies aber nicht bedeute, »alles auf den Klassenkampf zu reduzieren«.

Marx politisch lesen!

Wie schnell der Appell, »Kapital«-Lektüre solle der politischen Praxis dienen, in falsches Fahrwasser gerät, zeigt Cleaver, wenn er behauptet, eine bestimmte Marx-Lektüre würde sich nicht der Frage der Praxis stellen, ja sogar vom Wesentlichen ablenken, nämlich dem Klassenkampf. Cleaver zufolge müsse es darum gehen, »abgehobene Interpretationen und abstraktes Theoretisieren« zu meiden, da es »die einzige Lesart von Marx« sei, die »wirklich vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse ausgeht, weil sie die einzige ist, die direkt auf die Bedürfnisse dieser Klasse nach Klärung des Handlungsspielraums und der Struktur ihrer eigenen Macht und Strategie antwortet«. Diese schlechte Tradition des Marxismus, in paternalistischer Manier für die Arbeiterklasse zu sprechen, sollte man sich möglichst nicht angewöhnen.

Marx sollte jedoch durchaus politisch gelesen werden. Aber dem widersprechen auch Heinrich und Bonefeld nicht, auch wenn sie die Frage etwas anders stellen. Ihnen zufolge müsste es darum gehen, mit den marxschen Konzepten die kapitalistisch verfasste Gesellschaftlichkeit auszuloten – also die Strukturen und Formen, die die »Handlungsspielräume« (Cleaver) überhaupt bestimmen, wie ja die Diskussion des Arbeitstags und die Lohnform zeigen: »Ein Versuch, der durchaus praktische Bedeutung gewinnen kann, wenn es darum geht zu bestimmen, was Gegenmacht bedeutet, die nicht von dieser Gesellschaftlichkeit produzierten Mystifizierungen aufsitzt und die sich nicht in den Fallstricken der politischen Form Staat verfängt.«

Anmerkungen:

1) Von Terry Eagelton ist ein fast gleichnamiges Buch angekündigt.

2) Der Polemik bedient sich Fülberth in einem Aufsatz in konkret 10/2011.

Literatur:

Werner Bonefeld und Michael Heinrich (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der »neuen« Marx-Lektüre. VSA-Verlag, Hamburg 2011, 29,80 EUR.

Harry Cleaver: »Das Kapital« politisch lesen. Mandelbaum, Wien 2012, 19,90 EUR.

Georg Fülberth : »Das Kapital« kompakt. Papyrossa, Köln 2011, 9,90 EUR.

David Harvey: Marx’ »Kapital« lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger. VSA-Verlag, Hamburg 2011, 24,80 EUR.

Fritz Reheis: Wo Marx Recht hat. Primus Verlag, Darmstadt 2011. 208 Seiten, 19,90 EUR.

Menschenrecht auf Profit

Spiegel-Online titelt heute »Hedgefonds wollen Menschenrecht auf Rendite einklagen« und amüsiert damit Karl Marx, wie ein Brief an seinen Freund Friedrich Engels vom 8. Dezember 1857 dokumentiert:

»Dass die Kapitalisten, die so sehr gegen das ›droit au travail‹ [Recht auf Arbeit] schrien, nun überall von den Regierungen ›öffentliche Unterstützung‹ verlangen […], also das ›droit au profit‹ [Recht auf Profit] auf allgemeine Unkosten geltend machen, ist schön.«

Austeritätsexperimente in Griechenland. Die Euro-Krise ist kein Kampf zwischen Staaten, sondern ein sozialer Konflikt

Griechenland spart. Gleichzeitig versucht der griechische Staat verzweifelt an Einnahmen zu kommen – durch Sondersteuern auf von allen zu leistende Zahlungen wie etwa Wasserrechnungen. Die großen Einkommen bleiben unangetastet. Die Lohneinschnitte und Steuererhöhungen bedeuten für viele Leute einen Realeinkommensverlust von bis zu 40 Prozent. Welche “Erzählungen” zur Krise gibt es in Griechenland? Wie ist die griechische Austeritätspolitik einzuschätzen? Über diese und andere Fragen sprach ich in ak 565 mit Jannis Milios, Ökonom aus Athen und Mitherausgeber der Zeitschrift Theseis.

Downgrade!!! Macht und Ohnmacht der Rating-Agenturen

«Europa darf sich den Euro nicht von drei US-Privatunternehmen kaputtmachen lassen» wetterte die EU-Justizkommissarin Viviane Reding Mitte Juli 2011 gegen die Rating-Agenturen. Auch  Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) machte Anfang Juli gegen die Rating-Agenturen mobil: «Wir müssen den Einfluss der Ratingagenturen begrenzen.» Immer wieder scheinen sie alle Versuche von Europäischer Union, IWF und den betroffenen Staaten zunichte zu machen, die Schuldenkrise zu überwinden und den Euro zu stabilisieren. Bei genauerer Betrachtung sind Rating-Agenturen aber vor allem eine beliebte Projektionsfläche. Sie sind weder derart mächtig, wie oft unterstellt wird, noch sind die Staaten einfach «Opfer» der Agentur-Ratings. Vielmehr war es die Politik selbst, die die Rating-Agenturen zum Teil des institutionellen Arrangements des Finanzmarkt-Kapitalismus gemacht hat. >>> Weiterlesen in Standpunkte 26/2011 [pdf-Datei]