Das Volk als Wille und Vorstellung. Die Forderung nach »Souveränität« ist für politische Emanzipationsprozesse mehr Irrlicht als Orientierungspunkt

Von Holger Oppenhäuser und Ingo Stützle

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Souveränität. Links wie rechts erhofft sich, durch eine Stärkung staatlicher Souveränität wahlweise der kapitalistischen Globalisierung, der neoliberalen Banken- und Eurorettung und der Europäischen Zentralbank oder dem US-Imperialismus die Stirn bieten zu können -auch auf den sogenannten Montagsdemos stimmen einige ProtagonistInnen in diesen Chor ein. Continue reading “Das Volk als Wille und Vorstellung. Die Forderung nach »Souveränität« ist für politische Emanzipationsprozesse mehr Irrlicht als Orientierungspunkt”

Die Hilflosigkeit keynesianistischer Makroökonomie

Nachdem die Krise 2008 zu einer internationalen Banken- und Finanzkrise ausartete und eine tiefgreifende Depression nach sich zog, waren Vergleiche mit 1929 an der Tagesordnung. In der Diskussion über wirtschaftspolitische Alternative wurde und wird auch regelmäßig der in den 1930er Jahren angestrengte »New Deal« ins Feld geführt – als positives Beispiel für eine Alternative.

Stephan Schulmeister vom österreichischen WIFO hat nun ein 23seitiges Papier mit dem Titel »Von Roosevelt lernen: Sein ›New Deal‹ und die große Krise Europas« vorgelegt. Der Beitrag ist wie immer lehrreich und interessant – nur etwas hilflos. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn diese politische Hilflosigkeit selbst Thema werden würde. Wird sie aber nicht. Die Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass die Politik Roosevelt allein als kluge Wirtschaftspolitik mit dem nötigen Durchsetzungswillen verkauft wird. War sie das? Mitnichten.

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US-working class disarmed. Grafik von Doug Henwood.

Noch bis 1932 hatte Roosevelt schuldenfinanzierte Staatsintervention abgelehnt. Was überzeugte ihn, einen anderen Kurs einzuschlagen? Es waren die Klassenkämpfe, die in den USA wüteten und viele Menschen politisierten: Neben einer radikalen, großen Arbeitslosenbewegung, die auf Selbstorganisierung setzte, streikten trotz drohendem Jobverlust Millionen von ArbeiterInnen (vor allem in der Autoindustrie). Ein effektives Mittel in den Fabriken waren die berühmten Sit-Down-Streiks. Die Arbeitskämpfe zogen weitere Kämpfe nach sich und machten die Gewerkschaften stark. Die Zahl der Mitglieder vervielfachte sich. Vor diesem Hintergrund war das Kapital gezwungen, die Gewerkschaften als ›Tarifpartner‹ anzuerkennen, und die Demokratische Partei dazu, einen Mindestlohn und die 40-Stunden-Woche zu verabschieden.

Die Arbeitskämpfe und sozialen Konflikten bei der »Geschichtsschreibung« zum New Deal auszublenden, reduziert diesen auf eine »gute Idee« – als eine Verschiebung wollen Willensverhältnissen, statt von gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen, Kräfte, die es in den 1930ern durchaus gab, aber derzeit eben nicht – weder in den USA oder der EU und noch weniger in Deutschland oder Österreich.

USA, 1934: Open battle between striking teamsters armed with pipes and the police in the streets of Minneapolis.

Undemokratischer Antifaschismus

Heute morgen im Radio: Gregor Gysi (Die Linke) wird von Christoph Heinemann (Deutschlandfunk) zur Ukraine interviewt (Hinweis von Martin Krauss, Protokoll deutschlandfunk):

Gysi: »Unsere Regierung sagt einmal, die Verfassung gilt nicht richtig, es ist eine Revolution. Am nächsten Tag sagen wir aber, wir müssen ja die Verfassung einhalten in Bezug auf die Krim. Und wissen Sie, was mich an der Regierung wirklich stört? Da sitzen aber richtige fünf Faschisten drin. Ich habe ja gestern den Vorsitzenden der Swoboda-Partei zitiert. Ich bitte Sie! Und ich finde, gerade die Bundesregierung hätte sagen müssen, hier ist eine Grenze überschritten. Ich meine, der hat gesagt, ›An die Gewehre‹, und dann hat er gesagt, ›Russensäue, Deutsche, Judenschweine und andere Unarten‹. Ich bitte Sie! Das ist der Vorsitzende einer Regierungspartei in der Ukraine.«
Heinemann: »Und mit der sollte man nicht mehr reden, oder wie?
Gysi: Ich hätte zu den anderen gesagt, die müsst ihr wieder rausschmeißen.«
Heinemann: »Das wäre ja schon wieder undemokratisch?«

Zum Nachhören:

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/03/14/dlf_20140314_0811_2cb546fa.mp3

 

»Im Übrigen wären Reparationen mehr als 65 Jahre nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen ohne jede Präzedenz.«

»Im Übrigen wären Reparationen mehr als 65 Jahre nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen ohne jede Präzedenz.« (Deutsche Bundesregierung)

Die deutsche Regierung hat auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke geantwortet (Anfrage/Antwort). Gegenstand sind mögliche Reparationsansprüchen Griechenlands und die Rückzahlung einer Zwangsanleihe. Es gebe keine Ansprüche, so die Regierung. Hintergrund ist, dass u.a. Syriza immer wieder angekündigte, die Reparationsfrage nochmals aufs Tablett zu bringen.

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Deutsche in Athen. Foto: liketobite (CCBY2.0)

Zur offenen Reparationsfrage trug Karl Heinz Roth einiges an Material zusammen, Hintergrund ist u.a. die Zerstörung der griechischen Volkswirtschaft (1941-1944) (hörenswert ist auch der Beitrag von Otto Köhler zu Deutschlands Schulden in Athen; siehe unten). In der gleichen Ausgabe von Lunapark21 fragte sich Winfried Wolf, wie der Euro nach Griechenland kam und warum vieles, was lange bekannt war, erst 2009ff. zu einem Skandal hochgejazzt wurde und weißt auf eine aussagekräftige Parallelität »zwischen Euro-Verweigerung für Griechenland bzw. Ja zu einem griechischen Beitritt zur Euro-Zone und die politische und juristische Zuspitzung bei den Forderungen nach Entschädigung« hin. Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

Vortrag von Otto Köhler über »Schuldenkrise«, deutsche Besatzung, Ausplünderung und Wehrmachtsverbrechen in Griechenland:

Kein Euro ist auch keine Lösung. Viele Linke erhoffen sich zu unrecht mit einer Renationalisierung mehr wirtschaftspolitischen Spielraum

Vor etwa einem Jahr war Guido Westerwelle zu Besuch beim Weltwirtschaftsforum in Davos. „I hate the word austerity“ gab Westerwelle zu Protokoll und brachte dann genau das zum Ausdruck, was die deutsche Politik ausmacht. Es klinge viel eleganter, wenn man das Wort auf Deutsch ausspreche: Austerität. Das klinge nach Disziplin und deshalb nutze er statt „austerity“ lieber die Formulierung „fiscal discipline“ – und die Deutschen liebten Disziplin. (Mitschnitt hier.) Wie Recht er doch leider hat.

pfmDas dem so ist, stellt die Partei DIE LINKE und auch die gesellschaftliche Linke vor viele Herausforderungen. Wenn sich auf der Straße, den Betrieben, den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und Universitäten, den Kitas und auf dem Jobcenter kaum Protest regt, verspricht eine mögliche Regierungsmacht der LINKEN Gestaltungsfähigkeit. Kein Wunder also, dass trotz einer Großen Koalition sowohl Kräfte in der Partei DIE LINKE, als auch in der SPD signalisieren, dass nach der nächsten Bundestagswahl Rot-Rot-Grün möglich sein soll. Der politische Willen ist also da, die gesellschaftlichen Mehrheiten noch lange nicht.

Neben den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen gibt es jedoch weitere Faktoren, die über Wohl und Wehe von linker Regierungspolitik entscheiden. Neben den institutionellen-bürokratischen Staatsapparaten, die wie ein politischer Filter wirken und räumlich fragmentiert zwischen Stadt/Kommune und der Europäischen Union angesiedelt sind, können auch ökonomische Zwänge disziplinierend auf Regierungspolitik einwirken. Die einen sprechen von „der“ Globalisierung, die anderen von den Finanzmärkten, dem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse.

Weiterlesen in der aktuellen Ausgabe des Prager Frühlung

Das neue Europa, die deutschen Pläne und die linken Kritiker. Videodokumentation der Seminarreihe

Die Euro-Krise scheint überstanden. Mehr noch: «Die Krise hat Europa gestärkt», so Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im April 2013. An den Finanzmärkten ist Ruhe eingekehrt. Die Haushaltsdefizite der Staaten sind drastisch gesunken, die Wirtschaft wächst. Alles wieder normal? Nicht ganz. Denn erstens ist die Lage in vielen Staaten noch katastrophal: Arbeitslosigkeit und Schuldenstände liegen rekordhoch. Zweitens hat sich Europa durch die Krise stark verändert. Die EU kontrolliert nun die Staatsverschuldung und die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten. Daneben existiert ein Sicherheitsnetz für hochverschuldete Staaten in Form des Eurorettungsschirms ESM und den Garantien der Europäischen Zentralbank. Insgesamt lässt sich feststellen: Die Euro-Staaten haben an Souveränität eingebüßt und Machtbefugnisse an die Zentrale in Brüssel abgegeben. Ist dieses Arrangement haltbar? Kann es künftige Krisen verhindern? Das haben wir versucht, in einer vierteiligen Reihe zu disktieren.

Hier die Diskussion nach dem Vortrag:

Alle weiteren Aufteichnungen zur deutschen Strategie, zur EZB und zur Frage, warum es mit Europa ein Kreuz ist, findet ihr hier.

Vom Wollen und Können: Europa und DIE LINKE

Nicht nur die Partei DIE LINKE, sondern auch viele Linke wissen nicht, wie sie sich zur Europawahl verhalten sollen, wie EU-Kritik formulieren. Es ist auch nicht leicht. Aber das Problem ist oft, dass nicht einmal klar ist, was die eigentlichen Konflikte sind. Stefan Liebich, Jan Korte, Julia Nüss, Luise Neuhaus-Wartenberg und Dominic Heilig haben heute ein Diskussionsangebot verfasst, eine Resultante aus den Debatten innerhalb der Partei DIE LINKE zum Entwuf des Parteivorstandes für ein Europawahlprogramm. Es wurde heute im neuen deutschland dokumentiert. Darin heit es u.a.:

Die LINKE muss deshalb auch 2014 glaubhaft aufzeigen, dass sie die Europäische Union zu einer sozial gerechten und demokratischen Union entwickeln will.

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Seminarreihe: Die Krise hat Europa gestärkt

Die Euro-Krise scheint überstanden. Mehr noch: «Die Krise hat Europa gestärkt», so Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im April 2013. An den Finanzmärkten ist Ruhe eingekehrt. Die Haushaltsdefizite der Staaten sind drastisch gesunken, die Wirtschaft wächst. Alles wieder normal? Nicht ganz. Denn erstens ist die Lage in vielen Staaten noch katastrophal: Arbeitslosigkeit und Schuldenstände liegen rekordhoch. Zweitens hat sich Europa durch die Krise stark verändert. Die EU kontrolliert nun die Staatsverschuldung und die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten. Daneben existiert ein Sicherheitsnetz für hochverschuldete Staaten in Form des Eurorettungsschirms ESM und den Garantien der Europäischen Zentralbank. Insgesamt lässt sich feststellen: Die Euro-Staaten haben an Souveränität eingebüßt und Machtbefugnisse an die Zentrale in Brüssel abgegeben. Ist dieses Arrangement haltbar? Kann es künftige Krisen verhindern?

Neue Besprechung von »Austerität als politisches Projekt«

Sebastian Klauke hat in der Politische Vierteljahresschrift (4/2013, 770ff.) eine Besprechung zu »Austerität als politisches Projekt« geschrieben:

»Mit seiner auf eine Dissertation zurückgehenden Veröffentlichung zur Frage, wie es gelingen konnte, die Europäisierung des ›finanzpolitische[n] Grundsatzes ausgeglichener Staatshaushalte als Leitbild‹ (14) durchzusetzen, bewegt sich Ingo Stützle auf einem brandaktuellen Terrain, dessen Geschichte angesichts aktueller Krisenereignisse wohl noch länger nicht beendet sein wird. Er legt eine Art Ruhepunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor und bietet einen Überblick, von dem aus man weiter operieren kann. Continue reading “Neue Besprechung von »Austerität als politisches Projekt«”

Mit dem Freihandelsabkommen TTIP will sich Deutschland einen guten Platz unter der Weltmarktsonne sichern.

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Foto: CC-Lizenz, N. Linneberg

Nach der Pleite von Lehman Brothers 2008 war das Geschrei groß. Fast noch lauter war aber die Euphorie darüber, die Krise führe endlich dazu, dass der neoliberalen Marktgläubigkeit abgeschworen werde. Der Staat kehre nun zurück, die ÖkonomInnen hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren. Viele Linke freuten sich über das bürgerliche Unbehagen am Kapitalismus im FAZ-Feuilleton. Die Strahlkraft des Neoliberalismus und die Versprechen des Freihandels würden verblassen, glaubten viele. Pustekuchen! Continue reading “Mit dem Freihandelsabkommen TTIP will sich Deutschland einen guten Platz unter der Weltmarktsonne sichern.”

Keynesianism is not Necessarily Leftist

Austerity policies in the EU are often presented as having no alternative.  Many leftists, on the other hand, hope for a better life from Keynesianism.  Jungle World spoke with me about the euro crisis, austerity, and Keynesianism.  My study »Austerity as a Political Project« was published this Summer.

JW: What do you mean by “austerity as a political project”?

IS: The title refers to contemporary developments in the eurozone.  I raised the question as to how the financial policy model of the balanced budget could be europeanized with the creation of the euro.  Ultimately, such policies don’t just fall from the sky, nor can they simply be derived from the dynamic of accumulation.  A political project integrates disparate social and political forces that do not necessarily consciously follow the same goal.  But within a specific historical constellation, their activity converges upon a common result.  That was the case with the euro and the model of the balanced budget.  Since then, Canada also wants to legally codify this principle, and US President Obama, after the budget conflict, called on the Republicans to make common cause with him, despite all their differences, in order to present a balanced budget.

Read further on the northstar.

Translated from the German by Alexander Locascio. Thanks a lot!

Keynesianismus ist nicht unbedingt links

AusteritaetAxel Berger hat mich für die aktuelle Ausgabe der Jungle World zu meinem Buch »Austerität als politisches Projekt« interviewt.

Wir sprachen über die Grenzen von Staatsverschuldung, ob Keynesianismus links ist und ob ein Austeritätskurs und ein defizitärer Staatshaushalt ein Widerspruch sind.

Den erwähnten Text von Sabine Nuss zum Gebrauchsanleitungs-Kapitalismus findet ihr in der Zeitschrift LUXEMBURG.

Reaktionen auf und Buchvorstellung von »Austerität als politisches Projekt«

Inzwischen liegen für »Austerität als politisches Projekt« erste Besprechungen vor. Weitere wurden bereits angekündigt. Das freut mich sehr. Das Buch stelle ich im Rahmen von Veranstaltungen auch hier und da vor. Ich habe begonnen, alles hier zu sammeln.

Aufgeblättert: Europas Revolution von oben

Steffen Vogel nimmt Angela Merkels Forderung einer »marktkonformen Demokratie«, die sie 2011 auf einer Pressekonferenz formulierte, als Ausgangspunkt, die letzten Jahre Austeriätpolitik Revue passieren zu lassen. In fünf Kapiteln zeichnet Vogel die Krise nach, die spezifischen Bedingungen in Spanien und Griechenland, wie die Troika in der Eurozone agierte und schließlich Deutschland die EU nach seinem Sparbilde formte: Schuldenbremse für alle. Vogel schließt mit einer solidarischen Referenz auf die Proteste der letzten Jahre: »Die Zukunft Europas wird heute in Sitzungssälen geschrieben. Ab morgen sollte sie auf den Straßen und Plätzen geschrieben werden.« Das Buch ist mit heißer Nadel gestrickt, will es doch am Puls der Zeit linken AktivistInnen und kritischen Köpfen eine Handreichung zur Eurokrise geben. Wer Details und wichtige Weichenstellungen der letzten Jahre Zeitungslektüre vergessen hat, wird für das Buch dankbar sein. Leider fehlt etwas analytischer Tiefgang. Nicht diskutiert wird, was ein Staat und was die EU als politisches Gebilde ist und wie sich Privatinteressen gesellschaftlich verallgemeinern. Für Vogel wird eine falsche Politik verfolgt bzw. eine, die bestimmten Interessen nützt. Wichtig für linke Gegenmacht ist jedoch zu verstehen, wie sich deutsche Interessen und die spezifischen Kapitalfraktionen als Allgemeininteressen europäisch verallgemeinern konnten und welche Rolle europäische Staatlichkeit dabei spielte.

Ingo Stützle

Steffen Vogel: Europas Revolution von oben. Sparpolitik und Demokratieabbau in der Eurokrise. Laika Verlag, Hamburg. 165 Seiten, 19,80 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 587 vom 15.10.2013