Die Mühe der Ebene. Eigentum und Besitz bei Nicos Poulantzas

Alex Demirovic, Stephan Adolphs und Serhat Karakayali haben in der Reihe Staatsverständnisse bei Nomos einen Band zu Nicos Poulantzas herausgegeben. Dieser ist jetzt erschienen. Darin findet sich auch ein Aufsatz von mir und Sabine Nuss:

Durch die in den letzten Jahrzehnten rasant fortgeschrittene Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien wurde »Geistiges Eigentum« zu einer besonders umkämpften Rechtssphäre. Manch einer vertritt die These, Geistiges Eigentum würde zur zentralen Rechtsform des 21. Jahrhunderts bzw. des »Informationszeitalters« werden. Hintergrund dieser Entwicklung ist die Digitalisierung von Inhalten geistig-kreativer Schöpfung. Durch die elektronische Datenverarbeitung und die grenzüberschreitende Vernetzung von Computern können geistig-kreative Schöpfungen weltweit unautorisiert verbreitet werden. In den vergangenen Jahren hat es etliche Maßnahmen gegeben, die dieser Praxis Einhalt gebieten sollen. So wurde u.a. das Urheberrecht angepasst und Kopierschutztechnologien entwickelt sowie Kampagnen durchgeführt, die das »Unrechtsbewusstsein« der NutzerInnen wecken sollten (»Raubkopierer sind Verbrecher«). Auf internationaler Ebene wurde das internationale Regelwerk TRIPS in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen, um die Eigentumsrechte im zunehmend weltweiten Warentausch mit Gütern geistigkreativer Schöpfung zu sichern.

Die aktuellen Entwicklungen und Debatten um Geistiges Eigentum sind vorliegendem Text Anlass für eine Re-Lektüre von Nicos Poulantzas’ Klassen im Kapitalismus – heute von 1974, in dem er den Wandel von Eigentumsverhältnissen seiner Zeit als eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der herrschenden Klasse analysiert. Vor diesem Hintergrund wollen wir Poulantzas’ Konzeption von Eigentum eingehender vorstellen und diskutieren.

Weiterlesen in: Nuss, Sabine/ Stützle, Ingo (2010): Die Mühe der Ebene. Eigentum und Besitz bei Nicos Poulantzas, in: Demirović, Alex/ Adolphs, Stephan/ Karakayali, Serhat (Hg.): Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis, Baden-Baden, 115-131.

Die Tage wird sicher das komplette Inhaltsverzeichnis auf der website einsehbar sein.

Kreditklemme und die Verstaatlichung der Banken

creditcrunchManchmal braucht man externe Hilfe, um eine lange oder blockiert Leitung freizumachen. Heute habe ich in der aktuellen Zeit den Beitrag “Reden ist Blech” von Mark Schieritz gelesen und hatte ein kleines aha-Erlebnis. In einigen Punkten verfolgt Mark Schieritz eine ähnliche Argumentation wie ich. Die Banken müssten wieder Profit machen, dann würden sie auch wieder Geld verleihen. So weit so gut. Ganz richtig betont er, dass sich die Bundesbank (BuBa) einer direkten Kreditvergabe an Unternehmen versperrt. Während ich jedoch vor ein paar Tagen die Frage im Raum stehen ließ, wer hinsichtlich der direkten Kreditvergabe den längeren bzw. stärkeren Atem habe wird (Finanzministerium oder BuBa), bläst Mark Schieritz in ein anderes Horn: Die Banken würden wieder Kredite vergeben, wenn sie es könnten, d.h. entweder wieder ordentlich Profit machen (was dauern könnte) oder wenn ihre Eigenkapitaldecke wieder dick genug für großzügige Kreditvergabe sei. Für letzteres könnte der Staat sorgen – ohne BuBa. Wie? Tja, durch Verstaatlichung der Banken! Eine private Bank zu kapitalisieren bedeutet sie zu Verstaatlichen. Mark Schieritz meint zwar, dass dies “politisch heikel” sei, aber einen großen Vorteil hätte: “Es würde das Problem lösen. Appelle tun das nicht.” Tja, Herr Steinbrück, das heißt aber in dieser Form nicht anderes, als dass gerade die zögerliche Bankenverstaatlichung in Deutschland ein Grund dafür ist, dass – zumindest für bestimmte Bereiche – eine Kreditklemme zu beklagen ist. Steinbrück müsste sich also zunächst an die eigene Nase fassen, da er den Banken zuliebe, also Teilen einer Kapitalfraktion, seiner Funktion als Charaktermaske des ideellen Gesamtkapitalisten nicht nachgekommen ist. Das Interesse der Bankindustrie stand über dem Interesse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, dessen Reproduktionsmöglichkeiten bei einer Verstaatlichung im Zentrum der Politik gestanden hätte. Michael Heinrich schrieb vor einigen Wochen: “Staat und Regierung müssen den einzelnen Unternehmen und Kapitalfraktionen gegenüber unabhängig sein, um das kapitalistische Gesamtinteresse und die besten Wege zu seiner Durchsetzung bestimmen zu können. Dies kann zuweilen ganz schön schwierig sein, da es nicht immer auf der Hand liegt, wie diesem Gesamtinteresse am besten gedient werden kann.” Tja und bei der Weigerung, Banken zu Verstaatlichen hat sich dann wohl die Regierung genau für eine falsche Option entschieden. Aber selbst mit einer weitgehenden Verstaatlichung der Banken wäre ein Problem noch lange nicht aus der Welt: Nur weil Banken verstaatlicht sind und vielleicht wieder Kredite vergeben läuft die kapitalistische Profitmaschinerie noch lange nicht wieder an. Das zeigt Großbritannien ebenso wie die USA. Aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir nicht den Kopf des Kapitals zu zerbrechen…

Foto: CC-Lizenz, lauramary

Das neue K-Wort: Kreditklemme oder mit Marx eine Bank verstehen

Da musste Herr Steinbrück dann doch schnell zurückrudern. Schließlich titelte die Frankfurter Rundschau schon: “Steinbrück ruft den Kommunismus aus”. Angesichts der vom Finanzministerium konstatierten Kreditklemme drohte der amtsinhabende Minister vor ein paar Tagen mit “Maßnahmen, die es so in Deutschland noch nicht gegeben hat”. Dann war zu lesen, dass er damit natürlich keine “Zwangsmaßnahmen”, also den Kommunismus gemeint habe, sondern eben nur Maßnahmen. Ganz so, als seien staatliche Maßnahmen keine Zwangsmaßnahmen. Dann musste auch schon dementiert werden, dass die Bundesbank demnächst direkt Kredite an Unternehmen gebe. Diese Maßnahme werde nur geprüft.

Gangster ShootGeiz ist geil

In die Kritik geraten war die verantwortungslose Praxis der Banken, die den Unternehmen kein Geld leihen wollen. Erst waren die Banker zu gierig, jetzt sind sie den PolitikerInnen zu geizig. Um aus der Krise wieder herauszukommen, könnten die Banker doch bitte wieder ein paar Charakterzüge zeigen, die zwar für die Krise verantwortlich gemacht wurden, jetzt aber durchaus hilfreich sein könnten. So die scheinbar zugrunde liegende Diagnose. Die politische Klasse muss einem schon fast leid tun, so überfordert ist sie mit der zugegeben komplizierten Lage. Aber wer hat behauptet, dass der Kapitalismus unkompliziert ist?

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Historisches zur Bad Bank

badbistroDer Deutsche Bundestag macht sich auch mal schlau. Dafür sind die Wissenschaftlichen Dienste da. Sie unterstützen die Abgeordneten durch kurze Fachinformationen, Analysen und gutachterliche Stellungnahmen.Vor ein paar Wochen erstellen sie ein zweiseitiges Papier zur sog. Bad Bank bzw. zu einem historischen Vorläufer aus den 1930er Jahren: die Akzept- und Garantiebank. Die Analyse gibt es als pdf-Datei.

Foto: CC-Lizenz, Ellen Beck

ak-Broschüre: Die Linke und die sozial-ökologische Frage

Mit einem Diskussionsbeitrag in ak 529 fiel der Startschuss für eine Debatte in ak zum Thema “Die Linke und die sozial-ökologische Frage”. Dieser Text war im Rahmen von Diskussionen innerhalb der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) entstanden. So wie im Rahmen der BUKO entstehen gerade auch andernorts Arbeits- und Diskussionszusammenhänge, die das Verhältnis von Gesellschaft und Natur aus einer herrschaftskritischen Perspektive thematisieren. “Die Linke und die sozial-ökologische Frage” ist nun auch Thema einer Broschüre, die wir als Sonderbeilage veröffentlicht haben. Im Vorfeld des Weltklimagipfels, der im Dezember in Kopenhagen stattfinden wird, bietet sie umfangreiche Informationen zur Orientierung über Ursachen und Folgen des Klimawandels. Die Broschüre kann für 4,50 Euro plus Porto per Mail an vertrieb@akweb.de bestellt werden.

Die FAZ lärmt und die politische Klasse zögert – Enteignung!?

Die Diskussion hat wieder einen neuen Höhepunkt und gleichzeitig einen intellektuellen Tiefpunkt erreicht. Ganz so als wäre darüber noch nie diskutiert worden, sehen KommentatorInnen, Teile der politischen Klasse sowie die VertreterInnen des Kapitals mit der wahrscheinlichen Verstaatlichung der Hypo Real Estate den Weg in den Staatssozialismus geebnet. Bei all der Aufregung lohnt dann doch mal ein Blick in staatstheoretische Klassiker. Bspw. in Otto Kirchheimers Aufsatz von 1930 “Die Grenzen der Enteignung. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Enteignungsinstituts und zur Auslegung des Art. 153 der Weimarer Verfassung” (abgedruckt in: Funktionen des Staates und der Verfassung, Frankfurt/M 1972, 223-295). Kirchheimer zufolge schließt eine Enteignung keineswegs die Garantie des Privateigentum aus. Ganz im Gegenteil: Continue reading “Die FAZ lärmt und die politische Klasse zögert – Enteignung!?”

Privatize me!

Ein neuer Artikel zu Privatisierung von Ingo Stützle und Sabine Nuss ist erschienen: “privatize me! Die Legitimationskrise der Privatisierung leitet eine zweite Phase ein. Der Kampf um Öffentliche Güter ist nicht zu Ende”. Die ganze Broschüre They Gonna Privatize the Air. Eine Broschüre über Privatisierung im allgemeinen und konkret und die Kämpfe dagegen ist als pdf-Datei zu haben, kostet aber auch nur 50 Cent. Also warum nicht gleich 10 Stück bestellen….

Die Freiheit ist immer die Freiheit der Eigentumsordnung. Ein neues Buch bringt Licht in die Auseinandersetzungen um geistiges Eigentum

Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm soll der Schutz von geistigem Eigentum Thema sein. Das bundesrepublikanische Gesetzgebungsverfahren ist zurzeit damit beschäftigt, die unterschiedlichsten Interessen bei der Novellierung des neuen Urheberrechts unter einen Hut zu bekommen. Unser einer wird jedes Mal in den Tiefen des Kinosessels aufgefordert, das Privateigentum zu respektieren – RaubkopiererInnen sind VerbrecherInnen. Sabine Nuss hat sich zur Aufgabe gemacht, den Auseinandersetzungen um das geistige Eigentum auf den Grund zu gehen.
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Buchbesprechung: Unendliche Knappheit

Schützen Copyrights arme KünstlerInnen? Oder behindern sie den freien Meinungsaustausch? Das Problem liegt tiefer, sagt Sabine Nuss.
In der simulierten Internetwelt «Second Life» gibt es eigentlich keine Knappheit. Eigentlich, denn im virtuellen Raum wird alles programmiert – Land, Gegenstände und Personen. Nachdem jedoch ProgrammiererInnen es möglich gemacht hatten, «copy and paste» anzuwenden, also virtuelle Objekte zu «kopieren» und an anderer Stelle wieder einzusetzen, war der Aufschrei gross. Fantasie müsse auch ihre Grenzen haben, so der einhellige Tenor. Eigentlich ein Phänomen, das bereits in anderer Form bekannt ist. Schliesslich werden wir zurzeit an jeder Ecke auf Plakatwänden aufgefordert, das Urheberrecht zu respektieren – RaubkopiererInnen sind VerbrecherInnen.
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Was ist und welchen Zweck hat Privatisierung? Anmerkungen zu einer linken Politik öffentlicher Güter

“Die Welt ist keine Ware” ist seit mehreren Jahren der Slogan der globalisierungskritischen Bewegung. Er wendet sich gegen die Tendenz, möglichst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und sogar das Leben selbst dem Imperativ der Verwertung zu unterwerfen. Die Welt ist in weiten Teilen längst eine Ware und der Rest, jenseits der Warenform, soll nun über eine linke Politik öffentlicher Güter einer anstehenden Privatisierung entzogen werden. Ob damit eine andere Welt tatsächlich möglich ist bzw. welche Relevanz hierbei z.B. öffentliche Güter haben, darüber lässt sich trefflich streiten. Bereits bei den grundlegenden Begriffen ist eine Verständigung notwendig.
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Ideal und Wirklichkeit. Freihandelstheoretiker und ihre Kritiker haben einiges gemeinsam

Nicht nur die Praxis, auch die Theorie des weltweiten Freihandels ist Jahrhunderte alt. Doch was sind ihre Grundannahmen, und wie schließen die heutigen Neoliberalen und WTO-Befürworter daran an? Auch die Kritik am Freihandel entstand nicht erst mit der globalisierungskritischen Bewegung. Trifft sie ihren Gegenstand, oder unterminieren bestimmte Formen von Kritik ihren antikapitalistischen Anspruch?

Mit der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren ist ein alter Schlachtruf wieder in aller Munde: »Laissez faire et laissez passer«. Diese Parole ist wohl auf Jacques Vincent de Gournay zurückzuführen, der in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert wie viele französische Kaufleute für die Befreiung vom Merkantilismus plädierte. Für den Merkantilismus als wirtschaftspolitisches Theorem des Absolutismus hatte der »Reichtum der Nationen« (Adam Smith) vor allem eine Ursache: der Exportüberschuss, der sich in einer aktiven Handelsbilanz ausdrückte. Mit dieser Vorstellung war eine bestimmte Politik verbunden: Niedrige Ausfuhrzölle, hohe Einfuhrzölle, Förderung des Transportwesens, Erweiterung und Regulierung des inneren Marktes usw. Der dem Handel zugesprochene produktive Charakter wurde unter Umständen auch gewaltsam erzwungen. Die Kolonisierung der Welt zur Sicherung von Rohstoffen, Handelsstrukturen und Absatzmärkten haben im Merkantilismus ihren Anfang.

Diese Politik hatte jedoch auch in Europa selbst negative Auswirkungen, vor deren Hintergrund der freihändlerische Schlachtruf entstand. In Frankreich wurde die Landwirtschaft durch die hohe Besteuerung der Landwirte und die Getreidepreisbindung, welche die Löhne für die Manufakturen niedrig halten sollten, fast vollständig ruiniert. Hinzu kam, dass die aristokratischen Grundherren durch Steigerung der Pachtzinsen ihre Einkünfte erhöhen wollten. Hier setzten die Physiokraten an, die im Gegensatz zu merkantilistischen Vorstellungen davon ausgingen, dass allein die landwirtschaftliche Produktion produktiv sei. Freihandel hatte für François Quesnay (1694-1774), dem wichtigsten Vertreter der Physiokraten, vor allem den Zweck, die gegängelte (Land-)Wirtschaft zu stärken. Damit könnte die Versorgung gewährleistet und bei Krisen und Missernten Abhilfe geschaffen werden, da ohne Handelsbeschränkungen eine ausgleichende Versorgung der Provinzen sichergestellt werden könnte.

Auch in späteren Auseinandersetzungen spielte das Getreide eine zentrale Rolle. In der ersten Hälfte des 19.Jh. setzte das aufstrebende industrielle Kapital in England alle Hebel in Bewegung, um die Abschaffung der so genannten Korngesetze durchzusetzen. »Cheap food, high wages« war bereits damals die demagogische Parole der Freihändler, die als erste politisch organisierte Bewegung der neuen industriellen Bourgeoisie versuchten, die breite Bevölkerung vom Freihandel zu überzeugen. Die damalige Argumentation ist auch heute noch von zentraler Bedeutung: Zölle auf Getreide verteuern die Lebensmittelkosten und senken die Reallöhne.

Kosten und andere Vorteile
Der Klassiker unter den Freihandelstheoretikern ist David Ricardo (1772-1823). Bis heute bildet sein Theorem der »komparativen Kostenvorteile« die Grundlage aller Freihandelstheorien. Die Grundidee ist simpel: Im Gegensatz zu Adam Smith ging Ricardo davon aus, dass es keinen absoluten Produktionskostenvorteil eines Landes gegenüber einem anderen geben muss, damit der Reichtum in einem Land steigt. Ricardo ging dagegen von den relativen Preisverhältnissen (da er vom Geld abstrahiert, eigentlich von Tauschverhältnissen) unterschiedlicher Güter aus, die ihm zufolge wiederum durch die Arbeitskosten bestimmt sind.

Voraussetzung für seine weitere Überlegung ist, dass sich durch internationale Konkurrenz und Kapitalbewegungen keine globale Profitrate erstellt. Damit bestimmt sich Ricardo zufolge der Wert auf dem internationalen Markt anders als innerhalb eines Landes. Wenn sich nun die Länder auf die Produktionszweige spezialisieren, in denen sie im Verhältnis zu anderen Ländern billiger produzieren, dann ergibt sich ein positiver Effekt für alle Länder, weil sie die gegebenen Ressourcen von der unrentablen in die effizientere Produktion verlagern. Das von Ricardo selbst angeführte Beispiel verdeutlicht seine Überlegungen: England und Portugal benötigen für die Produktion von Tuch und Wein jeweils eine bestimmte Arbeitsmenge je Wareneinheit. Deren Gesamtmenge könnte laut Ricardo jedoch effektiver eingesetzt werden, wenn sich beide Länder auf die Produktion spezialisieren, in der sie vergleichsweise, d.h. komparativ besser sind. Beide Länder könnten so ihre verfügbare Arbeitszeit effektiver einsetzen und durch den Tausch der insgesamt größeren Masse an Gebrauchswerten einen Wohlfahrtsgewinn realisieren. Diese effizienzsteigernde Wirkung der internationalen Arbeitsteilung wird spätestens seit Ricardo systematisch theoretisiert. Von Befürwortern wie Kritikern wurde dieses Theorem in seinen Grundannahmen meist akzeptiert und lediglich anders ausgelegt oder kritisch reformuliert.

Die erste Weiterentwicklung der Überlegungen von Ricardo stammt von John Stuart Mill (1806-1873), der sowohl klassisch, arbeitswerttheoretisch wie Ricardo als auch neoklassisch, rein preistheoretisch argumentierte (zur Neoklassik siehe unten). Er ging von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht mit einem gleichgewichtigen Wechselkurs und damit einem gleichgewichtigen System von relativen Preisen aus, mit welchem über Export und Import Angebot und Nachfrage in allen Ländern zur Deckung kommen. Über den Wechselkurs und damit die veränderte Kaufkraft einer Währung für ein bestimmtes Gut in einer anderen Währung (terms of trade) wird Mill zufolge die internationale Struktur von Angebot und Nachfrage so lange »reguliert«, bis diese zur Deckung kommen.

Das Herz der Freihandelstheorie
Die heutige Idee vom freien Handel ist ohne die Neoklassik weder vorstellbar noch zu erklären. Vor allem die neoklassische Preistheorie und die daraus entwickelte allgemeine Gleichgewichtstheorie sind zentrales Fundament des Freihandelsparadigmas. Die Grundlagen der Neoklassik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die klassische Nationalökonomie (Smith, Ricardo u.a.) weiterentwickelte, beruhen im Grunde auf normativen Aussagen: Es wird ein ideales Verhalten der wirtschaftenden Menschen konstruiert, welches eine optimale Situation des Gleichgewichts und ideale Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass auf der einen Seite die Bedürfnisse der Individuen unendlich sind, die Ressourcen zu ihrer Befriedigung dagegen endlich. Damit entsteht für die Subjekte der Zwang zu Arbeitsteilung und Tausch – gerade auch international. Treten keine externen Schocks (z.B. Kriege oder Naturkatastrophen) auf, ist der Markt ein endogen stabiles System. In diesem Gleichgewicht gibt es ein Ensemble von relativen Preisen, die keinen mehr besser stellen können, ohne dass gleichzeitig andere MarktteilnehmerInnen schlechter gestellt werden (so genanntes Pareto-Optimum).

Grundlegend für die Neoklassik ist die Trennung von monetärer und realer Sphäre. Es herrscht eine »Zwei-Welten-Lehre«, die streng zwischen der Sphäre der Preise und Geldmengen auf der einen Seite und physischer Produktion von Gütern sowie den dazu nötigen Produktionseinheiten auf der anderen Seite unterscheidet. Diese Unterscheidung kommt auch bei der Außenwirtschaft zur Geltung.

Bei den monetären außenwirtschaftlichen Aktivitäten kommt vor allem der Devisenmarkt in Betracht. Angebot und Nachfrage von Währungen bestimmen hier den Wechselkurs, Geld existiert nur als Währung neben anderen Währungen, ohne Bezug auf die »reale« Produktion. Es können zwei Szenarien unterschieden werden. Einmal in einem System fester Wechselkurse (wie zum Beispiel das von Bretton Woods bis 1973) und einmal im System flexibler Wechselkurse, wie es heute weitgehend gegeben ist. Bei letzterem bleibt für die Neoklassik das Theorem des Gleichgewichts zentral. Langfristig gilt im System flexibler Wechselkurse bei Kaufkraftparität ein Gleichgewicht zwischen den Währungen. Der Wechselkurs ist durch die Relation der Preisniveaus bestimmt. Verändert sich dieses in einem Land, verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Exporte nehmen ab und Importe zu. Das bedeutet, dass eine erhöhte Nachfrage nach Devisen dazu führt, dass die inländische Währung gegenüber der ausländischen so weit abgewertet wird, bis die Nachfrage nach Devisen befriedigt ist. Damit ist erneut ein Gleichgewicht zwischen den beiden Währungen hergestellt. Der Neoklassik zufolge ist somit durch den freien Wechselkurs (d.h. keine Handelsbeschränkungen für Devisen und Kapitalmärkte) eine perfekte Abschirmung gegen importierte Inflation aus dem Ausland möglich. Damit wird deutlich, dass die Neoklassik, deren höchstes Gut die Preisstabilität ist, für freien Handel auf den Devisenmärkten und flexible Wechselkurse plädiert.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Freihandel mit Gütern wieder verstärkt Gegenstand der neoklassischen Theorie. Insbesondere die Spezialisierung der einzelnen Länder aufgrund unterschiedlicher Ausstattung von Kapital und Arbeit rückte in den Mittelpunkt der Analysen. Zunächst wurde in den 1930er Jahren im so genannten Heckscher-Ohlin-Theorem behauptet, dass sich Länder unter Effizienzkalkülen entlang der Intensität von Arbeit und Kapital spezialisieren. Wohlfahrtsgewinne seien vor allem dann zu erzielen, wenn sich Länder auf die Produktion spezialisieren, für die sie prädestiniert sind: Portugal etwa durch niedrige Lohnkosten und England durch Geldkapital. Nachdem festgestellt wurde, dass dieses Theorem empirisch nicht haltbar war, wurde es im Stolper-Samuelson-Theorem mit der Argumentation gerettet, dass nicht von einer Homogenität der Ware Arbeitskraft ausgegangen werden könne. Stolper/ Samuelson erklärten, dass bei erhöhter Nachfrage nach einem Gut und damit steigenden Löhnen in diesem Sektor die Löhne für die Produktion eines anderen Gutes sinken. Mit der Aufnahme von Handelsbeziehungen und den damit einhergehenden Wohlfahrtsgewinnen seien demzufolge immer Einkommensumverteilungen verbunden. Wesentliche Aussagen der klassischen wie der neoklassischen Außenhandelstheorie lassen sich bereits im Rahmen ihrer eigenen theoretischen Grundlage kritisieren: Ricardos Argument vom komparativen Kostenvorteil ist nur gültig, wenn vom Zins abgesehen wird und eine (Handels-)Welt mit nur einem einzigen Gut vorausgesetzt wird. Nur so wären die Preisverhältnisse ausschließlich durch Technologie bestimmt. Dies ist jedoch eine geradezu irrwitzige Annahme für den internationalen Handel, wo es gerade darum geht, unterschiedliche Güter zu tauschen. Ohne diese Annahme und unter Einbeziehung der Verteilung von Zins- und Lohnsatz ist weder ein klarer Zusammenhang der Preisentwicklung in den unterschiedlichen Ländern konstatierbar, noch kann eine Aussage über Vorteile einer kapital- oder arbeitsintensiven Produktion getroffen werden. Die suggerierten klaren Zusammenhänge, auf welchen alle Erklärungen der (neo)klassischen Freihandelstheorien bauen, sind somit in ihrem Kern zerstört.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die neoklassische Wirtschaftstheorie zunächst einen schlechten Stand, da sie sich als unfähig erwiesen hatte, eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 zu finden. Doch trotz dieser Krise der ökonomischen Theorie wurde politisch im Rahmen des Systems von »Bretton Woods« und den GATT/ WTO-Runden unter der Hegemonie der USA auf die Etablierung eines möglichst freien Weltmarkts gedrängt. Etappenweise fand weltweit eine Internationalisierung des produktiven Kapitals und schließlich des Geldkapitals statt. Mit letzterem kann auch die neue Qualität der Globalisierung herausgestellt werden, nämlich dass sich eine globale Durchschnittsprofitrate etabliert, an der sich alle Verwertungsmöglichkeiten in Konkurrenz um das Geldkapital messen lassen müssen.

Die neoliberale Freihandelsideologie, wie sie sich nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nahezu allgemein durchsetzte, ist im Kern nichts Neues und schließt nur an allgemeine neoklassische Argumentationen an. Es gab in ihrem Rahmen keinen Versuch, eine neue integrierte Theorie zu formulieren, lediglich Akzentuierungen. So wird etwa ins Feld geführt, dass die Transaktionskosten durch den Freihandel sichtlich gesenkt werden können und sich somit ein allgemeiner Wohlfahrtseffekt einstellt. Desweiteren wird argumentiert, dass durch die vertiefte weltweite Arbeitsteilung eine Steigerung der Produktivkräfte ermöglicht wird. Inzwischen ist mit dem Buch »Free Trade Today« (2002) von Jagdish Bhagwati, einem Anwärter auf den Nobelpreis für Ökonomie, die wirtschaftstheoretische Zunft dort angelangt, wo sich bereits die klassische Freihandelsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert versucht hat: der Bevölkerung allgemeinverständlich nahe zu bringen, warum der Freihandel zu ihrem Besten ist.

Die Theorien sind schön …
Fast genauso alt wie die Theorie und Praxis des Freihandels ist die Kritik daran. Diese bewegt sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen, und nicht selten trifft sie ihren Gegenstand eher schlecht als recht.
Eine erste Kritiklinie versucht Ricardos Theorem von den komparativen Kostenvorteilen kritisch zu reformulieren oder dessen kritische Punkte auszuleuchten. So argumentierten beispielsweise viele Dependenztheoretiker, dass im Falle von Dritte-Welt-Ländern mit einer Spezialisierung der Produktion eine zunehmende Abhängigkeit vom Welthandel verbunden sei und somit die Gefahr von Krisen. Bei einseitiger Ausrichtung auf landwirtschaftliche Produktion mache sich ein Land von der Witterung abhängig, und die Monokultur wirke sich nachteilig auf die Qualität der Produkte und auf die natürlichen Ressourcen wie z.B. Böden aus.

Andere Dependenztheoretiker wie Arghiri Emmanuel, aber auch Marxisten wie Ernest Mandel betonten darüber hinaus in den 1960er und 70er Jahren im Anschluss an die marxsche Werttheorie den »ungleichen Tausch« zwischen den verschiedenen Ländern. Die Ausbeutung der Dritten Welt wurde von ihnen als Werttransfer gedacht. So geht Emmanuel davon aus, dass die Lohnunterschiede zwischen Peripherie und Zentrum größer seien als die Niveaus der Produktivität. Deshalb kann er auf Grundlage der ricardianischen Theorie der komparativen Kosten davon ausgehen, dass ein einseitiger Transfer von Werten stattfindet, und zwar von Süd nach Nord. Diese Grundüberlegung liegt auch der Fair-Trade-Bewegung zugrunde. Wie die »ricardianischen« Sozialisten des 19. Jahrhundert einen gerechten Lohn einforderten, geht die Fair-Trade-Bewegung davon aus, dass die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse des kapitalistischen Weltsystems durch »gerechte« Preise aufgebrochen werden können. Es wird somit ein bürgerliches Ideal, der gerechte Preis, gegenüber einer räuberischen Praxis, dem ungleichen und ungerechten Tausch, eingeklagt.

Das Theorem vom »ungleichen Tausch« wurde schon früh kritisiert, denn es beruht auf einer überkommenen marxistischen Werttheorie, die ähnlich wie Klassik und Neoklassik eine »Zwei-Welten-Lehre« vertritt. Das Geld dient, wie in der Neoklassik, nur als Schmiermittel des Tausches. Damit lässt sich die Vorstellung vom ungleichen Tausch bereits in den Grundannahmen in Frage stellen, weil sie lediglich einen Tausch von Arbeitsquanten unterstellt (etwa wenn in einem Produkt aus Afrika 20 Arbeitsstunden stecken, während in dem dagegen eingetauschten Produkt aus Deutschland nur eine Arbeitsstunde enthalten ist). In seiner naturalistischen Annahme von Arbeit, Ware und Wert unterschlägt das Theorem vom ungerechten Tausch jedoch den konstitutiven Charakter des Geldes, ohne welches überhaupt nicht von Wert gesprochen werden kann und welches eine untrennbare konstitutive Relevanz für den kapitalistischen Gesamtzusammenhang und damit auch für Lohnarbeit, ‚reale’ Produktion und Tauschvorgänge hat.

… aber die Realität ist hässlich
Eine zweite Form der Kritik, die insbesondere vom reformorientierten Flügel der heutigen globalisierungskritischen Bewegung formuliert wird, vergleicht das Ideal des Freihandels mit der Wirklichkeit. Der Freihandel wird gemäß seinen eigenen Maßstäben daran gemessen, was er als Befriedungs- und Demokratisierungsstrategie, als Wohltäter für Reich und Arm und Garant für ökonomische Stabilität leistet. In diesem Zusammenhang wird oft die widersprüchliche Politik der Industriestaaten kritisiert, vor allem die auf Freihandel drängenden USA und die EU, die zugleich manche heimische Wirtschaftssektoren mit hohen Zöllen oder Subventionen schützen. Auch im Zusammenhang mit protektionistischen Maßnahmen – die mal als unabdingbare Voraussetzung für Industrialisierungsprozesse in Dritte-Welt-Ländern, mal als Abschottung der Industrieländer gegen Produkte aus dem Süden interpretiert werden – wird die staatliche Wirtschaftspolitik von dieser Warte aus kritisiert.

Diese Form der Kritik misst zwar die Freihandelstheorie an ihren eigenen Ansprüchen und kann somit ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Die Vorstellung, dass der Staat eins zu eins für eine Umsetzung ökonomietheoretischer Konzepte wie der Freihandeltheorie zuständig ist, trifft jedoch wenig. Weil es dieser Form der Kritik an einer Staatstheorie fehlt, wird verkannt, dass der Staat in seiner Form und Funktionsweise einen »ideellen Gesamtkapitalisten« darstellt. Dieser kann sich durchaus auch gegen einzelne Kapitalfraktionen richten, wenn es erforderlich scheint.

Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Ende März 2003 mussten die USA vor der WTO eine Niederlage im Streit um ihre 30prozentigen Schutzzölle auf Stahlimporte einstecken. US-amerikanische Stahlerzeuger und Gewerkschaften waren angesichts dieses Schiedsspruchs der WTO beunruhigt, Zuspruch kam hingegen von der stahlverarbeitenden Industrie, zu deren Vorteil fortan die staatliche Zollpolitik gestaltet wurde. Die Stahlunternehmer mussten sich ebenso wie die StahlarbeiterInnen damit abfinden, dass das Interesse der stahlverarbeitenden Industrie an billigem ausländischen Stahl Berücksichtigung fand. Hier wird deutlich, dass weder das gesamte Kapital ein Interesse an Freihandel hat, noch dass eine Kapitalfraktion unmittelbar die staatliche Politik bestimmen kann. Beide Momente kommen in der Freihandelskritik meist zu kurz.

Das Beispiel verdeutlicht darüber hinaus, dass der »Handelskrieg« um den Stahl ohne unmittelbare Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auskam, er aber eine dritte, vermittelnde Instanz benötigte. Ausbeutung und Herrschaft findet heute nicht (mehr) in der Form von Raubzügen und Plünderungen statt, sondern in der Form des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft das Privateigentum vom Staat garantiert, der relativ autonom von allen Klassen und Klassenfraktionen existiert. Auf nationaler Ebene formuliert erst der Staat so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals. Davor stehen die Einzelkapitale in Konkurrenz zueinander. Über Aushandlungsprozesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit und im Diskurs um das »Allgemeinwohl« setzt der Staat ein allgemeines Kapitalinteresse nicht nur gegen, sondern auch mit Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durch und bringt somit alle Interessen in einen herrschaftsförmigen Konsens.

Auf internationaler Ebene gilt ähnliches: Die Staaten verhalten sich ebenso wie die Bürger als formal freie und gleiche (Völkerrechts-)Subjekte zueinander. Das ‚globale Allgemeinwohl’, welches das Allgemeinwohl der mehr oder weniger kapitalistischen Einzelstaaten darstellt, wird unter der Führung einer Hegemonialmacht im Rahmen von internationalen Institutionen wie der WTO ausgehandelt und formuliert. In diesen politischen Formen organisieren die Staaten internationalen Wettbewerb. Damit ist klar, dass kapitalistische Ökonomie sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene nicht ohne Staatlichkeit und politische Institutionen möglich ist. Markt und Staat sind zwar unterschiedliche gesellschaftliche Strukturierungsmodi. Eine Gegenüberstellung, bei der der Staat als positives Gegengewicht zum Markt dargestellt wird, verhindert jedoch nur die Etablierung einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik.

Gewalt, Lug und Trug?
In einer dritten Form der Kritik, die sich selbst oft als radikal versteht, wird Freihandel als ideologischer Schein einer im Kern räuberischen und gewalttätigen Herrschaftsausübung gebrandmarkt. Außenwirtschaft wird auf unmittelbare Gewaltakte, Raubwirtschaft und Plünderungszüge reduziert. Diese Form der Kritik kann bis auf die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg zurückverfolgt werden. Mit diesen begann eine Debatte um die »Vermachtung von Märkten«, gemäß der die Freiheit und Gleichheit im Tausch abgelöst wird von mächtigen Monopolen, die Monopolprofite durchsetzen – allem Gerede vom Freihandel zum Trotz mit protektionistischen Maßnahmen.

Diese Form antiimperialistischer Kritik findet sich bis heute in jeglicher Couleur, etwa bei Noam Chomsky, einer Leitfigur der globalisierungskritischen Bewegung. Er geht in anarchistischer Tradition affirmativ von bürgerlichen Formen von Freiheit und Gleichheit aus und kritisiert dann deren mangelhafte Umsetzung sowie die damit verbundenen personalen Herrschaftsverhältnisse. So heißt es in seinem Buch »War against People« (2003), Privatkonzerne seien eine »Form privatisierter Tyrannei«. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus scheine es keine »Alternative zu dem System eines von Staat und Konzernen betriebenen Merkantilismus [zu geben], das sich hinter Zauberformeln wie ‚Globalisierung’ oder ‚Freihandel’ versteckt.« Für Chomsky laufen vom Freihandel »vielleicht 70 Prozent der grenzüberschreitenden Transaktionen (die zu Unrecht ‚Handel’ genannt werden) tatsächlich innerhalb von zentral gesteuerten Institutionen« ab, und zwar »in Konzernen und Konzernverbindungen«, was eine »marktwidrige Wettbewerbsverzerrung« darstelle. Auch bei den so genannten Handelsabkommen gehe es »nicht um Freihandel«, sondern »diese Abkommen haben sehr stark gegen den Markt gerichtete Elemente«.

Der Markt erscheint somit bei Chomsky als Ideal und eben nicht als Instanz, die den nicht-personalen Zwang der ökonomischen Verhältnisse exekutiert. Gegenstand seiner Kritik ist nicht der Freihandel als konkrete Form bürgerlicher Tauschverhältnisse, sondern dessen angebliche Perversion durch einzelne Staaten, Konzerne und deren Tycoons. In bürgerlichen Gesellschaften ist die herrschende Form der Reproduktion jedoch weder durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, noch durch unmittelbaren Einsatz von Gewalt bei der Abpressung eines Mehrprodukts gekennzeichnet (wie z.B. Leibeigenschaft, Sklaverei). Zwar existieren diese Formen immer noch, besonders in nicht stabilen bürgerlichen Gesellschaften. Aber immer dort, wo sie auftreten, benötigen sie eine besondere ideologische (oft religiöse) Legitimierung, die mit Freihandelstheorie in der Regel nicht viel zu tun hat.

In seiner Kritik der politischen Ökonomie konnte Marx erklären, wie sich Ausbeutung und Herrschaft unter bürgerlichen Verhältnissen darstellen. In seinem Hauptwerk Kapital zeigte er, dass sich diese nicht-personalen Verhältnisse gegenständlich in Ware, Geld, Kapital und anderen ökonomischen Formen ausdrücken. Das Problem an den oben skizzierten Formen der Kritik an Freihandelstheorie ist demgegenüber, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem »idealen Durchschnitt« (Marx) gerade nicht Gegenstand von Kritik ist. Vielmehr wird ein kapitalistisches Ideal gegenüber einer schlechten, durchaus existenten Realität eingeklagt. Herrschaftskritisch mögen diese Formen der Kritik am Freihandel sein, mit einem avancierten kritischen Verständnis von Kapitalismus ist es dagegen nicht weit her.

Ingo Stützle

Eine kommentierte Literaturliste zu diesem Text ist unter www.iz3w.org zu finden.

Erschienen in: iz3w, Nr.289, 2005