Gefangen im Schuldenturm. Deutschland drängt Griechenland weiter seinen politischen Willen auf

Wer Anfang Juli für ein paar Wochen im Urlaub war und wenig von der Welt mitbekam, wurde nach der Rückkehr Mitte Juli schnell auf den Boden der deutschen Tatsachen geholt. Anfang Juli hatte SYRIZA ein Referendum über die Zumutungen der Troika ausgerufen, was die größte gesellschaftliche Mobilisierung seit Monaten zur Folge hatte. Bei einer höheren Wahlbeteiligung als bei den letzten Parlamentswahlen stimmten mehr Griech_innen mit OXI (Nein), als noch im Januar die Partei SYRIZA gewählt hatten. Eine klare Ansage: SYRIZA, so möchte man meinen, hatte den Auftrag, die Zumutungen aus Brüssel zurückzuweisen. Mehr noch: Die Nein/Ja-Stimmenverteilung hatte einen deutlichen Klassencharakter: In proletarischen Wahlbezirken wurden mit Nein, in bürgerlichen hingegen mit Ja gestimmt. Die Abstimmung machte einmal mehr deutlich, dass es in Griechenland um eine soziale Frage geht, um einen Klassenkonflikt – nicht um nationale Interessensgegensätze.

Auf dem EU-Gipfel am 12. Juli 2015, auf dem die Bedingungen für neue Kredite diktiert wurden, wurde einem die normative Kraft der faktischen Kräfteverhältnisse vor Augen geführt. Als hätte das Referendum nie stattgefunden, setzte Tsipras nach dem EU-Gipfel Austeritätsmaßnahmen im Parlament durch – gegen die eigene Partei, mithilfe der Opposition. Die FAZ (11.8.2015) triumphierte wenige Wochen später: Mittlerweile hebe sich die SYRIZA-Regierung »sogar wohltuend von der Anfang 2015 abgewählten Regierung Samaras ab, die gegen Ende ihrer Amtszeit kraftlos war und nichts mehr anpackte.«

Warum hatte die Regierung Tsipras überhaupt ein Referendum angesetzt? Nahe liegt die Vermutung, dass sich die Regierung ein starkes Verhandlungsmandat holen wollte. Griechenland wurde bis dahin in die Enge getrieben, vor allem von Deutschland, obwohl unzählige Zugeständnisse gemacht wurden. Zu glauben, mit einem Referendum die eigene Verhandlungssituation zu stärken, wäre reichlich naiv gewesen. Eine andere Vermutung liegt nahe, wie etwa Jannis Milios herausstellt, der bis Frühjahr 2015 Chefökonom bei SYRIZA war: Tsipras sei von moderaten Teilen von SYRIZA zu einem Referendum gedrängt worden, und niemand sei von einem so deutlichen OXI-Ergebnis ausgegangen (über 60 Prozent). Ein Abstimmungspatt von um die 50 Prozent hingegen und ein klares Ja zum Euro wären eine legitime Basis gewesen, ein neues Memorandum zu verhandeln. Es kam anders.

Institutionelle Strategie
Das Referendum war auch das traurige Ende einer Strategie, die – statt den Konflikt mit den griechischen Eliten (in Wirtschaft, Gesellschaft und dem Staatsapparat) zu suchen – alles daran setzte, in den institutionellen Verhandlungen mit der Troika ein gutes Ergebnis herauszuholen. Eine Strategie, die bereits nach der Wahlniederlage 2012 eingeschlagen wurde, bei der SYRIZA noch etwa drei Prozentpunkte hinter der konservativen Nea Dimokratia (ND) zweitstärkste Kraft wurde. Tsipras setzte seitdem auf den institutionellen Weg (statt auf den politischen Konflikt in Griechenland), brach de facto mit den heterogenen außerparlamentarischen Kräften und forderte seitdem – zusammen mit Yanis Varoufakis – vor allem, dass die Wirtschaft wieder wachsen müsse. Deshalb ist es den Vermögenden nicht an den Kragen gegangen; deshalb wurde so wenig darauf gesetzt, in den Staatsapparaten eine andere Logik durchzusetzen; in der Berichterstattung wird der linke Flügel mit der linken Plattform gleichgesetzt, die Kräfte, die Tsipras und SYRIZA nach 2010 eigentlich starkgemacht haben, sind verschwunden – die außerparlamentarische (Jugend-)Bewegung und die sozialen Initiativen.

Die politische Strategie, auf den institutionellen Weg zu setzen, war aber auch der »Stand der Bewegung« in dem Sinne, dass der Widerstand der Bewegungen in Griechenland und die Praktiken der solidarischen Ökonomien an eine Grenze geraten waren. Schnappte also nur die altbekannte Parlamentarisierungsfalle zu? Nicht nur, aber bisher ist es der Linken nicht gelungen, ein konkreteres und differenzierteres Bild zu zeichnen. Eine derartige Skizze ist jedoch nötig, um ein Bild jenseits des Verratsvorwurfs und der nahezu zynischen Feststellung zu malen, SYRIZA habe den Riss in der Troika vergrößert. Der Riss wurde nicht größer, sondern nur die Kräfteverhältnisse innerhalb der Eurozone offensichtlich.

»Den bürgerlichen Ökonomen schwebt nur vor, dass sich mit der modernen Polizei besser produzieren lasse als z.B. im Faustrecht. Sie vergessen nur, dass auch das Faustrecht ein Recht ist, und dass das Recht des Stärkeren unter andrer Form auch in ihrem Rechtsstaat fortlebt« – so Marx in seiner Kritik an den ideologischen Verklärungen zu Recht und Gesetz. Das Recht des Stärkeren hatte sich im Juli einmal mehr durchgesetzt. Das zeigte sich gleich mehrfach.

Signale Richtung Frankreich
In der US-Zeitschrift Foreign Policy schrieb der Ökonom Philippe Legrain: »Was Berlin und Frankfurt Griechenland angetan haben, können – und werden – sie auch anderen antun.« Nicht die politische Grundausrichtung Deutschlands hat sich verändert, sondern Berlin muss weitaus weniger Kompromisse machen als noch vor Jahren. In der New York Times schrieb Shahin Vallée (European Institute der London School of Economics): »Deutschland signalisierte Richtung Frankreich, dass es für einen Alleingang vorbereitet war.«

Dass die Macht des stärkeren Deutschland auch in rechtlichen Fragen gilt, lässt sich an zwei Beispielen veranschaulichen. Griechenlands Kreditversorgung hing über Monate an den Notkrediten der Europäischen Zentralbank (EZB). Deshalb waren die sogenannten ELA-Notkredite auch ein derartiges Politikum, und nicht selten kam aus den Reihen der CDU/CSU die Forderung, die EZB solle endlich den Geldhahn zudrehen. Die Praxis sei nicht vom EZB-Mandat gedeckt, sondern verdeckte Staatsfinanzierung. Martin Hellwig vom Max-Planck-Institut, der »vielleicht angesehenste deutsche Ökonom« (FAZ), sah das begründetermaßen anders und spitzte zu: »Das Gefügigmachen von Mitgliedsregierungen gehört nicht zu den Zielen und Aufgaben des Eurosystems. (…) Um so schlimmer, dass die deutschen Protagonisten die Erpressungsinterpretation so glaubhaft machen.« (Handelsblatt, 3.7.2015)

Ähnlich sieht es für den Schuldenschnitt aus, den selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert, fordern muss, weil der Fonds nur Kredite vergeben darf, wenn die Tragfähigkeit der Schulden garantiert ist, das heißt, der Schuldnerstaat aufgrund von Steuereinnahmen die Kredite bedienen kann. Vor allem Wolfgang Schäuble (CDU) zieht hier eine ähnliche Karte: Ein Schuldenschnitt sei eine nicht erlaubte Staatsfinanzierung. Für den IWF ist ein sogenannter Haircut jedoch Voraussetzung dafür, dass er Teil der Troika bleibt. Der größte Widerspruch herrscht also zwischen Deutschland und dem IWF. Inzwischen nähert sich sogar Brüssel dem IWF an, Berlin hingegen nicht, will den IWF aber dabei haben – wie das gehen soll, ist bisher Schäubles Geheimnis. 2010 war es Deutschland, das gegen Frankreich den IWF bei der »Griechenlandrettung« ins Boot holte, nicht nur aufgrund seiner Erfahrung bei neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen, sondern auch, um einen »harten Hund« bei der Troika zu haben, der verhindert, dass es zu einer Lösung innerhalb der EU kommt.

Austerität: nicht irrational
Aber auch was den Schuldenschnitt betrifft, sind nicht alle Schäubles Meinung. So haben die Ökonomen und Juristen Armin von Bogdandy (Direktor am Max-Planck-Institut), Marcel Fratzscher (Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung) und Guntram Wolff (Direktor des Bruegel-Instituts) in der FAZ (23.7.2015) herausgestellt, dass ein Schuldenschnitt nicht nur wirtschaftlich notwendig, sondern auch rechtlich möglich wäre.

Wie das Recht, so galt auch das wissenschaftliche Argument in den letzten Monaten wenig: Yanis Varoufakis berichtete nach seinem Rücktritt mehrmals davon, dass in den Verhandlungen Argumente und auch die Diskussion wirtschaftlicher Zusammenhänge keinen Raum bekamen. Der Wissenschaftler musste schnell feststellen, dass die politische Arena eben kein Hörsaal ist. Eine eigentlich wenig verwunderliche Erkenntnis. Aber SYRIZA und auch viele Linke (vor allem die Linkspartei) akzeptierten schon früh die Fragestellung der Gläubiger: Wie kann die griechische Wirtschaft wieder wachsen? Nur über die Methoden, wie das Ziel erreicht werden kann, wurde gestritten: investieren oder sparen. Aber Austerität ist eben keine irrationale Politik, die Griechenland einfach in die Rezession treibt und die durch eine andere Form der Wirtschaftspolitik ersetzt werden sollte. Austerität hat einen Klasseninhalt, der das Ziel hat, die Kosten für das Kapital zu senken. Das ist nicht einfach irrational – und entsprechend müsste dem auch begegnet werden.

So wenig wie die Austeritätspolitik irrational ist, so wenig ist die deutsche Politik jedoch einfach Ausdruck bestimmter Klasseninteressen in Deutschland. Sicher macht die Bundesregierung im Großen und Ganzen Politik für das exportorientierte Kapital (und solange das noch funktioniert, solange sind die Gewerkschaften/Lohnabhängigen Teil des Modells). Auch versucht Deutschland, das eigene Modell zu europäisieren: Alle sollen wettbewerbsfähig werden und sich auf dem Weltmarkt behaupten können. Aber die letzten Entscheidungen (vor allem von Schäuble) sind eben nicht einfach Klassenpolitik, sondern Außen- und Europapolitik (wie die Gründung des Euros auch vor allem vom deutschen Außenministerium vorangetrieben wurde). Den Linken ist es in den letzten Monaten jedoch nicht gelungen, diese beiden Dimensionen (Klasseninteressen des exportorientierten Wirtschaftsmodells, Außenpolitik der Mittelmacht Deutschland) miteinander zu vermitteln – was wiederum auf die Notwendigkeit einer Imperialismustheorie auf Höhe der Zeit verweist.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 607 vom 18.8.2015