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Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung

Vor mehr als 20 Jahren erschien der erste Band des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM). Das erste Vorwort im ersten Band ist noch geprägt vom Ende des »Nominalsozialismus« (Agnoli) und dem sogenannten Ende der Geschichte. Es sei, so heißt es gleich auf der ersten Seite, hinsichtlich eines Vergleichs mit anderen Wörterbüchern, als spräche das HKWM »in ein gähnendes Schweigen hinein«. Seitdem hat sich einiges verändert. Der Stille folgte ein Gemurmel und das Bedürfnis vieler Linker, sich positiv auf »den« Marxismus zu beziehen. Angesichts der Krise 2008ff. wurde Marx wiederentdeckt, ebenso vom Feuilleton und damit auch so manches Ressentiment. Viele Jüngere haben es mitunter schwer, sich die Traditionslinien des Marxismus anzueignen, ohne sich an antikommunistischen Abziehbildchen abzuarbeiten. Orientierung könnte das Historisch-kritischen Wörterbuch (HKWM) bieten, von dem nun Band 8.I vorliegt.

Während im ersten Band die Grenzen noch recht eng gefasst scheinen, bleibt unklar, warum in den folgenden Bänden die Stichworte »Jeans« und »Klonen« oder »Lüge« und »Mafia« im aktuellen Band zu finden sind. Sicher, es sind durchaus interessante Texte, und sicher lässt sich auch mit einer an Marx orientierten Kritik zu vielem etwas sagen – nur warum muss das in ein Wörterbuch? (1) Vor diesem Hintergrund ist es schließlich verwunderlich, dass ein paar Begriffe fehlen, die man als Kopie etwa gerne in einem Kapital-Lektürekurs verteilen könnte. Etwa die Frage nach der »Grenznutzentheorie«, auch »Marginalismus« genannt (beide Begriffe fehlen). Die ist heute die vorherrschende Form der Erklärung von »Wert«, die Marx’ Ansatz fundamental widerspricht. Dass Marx, der diese Ansätze noch nicht kennen konnte, deren Vorläufer einfach als »Vulgärökonomie« links liegen ließ, macht die Sache nicht einfacher. Die Begriffe »Lohnform« und »Lumpenproletariat« im neuen Band (oder »Krisentheorie« im vorherigen) bieten hingegen eine sehr gute Orientierung für das marxsche Werk und die anschließenden Debatten bzw. dafür, welche unrühmliche Funktion Begriffe mitunter im Marxismus erfüllten (»Lumpenproletariat«). Continue reading “Marx mich nicht voll. Der neue HKWM-Band bietet nur bedingt historisch-kritische Orientierung”

Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach

MirowskiMit der Krise vor über fünf Jahren witterten so manche Linken Morgenluft. Die Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus würden größer. Inzwischen ist deutlich geworden, dass der Neoliberalismus alles andere als infrage steht. Dieser Hartnäckigkeit widmet Philip Mirowski sein neues Buch. Der Wirtschaftswissenschaftler war bereits zu Beginn der Krise gern gesehener Interviewpartner oder Autor in der FAZ, als noch der verstorbene Frank Schirrmacher dem Feuilleton vorstand. Dieser verstand jedoch nie, dass Konservative wie er für Mirowski ein Teil des Problems sind – nämlich als Verteidiger des Status quo. (1) Das zeigt das neue Buch, das bereits 2013 in englischer Sprache erschien.

Das Buch »soll die Strategien der Neoliberalen dokumentieren und ihre Erfolge begutachten, zu denen häufig auch die Wirtschaftswissenschaftler beigetragen haben.« Hierfür hält der Autor einen ganzen Strauß an Erklärungen bereit. Ein Großteil davon besaß jedoch auch schon vor der Krise Gültigkeit: Mirowski zeichnet nach, wie sich der Neoliberalismus etablierte und festigte und nach und nach alle Poren der Gesellschaft besetzte. Continue reading “Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach”

Nie wieder!

26. Januar. Wir lagen in einer Welt der Toten und der Larven. Um uns und in uns war die letzte Spur von Zivilisation geschwunden. Das Werk der Vertierung, von den triumphierenden Deutschen begonnen, war von den geschlagenen Deutschen vollbracht worden.
Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit dem Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist. (…)
27. Januar. Morgengrauen. Auf dem Fußboden das schandbare Durcheinander verdorrter Glieder, das Ding Sómogyi.
Es gibt dringendere Arbeiten. Man kann sich nicht waschen, wir können ihn nicht anfassen, bevor wir nicht gekocht und gegessen haben. Und dann »… rien de si dégoutant que les débordements«, wie Charles richtig meint; der Latrineneimer muss geleert werden. Die Lebenden stellen größere Ansprüche. Die Toten können warten. Wir begaben uns an die Arbeit, wie jeden Tag.
Die Russen kamen, als Charles und ich Sómogyi ein kurzes Stück wegtrugen. Er war sehr leicht. Wir kippten die Bahre in den grauen Schnee.
 
Primo Levis autobiografischer Bericht »Ist das ein Mensch?« endet mit der Befreiung in Auschwitz)
 

Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben

Sie war eine der wichtigsten englischsprachigen Marxistinnen: Ellen Meiksins Wood. Geboren 1942 in New York, studierte die Tocher lettischer Flüchtlinge Politikwissenschaften in Los Angeles, lehrte später in Toronto und publizierte in vielen linken Theoriezeitschriften. Ellen Meiksins Wood war Redaktionsmitglied der New Left Review, neben unter anderem Paul M. Sweezy Mitherausgeberin der »Monthly Review« und Autorin für das »Socialist Register« und »Against the Current«. Hierzulande sorgte sie unter anderem mit dem Buch »Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus« für Aufmerksamkeit. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch »Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche«. Continue reading “Ellen Meiksins Wood ist tot. Marxistische Historikerin und Ex-Herausgeberin der »Monthly Review« im Alter von 73 Jahren gestorben”

FAQ. Noch Fragen? Europäische Einlagensicherung

Die Europäische Kommission stellte im November 2015 ihren Vorschlag zur europäischen Einlagensicherung vor, die die sogenannte Bankenunion abschließen soll. Wir erinnern uns: Im Oktober 2008 traten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) vor die Presse und beteuerten: »Ihre Einlagen sind sicher.« Dieses Jahr versprach der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis Ähnliches. Aber niemand glaubte ihm so richtig: Die griechischen Banken mussten für mehrere Tage schließen, weil ein Bankrun drohte, der die Geldhäuser in ihrer Existenz hätte bedrohen können.

Als Einlagen bezeichnet man das Geld, das die Kund_innen bei der Bank »einlegen«. Sie werden auch Depositen genannt. Die Kund_innen geben der Bank quasi einen Kredit, die Bank ist der Schuldner und hat damit eine Zahlungsverpflichtung gegenüber den Kund_innen. Diese wiederum haben ein Guthaben, das sie im Sparbuch schwarz auf weiß oder auf dem Girokontoauszug sehen. Sogenanntes Buchgeld ist entstanden. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Europäische Einlagensicherung”

FAQ. Noch Fragen? Der Kampf gegen die Zeit des Kapitals

Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander arbeiten. Die Formen, wie Arbeitsteilung organisiert ist, sind sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind es recht unterschiedliche soziale Logiken, die da am Werke sind.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen, dass vor allem Frauen ihre Lebenszeit dem Haushalt opfern müssen. Damit überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen einen Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Arbeit hat: Das Arbeitsamt will nicht, dass man in Urlaub geht, man soll sich vielmehr »zur Verfügung« halten. Die sozialen Logiken, die über Teile unserer Lebenszeit verfügen, sind aber durchaus verschieden – und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen institutionalisiert: (Sozial-)Staat, Haushalt oder Kapital. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Der Kampf gegen die Zeit des Kapitals”

Telepolis-Interview zum Buch »Ist die Welt bald pleite?«

In der Öffentlichkeit wird der ökonomische Verstand einer schwäbischen Hausfrau stets als Vorbild staatlichen Haushaltens gepriesen, aber wird dieses Bild der vielleicht doch komplexeren volkswirtschaftlichen Wirklichkeit gerecht? Stephan Kaufmann und ich argumentieren in unserem Buch Ist die Welt bald pleite? dagegen.

Sparprogramme der Politik liefen in der Vergangenheit regelmäßig wie folgt ab: Mit dem Versprechen, Schulden abzubauen, wurden zu Lasten der Armen und der Bevölkerungsmehrheit Sozialausgaben gestrichen und öffentliche Güter privatisiert, während Unternehmen und Vermögende von missliebigen politischen Maßnahmen verschont blieben. In der Praxis waren am Ende solcher Maßnahmen die Schulden üblicherweise höher als davor, was häufig zu einer Verschärfung der Sparprogramme führt.

In einem Telepolis-Interview stehen wir Rede und Antwort:

Teil 1: “Staatliche Sparsamkeit kennt immer Profiteure und Verlierer”
Teil 2: “Jede Wette, dass die Schuldenbremse die nächste Krise nicht überlebt”

FAQ. Noch Fragen? VW: Ein Skandal, der keiner ist

Bild: CC-Lizent/flickr, environmentblog
Bild: CC-Lizent/flickr, environmentblog

Der VW-Skandal ist eine kleine Geschichte technischer Innovation. Bisher wurden Autoabgaswerte stationär in großen Laboren getestet. Dort stehen die Dreckschleudern auf Laufbändern, zwischen immobiler Messtechnik. Bisher konnte nur gesagt werden, dass die dort ermittelten Daten nicht mit den Zahlen übereinstimmen, die während der Fahrt ermittelt werden konnten, die aber bisher recht ungenau und deshalb eigentlich nicht vergleichbar waren. Die große Kluft wurde schon länger beklagt. Aber erst auf Grundlage neuer technischer Möglichkeiten konnten die US-Behörden auf gesicherter Basis bei VW kritisch nachhaken – und die Autobauer aus Wolfsburg mussten ihren Betrug eingestehen. Wie aber kam es dazu?

→ Weiterlesen bei ak – analyse & kritik.

Der Gott der Waren. Die ökonomische Theorie und ihr Geld

PROKLA 179: Illusion und Macht des GeldesIn Krisensituationen wird der gesellschaftliche Umgang mit Geld‬ verstärkt zum Problem – und ein politisches prisantes Thema. So auch in den letzten Jahren. Das hat die PROKLA zu einem Schwerpunktheft zu Geld motiviert. Unbestritten spielt Geld eine zentrale Rolle, die kapitalistische Wirtschaft ist wesentlich Geldwirtschaft: Geld regiert die Welt. Aber hier beginnt bereits die Unübersichtlichkeit. Es herrschen sehr unterschiedliche Auffassungen davon, in welchem Sinne Geld relevant ist. Mein einführender Beitrag »Der Gott der Waren. Die ökonomische Theorie und ihr Geld« soll im ersten Teil einen Überblick über die großen Paradigmen der politischen Ökonomie geben – Neoklassik‬, Keynes‬ und Marx‬. In einem zweiten Teil werden drei relevante Problemfelder diskutiert (Inflation‬, Kredit‬, gegenwärtiges Geldsystem). Der Beitrag ist jetzt im Volltext online. Das Editorial und der Inhalt findet sich hier.

Ist die ganze Welt bald pleite? Populäre Irrtümer über Schulden

Pressestimmen:

»Die Lektüre sei allen, die ökonomische Fragen haben oder in die Situation kommen, solche beantworten zu müssen, nachdrücklich empfohlen.« (Werner Rätz)

»Im Buchladen stößt man auf Titel wie ›Schulden ohne Sühne?‹ oder ›Der große Schulden-Bumerang‹. Nun ist zum Glück auch ein Büchlein von Stephan Kaufmann und Ingo Stützle erschienen; ganz nüchtern legen sie darin die Irrtümer der aufgeregten Debatte bloß. […] Kaufmann und Stützle lösen die Konfusionen auf nur 90 Seiten im DIN-A-6-Format mit einer klaren, präzisen Argumentation auf.« (Michael Jäger, der Freitag)

»Das vorliegende Büchlein kann dabei helfen, das Verständnis der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge zu verbessern.« (Das Blättchen)

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Schuldenfragen sind Verteilungsfragen: Einige müssen zahlen, andere dürfen verdienen.

»Geht die Welt bankrott?« titelte der »Spiegel«, und tatsächlich gilt die Staatsverschuldung heute als zentrales Problem der Weltwirtschaft. In der öffentlichen Diskussion scheinen zwei Dinge klar: Staatsschulden sind schlecht. Und sie sind zu viel. »Sparen« ist daher das Gebot der Stunde. Die Staaten werden »schlanker«, öffentliches Eigentum wird privatisiert, das Lohnniveau soll sinken, um die »Wettbewerbsfähigkeit« des Standortes zu erhöhen.

Wo kommen überhaupt die ganzen Schulden her? Und warum machen alle Staaten Schulden – obwohl sie allgemein als Übel gelten? Warum streicht man die Schulden nicht einfach, wenn schon die ganze Welt unter ihnen leidet? Dies sind einige Fragen, die dieses Buch beantworten will. Die Autoren zeigen, welchem Zweck Staatsschulden dienen, wann sie zu einem Problem werden – und für wen. Denn am Ende sind Schuldenfragen immer Verteilungsfragen: Einige müssen zahlen, andere dürfen verdienen.

Stephan Kaufmann / Ingo Stützle
Ist die ganze Welt bald pleite?
Populäre Irrtümer über Schulden (Kapital & Krise 2)
92 Seiten, 10 Grafiken | 978-3-86505-751-8
Erschienen im August 2015 bei Bertz + Fischer
Inhaltsverzeichnis im PDF-Format (32 KB)
Einleitung im PDF-Format (53 KB)
Ein Auszug des Buchs hat das neue deutschland dokumentiert.

FAQ. Noch Fragen? China: Bang, Boom, Börse

Chinas Börsen erschütterten den Kapitalismus. Diverse chinesische Aktienindices knickten ein – und mit ihnen der deutsche Dax. Nur was ist eine Börse, und was ein Aktienindex? Unter einer Börse versteht man den Ort, an dem Finanzanlagen wie Aktien (verbriefte Anteile an einem Unternehmen), Staatsanleihen oder Derivate gehandelt werden. Börsen sind eine tragende Säule der Finanzmärkte – also jener Märkte, auf denen »Finanzprodukte« gehandelt werden. Der Begriff des Finanzmarkts kam erst in den 1970er Jahren auf und umfasst meist den Kapitalmarkt (für Wertpapiere wie Aktien und Anleihen), den Geldmarkt (kurzfristige Geldgeschäfte zwischen Banken und mit der Zentralbank) und den Devisenmarkt für Währungsgeschäfte. Hinzugezählt wird auch der Derivatenmarkt, auf dem »abgeleitete« Wertpapiere gehandelt werden. »Abgeleitet« deswegen, weil mit Derivaten auf die Wertentwicklung von anderen Wertpapieren wie Aktien, Anleihen, Zinsen oder Rohstoffen gewettet wird. Akteure an den Finanzmärkten sind vor allem Banken, Investmentfonds, Pensionsfonds, (Lebens-)Versicherungen und vermögende Einzelanleger. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? China: Bang, Boom, Börse”

Arbeitszeit und Arbeitskraft. Was Karl Marx über Ausbeutung und den Verkauf der eigenen Lebenszeit schreibt

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»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf«, heißt es in »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx. Was meint er damit?

Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander arbeiten. Die Formen, wie Arbeitsteilung organisiert ist, sind jedoch sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind es recht unterschiedliche soziale Logiken, die da am Werke sind.

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Gefangen im Schuldenturm. Deutschland drängt Griechenland weiter seinen politischen Willen auf

Wer Anfang Juli für ein paar Wochen im Urlaub war und wenig von der Welt mitbekam, wurde nach der Rückkehr Mitte Juli schnell auf den Boden der deutschen Tatsachen geholt. Anfang Juli hatte SYRIZA ein Referendum über die Zumutungen der Troika ausgerufen, was die größte gesellschaftliche Mobilisierung seit Monaten zur Folge hatte. Bei einer höheren Wahlbeteiligung als bei den letzten Parlamentswahlen stimmten mehr Griech_innen mit OXI (Nein), als noch im Januar die Partei SYRIZA gewählt hatten. Eine klare Ansage: SYRIZA, so möchte man meinen, hatte den Auftrag, die Zumutungen aus Brüssel zurückzuweisen. Mehr noch: Die Nein/Ja-Stimmenverteilung hatte einen deutlichen Klassencharakter: In proletarischen Wahlbezirken wurden mit Nein, in bürgerlichen hingegen mit Ja gestimmt. Die Abstimmung machte einmal mehr deutlich, dass es in Griechenland um eine soziale Frage geht, um einen Klassenkonflikt – nicht um nationale Interessensgegensätze. Continue reading “Gefangen im Schuldenturm. Deutschland drängt Griechenland weiter seinen politischen Willen auf”

FAQ. Noch Fragen? Puerto Rico: Griechenland in der Karibik?

Auf einer Konferenz der Bundesbank Anfang Juli verbat sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in besonders arroganter Weise die Kritik von Jack Lew, dem US-Finanzminister. Nicht nur Lew, sondern auch einige US-Ökonom_innen hatten im Juli Deutschland öffentlich aufgefordert, die Griechenlandkrise endlich zu lösen. Schäuble, ganz in seinem Element als Patriarch der Eurozone, bot Lew an, Puerto Rico in die Eurozone aufzunehmen, wenn die USA im Gegenzug Griechenland in die US-Dollar-Zone aufnehmen. Die Karibikinsel stand damals kurz vor der Pleite. Inzwischen wird das Land von Ratingagenturen als zahlungssäumig geführt. Ein absurder Vergleich, den Schäuble da strapazierte? Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Puerto Rico: Griechenland in der Karibik?”

Dialektisch gegliedert: Karl Marx und seine kaum erreichte Weise, Das Kapital nie drucken zu lassen

Heute vor 150 Jahren, am 31.7.1865, schrieb Karl Marx einen seiner vielen Briefe an Friedrich Engels, in dem er nicht nur von seinen körperlichen Beschwerden und Geldnöten berichtete, sondern auch schrieb, wie es um Das Kapital steht:

Was nun meine Arbeit betrifft, so will ich Dir darüber reinen Wein einschenken. Es sind noch 3 Kapitel zu schreiben, um den theoretischen Teil (die 3 ersten Bücher) fertigzumachen. Dann ist noch das 4. Buch, das historisch-literarische, zu schreiben, was mir relativ der leichteste Teil ist, da alle Fragen in den 3 ersten Büchern gelöst sind, dies letzte also mehr Repetition in historischer Form ist.

marx-engelsDass Marx Engels »reinen Wein« einschenken will, zeigt, dass er es nicht immer tat – und Engels auch in den kommenden Jahren immer wieder vertröstete. Immer wieder ließ Marx Engels glauben, dass er de facto mit dem Kapital fertig sei. Das angedeutete vierte Buch ist nicht das, wie oft geglaubt wird, was als sogenannten Theorien über den Mehrwert bekannt ist (ab 1905 zu großen Teilen von Karl Kautsky herausgegeben), sondern ein Manuskript, das zwischen August 1861 und Juli 1863 entstand (und in der MEGA vollständig vorliegt). Marx setzte sich an dieses Manuskript, nachdem er sein erstes Heft Zur Kritik der politischen Ökonomie 1859 veröffentlicht hatte. Auch wenn das Manuskript 1861-1863 oft als Vorarbeit fürs Kapital bezeichnet wird (so auch die Bezeichnung der zweiten Abteilung der MEGA), so sprach Marx erst im Winter 1862 vom Kapital Buchprojekt als selbstständigem Werk. Nach 1859 wollte er zunächst weitere Hefte von Zur Kritik der politischen Ökonomie veröffentlichen, ließ den Plan aber fallen – den Auflösungsprozess des Vorhabens kann man in den Manuskripten 1861 bis 1863 nachvollziehen. Auch begrifflich, etwa anhand des »Kapitals im Allgemeinen«, eine Idee, die er fallen ließ. Das am 31. Juli 1865 angedeutete 4. Buch zur Geschichte der politischen Ökonomie ist das Manuskript 1861/1863 in jedem Fall nicht. Continue reading “Dialektisch gegliedert: Karl Marx und seine kaum erreichte Weise, Das Kapital nie drucken zu lassen”