Fest im neoliberalen Sattel. Mythos und Realität: Die Rolle der Chicago Boys in der wirtschaftspolitischen Konterrevolution

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Kaum ein Text, der sich kritisch mit der Geschichte und der (gewaltförmigen) Durchsetzung des Neoliberalismus beschäftigt, erwähnt nicht die sogenannten Chicago Boys. Die chilenischen Ökonomen, ausgebildet bei neoliberalen Größen wie Milton Friedman und Friedrich August von Hayek, so die gängige Erzählung, hätten damals das neoliberale Handwerkszeug von Privatisierung bis Deregulierung im Handgepäck gehabt, das sie unter Laborbedingungen ausprobieren sollten. Wenn auch einiges davon stimmt, zeigt sich doch, dass das konterrevolutionäre Bündnis nicht so organisch und fest war, wie oft behauptet wird.

Nach 1945 prägte der Kalte Krieg alle zwischenstaatlichen Konflikte. 1954 formulierte US-Präsident Eisenhower die sogenannte Dominotheorie, die zu einem zentralen Parameter der US-Außenpolitik wurde und besagt, dass ein Land nach dem anderen auf die »falsche« Seite des Kalten Krieges fallen könnte – die Seite des Kommunismus. Bereits demokratische Aufbrüche waren für die USA Anlass, mittels CIA einzugreifen. In Chile wurde der CIA bereits 1963 aktiv – also mehrere Jahre vor Allendes Amtsantritt – und »investierte« dort bis zum Putsch zehn Jahre später etwa 13 Millionen US-Dollar.

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Der Palast La Moneda war einst eine Münzprägeanstalt und ist heute der chilenische Präsidentenpalast. Am 11. September wurde Schauplatz des blutigen Militärputsches gegen Salvador Allende durch den General und späteren Diktator Augusto Pinochet. Foto: flickr.com/Pedro Encina

Kalter Krieg an den Hochschulen
Kalter Krieg herrschte auch an den Hochschulen. Theorien, die einen unabhängigen Weg von der US-amerikanischen Entwicklungspolitik und der US-Dominanz formulierten, waren nicht gern gesehen – vor allem in Lateinamerika, wo US-Konzerne viele Millionen US-Dollar investiert hatten. Die »offenen Adern Lateinamerikas« sollten nicht versiegen. Das gleichnamige Buch von Eduardo Galeano machte 1971 einem Massenpublikum deutlich, dass die Ausbeutung Südamerikas den Reichtum der USA und Europas begründete.

Die Dependenztheorie und strukturalistische oder marxistische Ansätze wollten diesen ökonomischen Prozess stoppen und waren nicht nur an Chiles Universitäten verankert. Nachdem in Brasilien (1964), Argentinien (1966) und Bolivien (1971) Militärdiktaturen errichtet worden waren, gingen viele Intellektuelle ins Exil und organisierten sich u.a. in der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die ihren Sitz in Chile hatte. Die heterodoxen Ansätze gingen – bei allen Differenzen – davon aus, dass der Markt, vor allem der Weltmarkt, keine Tendenz zum Gleichgewicht hat, sondernUngleichheiten zwischen Zentrum und Peripherie reproduzierte. Deshalb sollte der Staat den Marktkräften entgegenwirken.

Schon vor dem Putsch 1973 wurde Chile zu einem Labor des »intellektuellem Imperialismus«. Im Rahmen eines Austauschprogramms mit den USA, das offiziell 1956 startete, wurde der Einfluss auf die chilenische ökonomische Ausbildung organisiert. Zwischen 1957 und 1970 erwarben 100 StudentInnen einen Abschluss in Chicago, also an der Universität, an der u.a. Friedman und Hayek wirkten. Zentrale Figur für den »ideologischen Transfer« (Valdés) war Arnold Harberger, verheiratet mit einer Chilenin und Wirtschaftsprofessor an der Universität Chicago. 1965 wurde das Programm – finanziert u.a. durch den Vorläufer von USAID, die staatliche Entwicklungshilfeorganisation International Cooperation Administration, und die private Ford-Stiftung – auf weitere Länder in Lateinamerika ausgedehnt. Die Kooperation begann schließlich mit der willigen Universidad Católica de Chile. 1963 waren bereits zwölf der 13 Vollzeitfakultätsmitglieder an der katholischen Universität Absolventen der Universität von Chicago.

1968 gründete der Bankier und Eigentümer der rechten Tageszeitung El Mercurio, Agustín Edwards Eastman, den ersten rechten, neoliberal ausgerichteten Thinktank in Chile, das Zentrum für soziale und ökonomische Studien (CESEC). Dort wurde auch wenige Jahre später das Wirtschaftsprogramm des rechten Kandidaten Jorge Alessandri für die Wahlen 1970 geschrieben und die Herstellung eines »Putschklimas« mitorganisiert.

Intellektueller Imperialismus
Aber: Hätte es keinen Putsch gegeben, wäre der Versuch der ideologischen Kriegsführung eine Pleite gewesen. Denn Chile bewegte sich nach links – trotz des ideologischen Imperialismus und der massiven Einmischung des CIA in die politische Meinungsbildung, etwa durch die massive Unterstützung von El Mercurio. 1970 feierte Allendes Unidad Popular einen Wahlsieg. Die sogenannten Chicago Boys waren zu diesem Zeitpunkt unbedeutend und marginalisiert.

Bedeutung bekamen sie erst mit dem politischen Aufstieg der sogenannten Gremialistas, einer rechten Bewegung, die als neue Rechte auf dem politischen Feld Allende die Stirn bieten wollte. Wichtig war außerdem der sogenannte Montagsclub, in dem das Bündnis aus Chicago Boys, Gremialistas und Unternehmen geschmiedet wurde. Der Club traf sich in den Räumen von El Mercurio, wo neben dem Putschklima auch an »El ladrillo« (Der Backstein) gearbeitet wurde, einer neoliberalen Programmschrift, die ab 1975 als Blaupause für viele Reformen dienen sollte.

Die »Wirtschaftspolitik« des Militärs war zunächst ein reiner Klassenkrieg: Gewerkschaften wurden zerschlagen, die soziale und linke Opposition politisch und physisch ausgeschaltet. Dies war die Voraussetzung dafür, dass das neoliberale Projekt überhaupt etabliert werden konnte. Keine der »gleichgewichtsfördernden, normalisierenden und entpolitisierenden Maßnahmen (war) ohne militärische Gewalt und politischen Terror« möglich, so André Gunder Frank, Mitbegründer der Dependenztheorie.

Der Putsch kann »bonapartistisch« gedeutet werden: Aufgrund eines Klassengleichgewichts war die Bourgeoisie bereit, die politische Macht zugunsten einer autoritären Ordnung aufzugeben, um ihre soziale Macht zu erhalten.

Neben der Opposition gab es noch einen weiteren widerständigen Faktor: die politische Kultur. Das katholisch geprägte Chile – und selbst das rechte Lager – zeichnete sich durch Paternalismus und Korporatismus aus, was der neoliberalen Ideologie eher widerspricht. Andererseits waren Formen der Selbstorganisation und eine damit verbundene Staatsskepsis weit verbreitet. Letztere musste dominant werden, sollte sich das neoliberale Projekt durchsetzen können – auch innerhalb der herrschenden Klasse.

Die Chicago Boys betreten das Feld
Nachdem bis 1975 die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte, brachte Hernán Cubillos, Geschäftsleiter des Mercurio, Pinochet mit den Chicago Boys zusammen. Während einer sechstägigen Tour im März 1975 machten u.a. Harberger und Friedman Werbung für ein neoliberales Projekt. Die Bedeutungslosigkeit der Chicago Boys wurde durchbrochen, die ideologischen Krieger betraten das politische Feld.

Während dieser Tage sprach Friedman auch persönlich bei Pinochet vor und schrieb ihm anschließend einen Brief. Der Nobelpreisträger von 1976 empfahl eine radikale Reduzierung der Staatsausgaben um 25 Prozent in sechs Monaten – vor allem im Gesundheitssystem -, eine Beschränkung der Geldmenge, eine Währungsreform und vor allem eine Schocktherapie, die eben nicht Schritt für Schritt etwas ändere.

Pinochet zeigte sich überzeugt. Die Machtverhältnisse innerhalb der Militärclique und der Industrie hatten sich zugunsten einer radikal-neoliberalen Strategie verschoben. Der »Backstein« konnte aus der Schublade geholt werden. Mit der eingeschlagenen monetaristisch-neoliberalen Schocktherapie schieden die Christdemokraten, die den konservativ-christlichen Flügel repräsentierten, aus der Regierung aus. Noch im März 1975 wurde die im Juli 1974 ausgerufene moderne, gemischte Ökonomie für beendet erklärt und das neoliberale »Stabilisierungsprogramm« verfolgt.

Unter »Superminister« Jorges Causas wurden Teile der Chicago Boys zu Ministern oder Staatssekretären ernannt (Sergio de Castro, Pablo Baraona, Alvaro Bardón, Rolf Luders, Miguel Kast); weniger bekannte Vertreter bekamen Verantwortung in der Zentralbank oder kamen in wichtigen Unternehmen unter.

500 Betriebe wurden privatisiert oder staatliche Beteiligungen abgestoßen. Eine Ausnahme gab es: Die Kupfermine Codelco blieb staatlich. Sie sorgte selbst in Krisenzeiten für 85 Prozent der Exporteinkünfte. Die durchschnittlichen Einfuhrzölle wurden Schritt für Schritt von 92 auf zehn Prozent gesenkt; die Zolltarife gesenkt und alle Einfuhrbeschränkungen beseitigt. Die Regierungsausgaben gingen zwischen 1973 und 1979 von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 26 Prozent zurück. Der Finanzmarkt wurde dereguliert, Preiskontrollen aufgehoben und Löhne gedeckelt, was bei einer Inflation von über 300 Prozent zu einer Explosion der Lebenshaltungskosten führte und einen Großteil der Lohnabhängigen in kürzester Zeit in Armut stürzte. Die Staatsausgaben wurden um 27 Prozent gekürzt und bis 1980 nochmals derart zusammengestrichen, dass sie nur noch 50 Prozent derjenigen unter Allende entsprachen. Die Gesamtzahl der Staatsbediensteten sank zwischen 1974 und 1978 um fast 20 Prozent.

Für die sogenannten sieben Modernisierungen war die zentrale Figur José Piñera, der von einer »entscheidenden Etappe in dieser wirklich stillen Revolution« sprach. Zentrale Felder waren die Arbeitspolitik, soziale Sicherheit, Erziehung, Gesundheit, regionale Dezentralisierung, Landwirtschaft und Justiz. Vor allem die Privatisierung der Rente gilt als neoliberale »Pionierleistung«. Chile war das erste Land, das von einem solidarischen Umlagesystem auf ein kapitalgedecktes System umstellte.

Die »Verfassung der Freiheit«
Im September 1979, sechs Jahre nach dem Putsch, erklärte Pinochet die »Reformen« für weitgehend abgeschlossen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn ein Projekt, das bis heute die chilenischen Auseinandersetzungen prägt, fehlte noch – eine neue Verfassung. Die monetaristische Gangart, unter der Führung der Chicago Boys, herrschte bis 1978. Danach setzte eine andere Form der neoliberalen Modernisierung ein, die bis heute nachwirkt und von der Universität Virginia geprägt wurde. Dort entstand die sogenannte Public-Choice-Theorie, für die das Staatsversagen im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Ökonomen James Buchanan, Gordon Tullock und Karl Brunner hatten eine radikale Ökonomisierung der Politik vor Augen.

Vor allem Jaime Guzmán, Führer der Gremialistas-Bewegung, drängte auf die neue Verfassung, deren Titel sich an Hayeks Buch »Die Verfassung der Freiheit« von 1960 anlehnte. Mit der 1980 verabschiedeten neuen Verfassung bekam der Neoliberalismus Verfassungsrang. Damit herrschte in Chile nun bereits ein »neoliberaler Konstitutionalismus« – eine Bezeichnung, die Stephen Gill für die EU mit der Einführung des Euro etablierte.

Bonaparte in Chile
In Chile wurde ein tiefgreifender Klassen- und gesellschaftlicher Konflikt militärisch gelöst – mit kriegerischen Mitteln. Aus einer politischen Krise wurde eine Staatskrise: Das Militär richtete sich gegen die demokratisch gewählten RepräsentantInnen. Ideologisch artikulierten sich diese Widersprüche als Angriff einer monetaristischen Ökonomietheorie auf alles, was dem Staat eine gestaltende ökonomische Rolle zusprach.

Die Chicago Boys waren verantwortlich dafür, nach der Konsolidierung der politischen Macht und der Restauration der Klassenmacht des Kapitals die »stumme Gewalt der ökonomischen Verhältnisse« einzusetzen – mit Verfassungsrang – allerdings erst zwei Jahre nach dem Putsch. Auch standen sie nicht von Beginn an der Seite des Militärs, sondern mussten erst eingeführt werden. Zum politischen Terror gesellte sich von nun an die politisch organisierte ökonomische Disziplin.

Literatur:
Karin Fischer: The Influence of Neoliberals in Chile before, during, and after Pinochet. In: Philip Mirowski und Dieter Plehwe (Hg.): The Road from Mont Pèlerin. Cambridge-London 2009.
Naomi Klein: Die Schock-Strategie, Frankfurt am Main 2007.
Juan Gabriel Valdés: Pinochet’s Economists. Cambridge 1995.
Bernhard Walpen und Dieter Plehwe: »Wahrheitsgetreue Berichte über Chile« – Die Mont Pelerin Society und die Diktatur Pinochet. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte, 2/2001.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 586 vom 17.9.2013

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Ingo Stützle

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