FAQ. Noch Fragen? Der Euro: stabil und unterbewertet

Deutschland ist Exportweltmeister. In Brüssel heißt es: »Deutschlands erfolgreichste Armee ist die deutsche Industrie.« Wenn der Außenwert des Euro schwach ist, sind Waren »made in Germany« billig, was den Außenhandel weiter anheizt. Das findet nicht nur Merkel gut, schließlich ist das die Voraussetzung dafür, dass es an der »Heimatfront« ruhig bleibt. Gleichzeitig sorgt sich nicht nur die Bundesbank um den Euro. Er sei zu schwach, die Europäische Zentralbank (EZB) verfolge eine falsche Politik – und nicht nur deshalb drohe Inflationsgefahr. Die Bundesbank versteht sich als Stabilitätsanker einer harten und stabilen Währung. Ein Widerspruch?

Die sogenannte merkantilistische Strategie prägt die deutsche Wirtschaft seit den 1950er Jahren, als das »Wirtschaftswunder« dank des Koreakriegs so richtig losging. Ab den 1980ern ist allerdings ein Wandel bei der Exportorientierung festzustellen, als Deutschland verstärkt auf den europäischen Binnen- und den Weltmarkt setzte. Während davor relativ hohe Löhne und Wirtschaftswachstum noch keinen Widerspruch zur Exportorientierung darstellten, ist die Phase seit den 1990er Jahren von einer »Unterdrückung lohngetriebener Wachstumsimpulse« geprägt. Ein sogenannter selektiver Korporatismus, der Teile der Gewerkschaften und der Lohnabhängigen auf Kosten anderer Teile einbindet, sicherte somit selbst bei sinkenden Löhnen das »Modell Deutschland«.

Begleitet ist diese Politik von der stabilitätsorientierten Geldpolitik, die nur möglich ist, weil der Korporatismus von Lohnarbeit und Kapital moderate Lohnabschlüsse garantiert. Die Bundesbank fürchtet nichts mehr als eine Lohn-Preis-Spirale. Dieser »soziale Frieden« drückt sich auch in einer spezifischen »Stabilitätskultur« aus, die einerseits historisch entstanden ist, andererseits als nationales Narrativ aufgerufen wird: Deutschland habe mit einer galoppierenden Inflation ein nationales Trauma erlebt. Das wirkt. Auch wenn wenig davon stimmt (so war nicht Inflation, sondern Deflation und ein Währungswettlauf nach 1929 das zentrale Problem). Es kann sich aber auch gegen die politische Klasse verselbstständigen. Keine Partei kann mehr gegen das »gesunde Volksempfinden«, die Sorgen um »unser« Geld, Politik machen.

Verankert sind dieses Volksempfinden und die Politik der Bundesbank in einer Spielart des Monetarismus, die davon ausgeht, dass ein schwacher Außenwert einer Währung Inflation nach sich zieht. Das will man nicht. Deutschland betreibt seit den 1970er Jahren aber eine Politik der stabilitätsorientierten Unterbewertung, das heißt niedrige Inflation bei gleichzeitiger Unterbewertung des Außenwerts. Eine Strategie, die auch in der Krise 2007ff. als Lösungsform praktiziert wurde. Zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit tragen nämlich viele Faktoren bei, nicht nur die Lohnstückkosten, sondern eben auch der Außenwert einer Währung, also was Waren in einer anderen Währung kosten. Wettbewerbsvorteile werden kleiner, wenn dadurch der Wechselkurs steigt. Schließlich bringt die Stabilität einer Währung Kapitalimporte mit sich, da Vermögen in einer sicheren und stabilen Währung gehalten werden. Es kann also durchaus dazu kommen, dass ein Land unter seinem eigenen Erfolg leidet: Die Stabilität einer Währung kann die Wettbewerbsfähigkeit verringern (Aufwertungskrise).

Mit diesem Problem war die D-Mark in den 1970er Jahren konfrontiert. Ende März 1978 schrieb der damalige Vizepräsident der Bundesbank, Karl Otto Pöhl, an Bundeskanzler Helmut Schmidt, dass die Gefahr einer D-Mark-Aufwertung und das damit einhergehende Risiko einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit »auf möglichst viele Schultern verteilt« werden müsse. Klartext: Pöhl wollte die Krisenfolgen (Arbeitslosigkeit) auf das europäische Ausland auslagern. Vor diesem Hintergrund war die Bundesbank bereit, erste Schritte einer europäischen Währungspolitik zu machen, stabilisierte die D-Mark gegenüber den anderen europäischen Währungen im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS). Der Aufwertungsdruck sank.

Eine ähnliche Konstellation herrscht derzeit, wenn einerseits Geldkapital in den deutschen Euro fließt, die europäische Währung insgesamt aber aufgrund der Eurokrise unter Druck ist. Perfekte Voraussetzungen für Deutschland und seine Strategie der stabilitätsorientierten Unterbewertung, in der die Verteilungskämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital ohne drohende Inflation ausgetragen werden sollen: Der relativ schwache Euro liefert nicht nur der Bundesbank die Argumente, dass neben der Geldpolitik nicht auch noch »überzogene« Löhne die Gefahr einer Inflation vergrößern. Der Hauptgewinn geht damit mal wieder an das exportorientierte Kapital.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 606 vom 16.6.2015.