Ein typischer Fall von Prokrastination: Vor 150 Jahre hielt Karl Marx einen Vortrag »Value, price and profit«

Vor genau 150 Jahren, am 27. Juni 1865, hielt Karl Marx den zweiten Teil eines Vortrags vor dem Provisorischen Zentralrat der Internationale Arbeiterassoziation (IAA), der später als Value, price and profit bekannt wurde. [1.]  Marx selbst hatte das Vortragsskript nicht veröffentlicht und es war auch nicht dafür vorgesehen. Vielmehr war es wirklich das Vortragsmanuskript, denn entgegen so manchen Mythen war Marx nämlich alles andere als ein guter Redner – er las ab. Die Blätter trugen keine Überschrift. Angefangen zu schreiben hatte Marx bereits im Mai. Der erste Teil des Vortrags (20.6.1865) arbeitete sich an John Weston ab, der zuvor ein Vortrag hielt. Von ihm ist wenig bekannt. Laut Thomas Kuczynski nicht einmal die Lebensdaten. Er war Gründungsmitglied der IAA, Arbeiter, »old Owenist« (Marx) und Aktivist, der auch nach 12 Stunden Arbeit für den Sozialismus agitierte. Bei der Spaltung der IAA 1872 folgte er nicht dem von Marx angeführten Flügel. Weston war also ein IAA-Genosse, dessen Thesen Marx so nicht stehen lassen wollte. Schließlich ging es um die politische Ausrichtung der IAA, die in diesen Jahren viele Grundsatzdebatten führte, etwa wie sich zu Gewerkschaften und ihren Kämpfen verhalten sollte. Continue reading “Ein typischer Fall von Prokrastination: Vor 150 Jahre hielt Karl Marx einen Vortrag »Value, price and profit«”

Das Kapi­tal ist außer sich. Luxem­burgs Begrün­dung der Not­wen­dig­keit nicht­ka­pi­ta­lis­ti­scher Milieus

»Ich … hasse Ber­lin und die Deut­schen schon so, dass ich sie umbrin­gen könnte. Über­haupt braucht man anschei­nend zum Leben eine Reserve an Gesund­heit und Kräf­ten.« (Rosa Luxem­burg an Leo Jogi­ches, 16. Mai 1898)

Am 10. Mai referierte ich auf Einladung der jour fixe initia­tive berlin zu Rosa Luxemburg. In der Ankündigung hieß es:

Im zweiten Band des Kapital verdeutlicht Karl Marx, dass die kapitalistische Produktionsweise zu ihrem Funktionieren vieler Voraussetzungen bedarf. Bis heute wird im Anschluss an Rosa Luxemburg darüber diskutiert, ob Marx hierbei nicht vernachlässigt habe, dass dies nur auf Grundlage kapitalistischer Expansion in nichtkapitalistische Milieus möglich sei. Luxemburg argumentiert im Anschluss an die Marxschen Reproduktionsschemata, dass der Kapitalismus nicht nur krisenhaft, sondern immer auch expansiv sein müsse. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, die Trennung der unmittelbaren Produzent_innen von ihren Produktionsmitteln, habe den Kapitalismus demnach nicht nur in die Welt verholfen, sondern bleibe eine systematische Voraussetzung des Kapitalverhältnisses. Die Veranstaltung soll Luxemburgs Marx-Kritik kritisch diskutieren.

Nach dem Vortrag wurde ich mehrmals gebeten, die Folien, die ich dort präsentierte, zugänglich zu machen. Das möchte ich hiermit tun.

Die Grafik am Ende der Folien ist von Urs Lindner (»Macht Arbeitsteilung Sinn? Zur Relevanz von Marx für die gegenwärtige Sozialtheorie«, in: Bude, Heinz/ Damitz, Ralf M., et al. (Hg.): Marx. Ein toter Hund? Gesellschaftstheorie reloaded, Hamburg 2010, 175-197.).

Die detaillierte Auseinandersetzung mit den Reproduktionsschemata findet ihr hier. An anderer Stelle bin ich aus Anlass von 100 Jahre Erster Weltkrieg nochmal auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg eingegangen und habe unter anderem den Ansatz von Luxemburg kritisch diskutiert.

Zudem möchte ich die Gelegenheit nicht verpassen, auf Ursula Schmiederers Text zum Verhältnis von Organisation und Spontaneität bei Rosa Luxemburg hinzuweisen.

Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren neun Exzerpthefte.

Vor ziemlich genau 150 Jahren, um den 23. März 1865 herum, bekam Karl Marx Post aus Deutschland. Der Philosoph und Ökonom lebte da bereits seit 15 Jahren in London. Mit dem Schreiben des Otto-Meißner-Verlags kamen auch die Vertragsunterlagen für ein Buch, das später zu einem der weltbekanntesten werden sollte: »Das Kapital«. Ein Erscheinen war für den Herbst 1867 geplant.

Etwa 20 Jahre vor diesem einschneidenden Ereignis betrat Marx das erste Mal englischen Boden. Eine Studienreise führte ihn zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels nach Manchester, wo Engels schon einige Zeit verbracht hatte. Beide planten die Herausgabe einer »Bibliothek der vorzüglichsten sozialistischen Schriftsteller des Auslandes« und wollten hierfür Material sichten. Marx plante zudem eine Schrift, die nie erschien: »Zur Kritik der Politik und Nationalökonomie«.

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren jedoch neun Exzerpthefte. Vier der sogenannten Manchester-Hefte sind jetzt in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erschienen (die Hefte 1 bis 5 bereits 1988) – sie markieren einen Übergang in Marx’ Arbeit und Selbstverständnis. Die Herausgeber des neuen MEGA-Bandes bezeichnen die Zeit ab 1845 deshalb auch als »formative Phase«: »Marx begibt sich in dieser Phase ganz bewusst auf das Feld der politischen Ökonomie und damit auf die Ebene eines Wissenstyps, der gerade erst seine Formierung und Kanonisierung abgeschlossen hat und maßgeblich das Gesellschaftsdenken des 19. Jahrhunderts prägen wird.« Der Untertitel des Kapitals wird nicht ohne Grund »Kritik der politischen Ökonomie« sein.

1845 rechneten Marx und Engels mit ihrem »philosophischen Gewissen« ab, wie Marx es selbst formulierte. Marx lässt ein bestimmtes theoretisches Selbstverständnis hinter sich, wendet sich zunehmend der Ökonomiekritik zu – und auch das »Proletariat« ist nicht mehr einfach ein philosophischer Begriff, sondern eine reale, soziale Größe, die wirkliche Assoziation der kämpfenden Arbeiterklasse. »Man muss die ›Philosophie beiseite liegen lassen‹«, schrieben Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie«, die fast zeitgleich entstand. Beide sind geradezu berauscht von der gesellschaftlichen Realität und der Empirie, von realen Auseinandersetzungen und der Materialität gesellschaftlicher Praxis – und »der Produktion« im umfassenden Sinn. Etwas, was 1845 in Manchester auch außerhalb der Studierstube zu erfahren war. Manchester war eines der industriellen Zentren der Welt. Aber nicht nur deshalb gingen die beiden Revolutionäre nach Manchester und nicht etwa nach London. Die englische Weltmetropole hatte zwar ungleich mehr Literatur zu bieten, aber ein Bibliotheksbesuch hätte nicht nur Geld gekostet, sondern er war zudem alles andere als einfach: Man brauchte eine persönliche Empfehlung, um überhaupt eine Besucherkarte zu bekommen. In Manchester kannte sich Engels zudem gut in den Bibliotheken aus, Bücher waren einfach auszuleihen und auch Genossen im Vorort hatten Material, das man sichten konnte. Continue reading “Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«”

PolyluxMarx. Zweiter Band der Bildungsmaterialien für Einführungen ins Kapital

«A superb instrument for teaching the fundamentals of Das Kapital.» Dieses Lob stammt von dem US-amerikanischen Historiker Mark Mancall von der Stanford University und gilt dem ersten Band von PolyluxMarx, der inzwischen in mehreren Sprachen aufgelegt wurde. Im Januar 2015 erscheint die zweite Ausgabe dieser Bildungsreihe.

Für die über 2.500 Seiten von Marx’ Kapital braucht man fast sechs Jahre, wenn man pro Tag eine Seite liest. Wer soll das alles lesen? Und wann? Der zweite Band von PolyluxMarx bietet eine verdichtete Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Er enthält animierte und kommentierte Folien, die sich für Abendveranstaltungen, Tages- und Wochenendseminare eignen – anders als der erste Band, der für die Kapitallektüre im Rahmen eines länger dauernden Kurses gedacht ist. Der zweite Band von PolyluxMarx ist verständlich aufbereitet und methodisch abwechslungsreich – mit Spielen und einem Comic-Clip. PolyluxMarx richtet sich an TeamerInnen, die einen ersten Einstieg in die Marxsche Analyse anbieten und so TeilnehmerInnen auf die Lektüre des Originals neugierig machen wollen.

PolyluxMarx. Zweiter Band bestellen und Comic Clip (Danke an 123comics) anschauen: http://vol2.polyluxmarx.de/

PolyluxMarx. Erster Band herunterladen oder bestellen: http://vol1.polyluxmarx.de/

PolyluxMarx ist im Rahmen der politischen Bildungsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden und beim Karl-Dietz-Verlag erschienen.

Weitere Infos zu Kapital-Lektürekursen und rund um das Thema Kritik der politischen Ökonomie: www.das-kapital-lesen.de

Das Kapital sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski. Oder: Wer liest eigentlich Piketty (zu Ende)?

Das web.de-Team hat sich anlässlich der Buchmesse in Frankfurt am Main etwas ganz Lustiges einfallen lassen: eine Liste der Bücher, die man einfach nicht zu Ende lesen kann. Auf dem schsten Platz steht das marxsche Kapital:

Politische Literatur ist sowieso etwas für Fortgeschrittene. Wir wagten uns an Das Kapital von Karl Marx – und scheiterten. Als Urlaubslektüre taugt es auf gar keinen Fall: 15 Seiten waren für uns genug. Dafür waren einerseits die komplexen Gedankengänge verantwortlich und andererseits die kleine Schrift im Buch. So anstrengend muss das Lesen nun auch wieder nicht sein.

Das erinnert an eine Anek­dote, die von Isaac Deut­scher bzw. Ignacy Daszyn­ski über­lie­fert ist[1. Das Ori­gi­nal fin­det sich in Deut­schers Essay-Sammlung ›Mar­xism in Our Time‹. Die ange­führte Para­phrase fin­det sich hier.]:

Das Kapi­tal sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszyn­ski, einer der bekann­tes­ten sozia­lis­ti­schen ›Volks­tri­bune‹ um die Jahr­hun­dert­wende, er habe es des­halb nicht gele­sen. Aber Karl Kau­tsky habe es gele­sen und vom ers­ten Band eine popu­läre Zusam­men­fas­sung geschrie­ben. Diese habe er zwar eben­falls nicht rezi­piert, aber Kelles-Krausz, der Partei-Theoretiker, habe Kau­tskys Buch gele­sen und es zusam­men­ge­fasst. Kelles-Krausz Schrift habe er zwar auch nicht gele­sen, aber der Finanz­ex­perte der Par­tei, Her­mann Dia­mand, habe sie gele­sen und ihm, Daszyn­ski, alles dar­über erzählt.

Es gibt jedoch einen weiteren Kapital-Band, der nicht zu Ende gelesen wird: Einem Bericht des Wall Street Journals zufolge, rangierte nach erscheinen in der englischen Übersetzung Pikettys Capital in the 21st Century nicht nur auf den Bestsellerlisten ganz weit vorne, sondern belegt auch Platz 1 im Ranking jener Bücher, deren Lektüre vorzeitig beendet wird (Abbruchquote: 97,6 Prozent) – das sagen zumindest die Amazon-Daten über das Leseverhalten auf dem hauseigenen E-Book-Reader Kindle. Piketty verwies damit den bisherigen ewigen Spitzenreiter Stephen Hawking (Eine kurze Geschichte der Zeit) auf Platz 2 (Abbruchquote 93,4 %).

→ Zum Dos­sier »Piket­tys Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert«.
Inhalts­ver­zeich­nis und eine Lese­probe zu: Ste­phan Kaufmann/Ingo Stützle: Kapi­ta­lis­mus: Die ers­ten 200 Jahre.  Tho­mas Piket­tys »Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert« – Ein­füh­rung, Debatte, Kri­tik (Ber­lin 2014).

Anmerkung:

Marx zu Thomas Piketty

Rainer Rilling hat dankenswerterweise eine Unmenge an Reaktionen zum amazon-Kassenschlager »Capital in the Twenty-First Century« von Thomas Piketty zusammengetragen. Piketty stellt die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt seines Interesses, wofür er von rechts gefürchtet, von links bejubelt wird. Die Beweggründe, warum er Gehör bekommt, sind also sehr unterschiedlich.

Nun hat sich auch Karl Marx zu Wort gemeldet und wirft Piketty vor, die bekannten Fehler der politischen Ökonomie zu wiederholen, ökonomische Größen und Einkommenformen zu naturalisieren und derart das altbekannte harmonische Bild eines sozialpartnerschaftlichen Streits unter Gleichen (Kapital/Arbeit) um die Verteilung des Kuchen zu malen:

Erde-Rente, Kapital-Zins, Arbeit-Arbeitslohn stehn sich die verschiedenen Formen des Mehrwerts und Gestalten der kapitalistischen Produktion nicht entfremdet, sondern fremd und gleichgültig, als bloß verschieden, ohne Gegensatz gegenüber. Die verschiedenen Revenues fließen aus ganz verschiedenen Quellen, die eine aus der Erde, die andre aus dem Kapital, die andre aus der Arbeit. Sie stehen also in keinem feindlichen, weil überhaupt in keinem inneren Zusammenhang. Wirken sie nun doch in der Produktion zusammen, so ist das ein harmonisches Wirken, der Ausdruck von Harmonie, wie ja z.B. der Bauer, der Ochse, der Pflug und die Erde in der Agrikultur, dem wirklichen Arbeitsprozesse, trotz ihrer Verschiedenheit harmonisch zusammenarbeiten. Soweit ein Gegensatz zwischen ihnen stattfindet, entspringt er bloß aus der Konkurrenz, welcher der Agenten mehr vom Produkt sich aneignen soll, vom Wert, den sie zusammen schufen, und kommt es dabei gelegentlich zur Keilerei, so zeigt sich dann doch schließlich als Endresultat dieser Konkurrenz zwischen Erde, Kapital und Arbeit, daß, indem sie sich untereinander stritten über die Teilung, sie durch ihren Wetteifer den Wert des Produkts so vermehrt haben, daß jeder einen größeren Fetzen bekommt, so daß ihre Konkurrenz selbst nur als der stachelnde Ausdruck ihrer Harmonie erscheint. (MEW 26.3, 493f.)

200. Geburtstag von Jenny Marx

Heute vor 200 Jahren wurde Jenny von Westphalen geboren, eine Frau, die als Jenny Marx bekannt ist: die Ehefrau im Schatten von Karl Marx. Sie aus dem Schatten herauszuholen, wurde immer wieder versucht und ging oft nach hinten los (was allerdings ausgerechnet die taz nicht so sieht). Patriarchale Verhältnisse durch Biografien und Würdigungen aufzuheben, obwohl sie in Leben, Arbeiten und Schreiben von Karl Marx so tief verankert waren, ist eigentlich unmöglich, jedenfalls wenn sie nicht selbst Gegenstand der Analyse und Darstellung werden.

Jenny von Westphalen um 1835. Gemälde von unbekannter Hand.

Klaus Theweleit hat patriarchale Produktionsverhältnisse in seinem mehrbändigen Werk Das Buch der Könige thematisiert. Darin zeichnet er anhand der Geschichte mehrerer Autoren nach, wie »die Frau« zur »Assistentin der männlichen Geburtsweise« (es geht um die »Geburt« künsterischer Werke) wird.

Die Produktion künstlicher Wirklichkeit geht nicht allein vor sich; zweite sind beteiligt, dritte. … Männer wie Frauen sind ›Orpheus‹ verbunden in Verhältnissen, die teils aussehen wie Liebesverhältnisse, womöglich aber Produktionsverhältnisse sind.

Weiter schreibt Theweleit:

– mit einem Wort, ob das Frauenopfer, das in abstrakter Weise allen Produktionen des Patriarchats zugrunde liegt oder inhärent ist, auch in bestimmten Kunstproduktionen nicht nur als ›Symbolisches‹ da ist, nicht nur als Imaginäres im Stoff und in der ›Handlung‹ der Werke, sondern auch in wirklichen Paaren zwischen den beteiligten Männern und Frauen vor sich ging und geht.

Der geistigen Produktion liegen Theweleit zufolge also Abzapfungs- und Auszehrungsprozesse, Menschenopfer zugrunde, Prozesse und Entbehrungen, von denen Jenny Marx in ihren Briefen viel berichtet, Prozesse und Verhältnisse, die auch si auf sich genommen hat.

An Wilhelm Liebknecht schrieb sie 1872:

Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere, weil kleinlichere Teil zu. Der Mann, er kräftigt sich im Kampf mit der Außenwelt, erstarkt im Angesicht der Feinde, und sei ihre Zahl Legion, wir sitzen daheim und stopfen Strümpfe. Das bannt die Sorge nicht, und die tägliche kleine Not nagt langsam aber sicher den Lebensunterhalt hinweg. Ich spreche aus mehr als 30jähriger Erfahrung, und ich kann wohl sagen, dass ich den Mut nicht leicht sinken ließ. Jetzt bin ich zu alt geworden, um noch viel zu hoffen… (MEW 33, S. 702)

Jenny Marx schrieb Bettelbriefe, besorgte Karl Marx bezahlte Jobs, wimmelte die GläubigerInnen ab und musste Pfändungen ihres Hab und Gut miterleben. Sie machte sich Sorgen darüber, wie sie und die Kinder durchkommen. Von sieben geborenen Kindern überlebten nur drei. Schulden waren ihr ein Graus. Das erfährt man aus einem Eintrag im Poesiealbum ihrer Tochter. Jenny Marx war es auch, die soziale Kontakte pflegte, wenn sich Karl Marx mal wieder mit jemandem überworfen hatte.

Sicherlich war Jenny Marx mehr als eine besorgte Mutter, nicht nur weil sie auch selbst schrieb (etwa über Londons Theater, Shakespeare,  sogar eine Autobiograhie verfasste sie; vgl.  Jenny Marx oder: Die Suche nach dem aufrechten Gang). In einer neuen Jenny-Marx-Biographie ist zu lesen: »Jenny Marx war für ihre Zeit eine über die Maßen emanzipierte und couragierte Frau.« Was aber ist der Maßstab? Antonia Bakunin, André Leo, Anna Jaclard? Oder Bettina von Arnim, Flora Tristan und Louise Otto? Ein Vergleich mit anderen Sozialistinnen und Aktivistinnen der Frauenbewegung wäre hilfreich gewesen.

Leider fehlt auch in der neuen Biographie zu Jenny Marx ein Schritt zurück, der es möglich gemacht hätte, die Frage zu stellen, was es eigentlich heißt, die Biografie einer Frau wie Jenny Marx zu schreiben. Einer Frau, die nicht nur unter sozial beschissenen, sondern auch unter patriarchalen (Produktions-)Verhältnissen lebte. Dass diese Dimension kaum Thema von Biografien ist, ist eine häufige Leerstelle, in der marxistischen Diskussion. FeministInnen haben sie oft und zurecht kritisiert. Auch die an Marx orientierte Ökonomiekritik blendet oft die Sphäre der Reproduktion der Ware Arbeitskraft aus, ebenso wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und asymmetrischen Geschlechterverhältnisse, die den Kapitalismus als ganzes durchziehen.

Auf dem Umschlag der neuen Jenny-Marx-Biographie ist zu lesen, das Karl Marx’ wissenschaftliches Hauptwerk Das Kapital sei. Marx‘ Kapital sei hingegen seine Frau Jenny gewesen – der mitschwingenden Doppelsinn ist wahrscheinlich ungewollt.

Klaus Theweleit macht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Kulturproduktion unter anderem daran fest, wer zum Diktat bittet – und wer die Schreibmaschine bedient. Zu Marx Zeiten war die Automatisierung des Schreibens unter Denkern noch nicht weit verbreitet. Friedrich Nietzsche soll der erste Philosoph gewesen sein, der sich eine zugelegt hatte. Und dennoch: 1852 wurde Jenny Marx offiziell Karl Marx‘ Sekretärin. Karl diktierte auch, wenn er unter Zeitdruck war. Viele seiner Schriften brachte sie für ihn in Reinschrift und redigierte sie: Die Heilige Familie, Das Elend der Philosophie, das Kommunistische Manifest, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Zur Kritik der politischen Ökonomie und viele Zeitungsartikel und  kleinere Schriften. Das Kapital hingegen hat Marx selbst in Reinschrift gebracht – das wollte er wohl ungern aus der Hand geben. Zum achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte sagt sie: »die Erinnerungen an die Tage, an denen ich in Karls‘ Stübchen saß, seine kritzlichen Aufsätze kopierte, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.« Das Produktionsverhältnis beruhte also durchaus auf gegenseitigem Einvernehmen.

Zu ihrem 200. Geburtstag findet nun in Jenny Marx‘ Geburtsstadt Salzwedel eine Sonderausstellung statt, sie wird im Fernsehen und Radio gewürdigt. Eine neue Biographie und ein Briefband sind erschienen, in dem etwa 100 Briefe erstmals veröffentlicht werden. Vor allem der Briefband ermöglicht einen Blick auf das, was Jenny Marx umtrieb, was sie dachte und tat. Beide Bücher sind sehr wichtige Puzzleteile in der biografischen Forschung. Mehr Sensibilität für die Geschlechterverhältnisse sind aber nötig, um ein vollständiges Bild von Jenny Marx zu bekommen.

Angelika Limmroth: Jenny Marx. Die Biographie. 303 Seiten. Karl Dietz Verlag Berlin
Rolf Hecker/Angelika Limmroth (Hg.): Jenny Marx. Die Briefe. 607 Seiten. Karl Dietz Verlag Berlin

Nachtrag zur stabilen Seitenlage des Marxismus

eisfueralle

Am Wochenende fand die AKG-Tagung »Zur Lage des Marxismus« statt. Tweets zur Tagung findet ihr hier; ich habe die Live-Tweets auch zu einer Storify aufbereitet:

Leider hat niemand die Anekdote angeführt, die von Isaac Deutscher bzw. Ignacy Daszynski überliefert ist:

›Das Kapital‹ sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski, einer der bekanntesten sozialistischen ›Volkstribune‹ um die Jahrhundertwende, er habe es deshalb nicht gelesen. Aber Karl Kautsky habe es gelesen und vom ersten Band eine populäre Zusammenfassung geschrieben. Diese habe er zwar ebenfalls nicht rezipiert, aber Kelles-Krausz, der Partei-Theoretiker, habe Kautskys Buch gelesen und es zusammengefasst. Kelles-Krausz Schrift habe er zwar auch nicht gelesen, aber der Finanzexperte der Partei, Hermann Diamand, habe sie gelesen und ihm, Daszynski, alles darüber erzählt.

Das Original findet sich in Deutschers Essay-Sammlung ›Marxism in Our Time‹. Die angeführte Paraphrase findet sich hier.

Zweck der Automatisierung und der Begriff des informationellen Kapitalismus

Einer neuen Studie zufolge könnten in den USA schon in naher Zukunft 47 Prozent aller Jobs der Automatisierung »zum Opfer fallen«, so telepolis, die sogleich die Top-10 der am meisten gefährdeten Berufe anführen. Angesichts dieser durchaus berechtigten »Befürchtung«, zeigt sich erneut die Aktualität der marxschen Kritik. Im 13. Kapitel des ersten Bandes des Kapital, dem Kapitel über »Maschinerie und große Industrie«, zitiert Marx John Stuart Mills »Prinzipien der politischen Ökonomie«:

Es ist fraglich, ob alle bisher gemachten mechanischen Erfindungen die Tagesmühe irgendeines menschlichen Wesens erleichtert haben.

Marx kommentiert kritisch:

Solches ist jedoch auch keineswegs der Zweck der kapitalistisch verwandten Maschinerie. Gleich jeder andren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit soll sie Waren verwohlfeilern und den Teil des Arbeitstags, den der Arbeiter für sich selbst braucht, verkürzen, um den andren Teil seines Arbeitstags, den er dem Kapitalisten umsonst gibt, zu verlängern. Sie ist Mittel zur Produktion von Mehrwert.

Wer also über Automatisierung spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Continue reading “Zweck der Automatisierung und der Begriff des informationellen Kapitalismus”

Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago

»An Marx interessiert mich wirklich nur dieser eine Gedanke, die Entdeckung der immanenten Widersprüche im kapitalistischen Produktionssystem.« (Paul Mattick)

Der 1904 geborene Paul Mattick emigrierte 1926 in die USA. Ihm verhalf damals der Kölner Bürgermeister zum nötigen Kleingeld, Deutschland zu verlassen – Konrad Adenauer. Mattick rechnete dem Bürgermeister vor, dass die zukünftige finanzielle Unterstützung mehr Kosten verursachen würde, als das Geld, das er für die Ausreise brauche. Das leuchtete Adenauer ein und sorgte umgehend für eine unbürokratische Lösung.

Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Michael Buckmiller dem Rätekommunisten Mattick im Sommer 1976 in einem dreitägigen Gespräch entlockte. Das Interview ist nun zusammen mit literarischen Texten von Paul Mattick und einem Nachwort von Michael Buckmiller in der Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung im Unrast-Verlag erschienen. Dafür ist dem Verlag, Michael Buckmiller, den Herausgebern Marc Geoffroy und Christoph Plutte und vielen HelferInnen zu danken. Das Buch eröffnen Einblicke in einen fast vergessenen Alltag der proletarischen Weimarer Republik, Kämpfe jenseits von KPD und SPD und Intellektualität, die mehr mit Punk als mit Universität zu tun hat. Continue reading “Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago”

Das marxsche Kapital: unlesbar für Laien?

»Wer ›Das Kapital‹ lesen will, stößt auf eine Überfülle von Schwierigkeiten. Ja, man darf sagen, für Laien ist es überhaupt unlesbar. Und die meisten Menschen sind doch nun mal Laien.« (Julian Borchardt, 1919)

Letzte Woche referierte Fritz Fiehler im Rahmen der Satellitenseminare der Kapitalkurse über Einführungen ins marxsche Kapital. In der Veranstaltungseinladung hieß es:

Eine Einführung in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ist immer schon eine Interpretation des Originals, eine bestimmte Lesart und eine Verdichtung des politisch-theoretischen Kontexts, in dem Marx jeweils rezipiert wurde. Das Kapital wird also immer neu gelesen – und anders. Warum? Welche Debatten, Auseinandersetzungen und Fragen bringen sie in spezifischer Form zum Ausdruck?

Der Vortrag ist inzwischen als Audiodokumentation verfügbar:

[soundcloud params="auto_play=false&show_comments=false"]https://soundcloud.com/rosaluxstiftung/fiehler[/soundcloud]

Renner Fritz Fiehler konstatierte, dass sich frühe Einführungen meist auf die Darstellungen des ersten Bandes konzentrierten, auf die Darstellung der Wert- und Mehrwerttheorie. Das ist durchaus richtig. Leider gehen bei derartigen Verallgemeinerungen spannende Ausnahmen unter. Hierzu gehören im Fall der Einführungen bzw. popularisierender Darstellungen des Kapitals u.a. die »gemeinverständliche Ausgabe« des Kapitals (1919) von Julian Borchardt und der Band »Die Wirtschaft als Gesamtprozess und die Sozialisierung« (1924) von Karl Renner. Denn: Beide Bücher haben alle drei Bände zum Gegenstand. Continue reading “Das marxsche Kapital: unlesbar für Laien?”

We proudly present: PolyluxMarx. A Capital Workbook in Slides

polyluxmarx-en

For several years now, people have been starting to dust off Marx and return to his analysis of society. This is mainly due to the social turmoil in global capitalism, weaknesses in prevailing explanations of economic relationships and the harrowing crises the world has faced since the 1990s. In particular, a younger generation of readers – untainted by former ideological battles – is starting to read Capital. Whether in universities, educational institutions, unions, or in their own living rooms, small groups are discussing Marx’s critique of political economy. This is exactly what PolyluxMarx aims to support. This website provides a collection of annotated PowerPoint slides that illustrate the central arguments from Capital. We also use concise introductory texts and notes on methodology and learning to make Capital easier to read.

You can download all of the PowerPoint slides available on polyluxmarx.de/en/ and preview the first slide in a set by clicking on it.

Staatsgefährdendes Propagandamaterial Marx-Engels-Werke

Kommende Woche trägt Oskar Negt zu seinem Verhältnis zur Frankfurter Schule vor (Flyer). Vor drei Jahren hat er einen Teil seines Vorlasses dem Archivzentrum der Frankfurter Universitätsbibliothek übergeben (hier aufgeführt). Ein Schriftverkehr zeigt, wie schwer es 1960 unter Adenauer war, sich mit Marx auseinanderzusetzen.

Nach der Beschlagnahmung eines an Negt adressierten Pakets schreibt das Amtsgerichts Frankfurt an Negt:

»Es wird Ihnen mitgeteilt, dass ein an Sie gerichtetes Paket aus der Sozialistischen Besatzungszone, in welchem sich staatsgefährdendes Propagandamaterial befand, auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen von dem Amtsgericht in Rothenburg beschlagnahmt worden ist.« (Quelle)

Worauf Negt wartete: Bände der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW). Negt, der derzeit bei Adorno promovierte, antwortete:

»Auf Grund des innerdeutschen Handels sind alle Bücher, die im Dietz- und Aufbauverlag erschienen sind, im westdeutschen Buchhandel erhältlich. Ich folgere daraus, dass sie deshalb nicht staatsgefährdend sein können.«

Was dem Archiv leider bei der Archivierung entgangen ist: Es kann sich nicht um Ausgaben der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) gehandelt haben, wie es dort heißt, denn diese erschien erst ab 1975 im Dietz-Verlag (siehe u.a. hier).

Der alte Schlawiner lebt

Die Welt stehe »vor dem Epochenbruch«, hat Anfang August der Linken-Politiker Manfred Sohn hier geschrieben und erläutert, warum die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach keine »normale« ist und was das für die gesellschaftliche Linke heißt. Alban Werner hat darauf geantwortet – mit dem kritischen Hinweis, dass wir »noch nicht am Ende der kapitalistischen Fahnenstange« sind. Sabine Nuss und ich haben den Staffelstab aufgenommen und antworten auf die von Manfred Sohn angestoßene Debatte um das Ende des Kapitalismus:

»Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, is uns lang genug auf der Tasche gelegen« – so singt Peter Licht in dem wunderschönen »Lied vom Ende des Kapitalismus« und frohlockt im Refrain: »Vorbei – Jetzt isser endlich vorbei«. Die Realität allerdings sieht anders aus. Der Kapitalismus ist lebendig wie eh und je und daran wird sich voraussichtlich erst mal nicht sehr viel ändern. Während die bürgerlichen Medien derzeit das Ende der Krise des Kapitalismus ankündigen, debattiert man im Neuen Deutschland über das Ende des Kapitalismus. Auftakt gab ein Artikel von Manfred Sohn.

Weiterlesen bei neues-deutschland.de

Update (5.9.2013): Die Debatte geht inzwischen weiter – nicht nur in den Kommenarspalten. Arno Klönne schrieb einen weiteren Beitrag für das nd und Elmar Flatschart hat auf der Webiste von Exit die ersten beiden Beiträge kommentiert.