Schuld und Sühne. In David Graebers Buch »Schulden – Die ersten 5.000 Jahre« fehlt die Kapitalismusanalyse

Die letzten Jahre Krisenpolitik waren ein Paradebeispiel dafür, wie Gewinne privatisiert, Verluste hingegen vergesellschaftet werden. Die tiefe Krise des Kapitalismus hinterlässt eine Staatsschuldenkrise. Die Antwort der politischen Klasse ist Haushaltskonsolidierung. Die Renditeansprüche des Finanzkapitals werden staatlich garantiert und eingetrieben. Der unsichtbaren Hand des Marktes wird die sichtbare Faust des Staates zur Seite gestellt. Damit werden die Kämpfe über die Staatsfinanzen in den kommenden Jahren zum zentralen Konfliktfeld.

Wohl auch deshalb wurde die Veröffentlichung von David Graebers Buch »Debt – The First 5.000 Years« so euphorisch begrüßt – auch von der bürgerlichen Presse. Frank Schirrmacher schrieb in der FAS (13.11.2011), dass Graeber »dem Leser die Augen für das (öffnet), was gerade vor sich geht«. Und weiter: »Graebers Text ist eine Offenbarung, weil er es schafft, dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren.« Der Spiegel meint: »Sein Buch über das Wesen von Schulden und deren wirtschaftliches und moralisches Fundament gilt schon jetzt als antikapitalistisches Standardwerk der neuen sozialen Bewegungen, die während der Weltwirtschaftskrise entstanden sind.« Gemeint sind damit die Occupyproteste. Sogar der Chefsvolkswirt der Deutschen-Bank-Gruppe rezipiert Graeber positiv in der wirtschaftspolitischen Monatszeitschrift Wirtschaftsdienst (4/2012) bei der Frage nach der Zukunft der Zentralbankwirtschaft. Das Buch liegt seit Mai 2012 nun auch in deutscher Übersetzung vor. 

Versprechen werden zu Schulden

David Graeber, Anthropologe und Anarchist, ist Professor am Goldsmiths College der University of London. Bis 2007 lehrte er Ethnologie an der Eliteuniversität Yale. Aus politischen Gründen wurde sein Vertrag nicht verlängert – Graeber ist politischer Aktivist. Er ist seit den Protesten des World Economic Forum in New York City 2002 eine wichtige Figur. Die Rolle, die er in der Occupybewegung spielt, unterstreicht dies. Dort hat er nicht nur mitgewirkt, er hat auch Bücher zur Bewegung veröffentlicht. [1]

Ausgangspunkt für Graeber ist die Frage, warum im Kapitalismus das menschliche Verständnis für Moral und Gerechtigkeit auf eine ökonomische Größe und die Sprache eines Geschäfts reduziert wird – Schulden. Bereits die moralisch-ökonomische Doppeldeutigkeit des Wortes »Schuld« in vielen Sprachen sei frappierend. Wie wurden moralische Verpflichtungen und Versprechen zwischen Menschen zu einer ökonomischen Schuld, und was bedeutet das gesellschaftlich?

Schulden stellen für Graeber ein Versprechen dar, d.h. eine moralische Verpflichtung, die es auch vor dem Kapitalismus und unabhängig von Geld gab. Das Geld mache die Versprechen, die Menschen sich gegenseitig geben, unpersönlich und übertragbar – zu Schulden. Damit würden menschliche Kooperation, Gemeinsinn und Formen möglicher Neuverhandlung der Versprechen gestört, existierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zementiert.

Geld ermögliche derart, Moral in eine »unpersönliche Rechenkunst« zu verwandeln, mit der die Versprechen gegeneinander aufgerechnet werden. Ein Ausgleich durch Schuldenstreichung, Neuverhandlung oder nicht-warenförmige Austauschbeziehungen (Gabe, Schenkung), wie dies in vorkapitalistischen Gesellschaften noch gängig war, seien nicht mehr möglich.

Graeber orientiert sich somit an einer klassischen Frage der politischen Ökonomie, womit das Buch auch beginnt: Was ist Geld? Im ersten Teil kritisiert Graeber richtigerweise den wirtschaftstheoretischen Mainstream. Ökonomische Lehrbücher beginnen immer mit dem Barter, einem Produktentausch ohne Geld. ÖkonomInnen gehen meist von unhistorischen Modellen aus, in denen Menschen ihren »natürlichen Neigungen« nachgingen, unter anderem ihrem Trieb zu Tausch und Handel.

Der Staat erfindet das Geld

Demgegenüber argumentiert Graeber historisch. Er geht davon aus, dass der Kredit und damit das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis dem Geld historisch vorausgehe. Die »gängige Darstellung« erzähle »die Geschichte des Geldes genau verkehrt herum«, nämlich vom Tauschhandel über die Entdeckung des Geldes zum entwickelten Kreditsystem. Graeber spitzt sogar zu; Geld sei nicht einfach ein Ding, sondern ein Mittel, etwas zu vergleichen. Nur was wird gemessen bzw. verglichen? Graebers einfache Antwort ist: Schuld. Geld und Kredit (also Zahlungsversprechen) fallen bei ihm de facto zusammen.

Die Genese des Geldes aus Versprechen rekonstruiert Graeber entlang von mehreren historischen Phasen. Von der Zeit früher städtischer Zivilisationen (Ägypten, Mesopotamien, China) von etwa 3000 bis 800 v.u.Z. über das Mittelalter (600-1450) bis zum »Zeitalter der großen kapitalistischen Imperien« ab 1450 (bis 1971).

Für die Entstehung von Geld sei der Staat verantwortlich. Es sei eingeführt worden, um Soldaten zu bezahlen. Damit legte der Staat zugleich die »Währung« fest, in der er Steuern eintrieb und derart die Geldnutzung verallgemeinerte. Gleichzeitig entstanden mit der Kasernierung und Massenproduktion für die Kriegsfähigkeit die Märkte, auf denen dann wiederum das Geld eine zunehmend wichtige Rolle spielte. Graeber zufolge sind somit die staatlich verfasste Gewalt, Geld bzw. Kredit und die Dominanz der Märkte eng miteinander verwoben.

Graebers Ausführungen zeigen ein recht vages Verständnis von Kapitalismus, das in anarchistischer Tradition dem Staat eine dominante Rolle zuweist. Gleichzeitig ist dessen Rolle der Verpflichtungsökonomie nachgeordnet. Ebenso andere Charakteristika des Kapitalismus. Geldphänomene habe es lange vor Fabriken und Lohnarbeit gegeben. Eine genaue Bestimmung von Kapitalismus sucht man jedoch vergeblich. Ein Kennzeichen sei sein endloses Wachstum und die Produktion »einer endlos anwachsenden Menge an materiellen Gütern«. Zentral sei die vom Staat beförderte Entstehung einer »auf den Zinsen beruhenden Wirtschaftsordnung«, und die Geschichte des Kapitalismus sei »eine Geschichte der Verwandlung moralischer Netzwerke durch die Einmischung der unpersönlichen und oft rachsüchtigen Staatsmacht«. Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig verwunderlich, wenn Graeber zu dem Schluss kommt, dass es auch nach dem Kapitalismus Markt und Geld geben wird.

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Graebers Kapitalismusverständnis nicht an Marx orientiert. Wer kapitalistische Verhältnisse bekämpft, sollte jedoch eine Vorstellung davon haben, wogegen er eigentlich ist. Und genau darum wird es in Zukunft innerhalb der radikalen Linken auch gehen müssen. An diesem Punkt sollte auch eine Kritik an Graebers Buch einsetzen.

Verhältnisse ohne Klassen

Im Prinzip geht Graeber von der gesellschaftlich-ökonomischen Beziehung aus, die den Zins hervorbringt – dem Gläubiger-Schuldner-Verhältnis. Aber nicht die Klassenverhältnisse, das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und die Form der Produktion stehen im Mittelpunkt. Damit verschwimmen jedoch gleich mehrere Verhältnisse, die den Kapitalismus auszeichnen.

Kreditbeziehungen gehen die unterschiedlichsten Akteure ein. Schuldner können Staaten, Lohnabhängige oder Unternehmen sein – aus verschiedenen Gründen. Der Staat, weil er zu wenig Steuern einnimmt oder Verluste von Banken verstaatlicht; Lohnabhängige, weil sie zu wenig verdienen; Unternehmen, um möglichst viel Profit zu machen. Die Perspektive des Kredits macht sie jedoch alle gleich; der Grund des entstehenden Kreditverhältnisses schein irrelevant.

Diese Einebnung gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt sich auch bei den Kategorien Geld, Kredit und Kapital, die in Graebers Konzeption nicht unterscheidbar sind. Laut Marx sind es dagegen Formen, die durchaus unterschiedliche Verhältnisse vermitteln. Geld schließt ein Zahlungsversprechen ab, ist also selbst »allgemeines Äquivalent« (Marx). Geld wird von den Menschen gleichermaßen akzeptiert und verwendet – egal ob LohnarbeiterIn oder KapitalistIn. Es vermittelt den Warentauch. Auch die Arbeitskraft wird in Geld entgolten.

Wenn Geld Kredit sein soll, wie Graeber meint, stellt sich die Frage, auf welche »richtige« Geldzahlung es verweisen soll. Kapital ist sich verwertender Wert. Wenn Geld als Kapital verausgabt wird, schließt es immer das Klassenverhältnis ein. Geld wird mit dem Ziel verausgabt, Profit zu machen. Gleichzeitig setzt dieses Verhältnis Menschen voraus, die, frei von Produktionsmitteln und persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben. Wenn Kapital die Form eines Eigentumstitels wie eine Aktie, Anleihe oder ein anderes Wertpapier hat, bezeichnet Marx es als »fiktives Kapital«. Für Graeber ist es wieder nur Kredit. Da er diesen Unterschieden keine Relevanz zuschreibt, werden bei ihm alle Katzen grau.

Streicht alle Schulden

Das gilt auch für seine historische Betrachtung. Graeber bekommt nicht in den Blick, was Geld und Kredit in vorkapitalistischen Gesellschaften bedeuteten, was diese voneinander unterscheidet. Er arbeitet deshalb mit überhistorischen Phänomenen, ohne nach der jeweils historisch-gesellschaftlichen Form zu fragen. Hier trifft er sich wiederum mit dem von ihm kritisierten ökonomischen Mainstream. So schreibt Graeber, dass Kreditsysteme, Abrechnungssysteme so alt wie die Zivilisation seien. Er gibt auch zu, dass es für ihn schwierig ist, zwischen Schenkungen und Kredit zu unterscheiden. Ein Problem, das sich jedoch nur einstellt, wenn diese Verkehrsweise unabhängig von den jeweils herrschenden Formen der Produktion thematisiert wird, wenn man nicht klärt, was das Charakteristische am Kapitalismus ist, was ihn überhaupt kapitalistisch macht und damit von anderen Gesellschaftsformationen unterscheidet.

Eine gesellschaftliche Verpflichtung ist historisch eben nicht gleich Kredit, und selbst Kredit ist nicht gleich Kredit. Das ist auch bei Marx zu lesen: »Geborgt und geliehen ward auch in frühren Zuständen, und der Wucher ist sogar die älteste der antediluvianischen (vorsintflutlichen; Anm.: ak) Formen des Kapitals. Aber Borgen und Leihen konstituiert ebenso wenig den Kredit, wie Arbeiten industrielle Arbeit oder freie Lohnarbeit konstituiert.« (MEW 42, 441) Was meint er damit? Unter vorkapitalistischen Verhältnissen, unter denen die Bedürfnisse der Zweck der Produktion waren, war der Kredit Mittel zur Verarmung. Im Kapitalismus hingegen ist er Mittel zur Vermehrung von Geld – von Profitmaximierung. So wie industrielle Arbeit (oder Fabriken wie bei Graeber) nicht einfach mit kapitalistischer Profitlogik identifiziert werden kann.

Obwohl gerne behauptet wird, dass ein historischer Zugang zeigen könne, dass es auch etwas vor dem Kapitalismus gab, man aus der Geschichte lernen könne, verwischen (nicht nur bei Graeber) schnell die Unterschiede zwischen kapitalistischen und vorkapitalistischen Gesellschaften, wenn man nicht zunächst klärt, was das Spezifische am Kapitalismus ist, und von dort die Reise in die Geschichte antritt – und eben nicht umgekehrt. [2]

Laut Graeber beginnt jede Revolution nicht wie einst vom Lebensmittelunternehmen Pfanni behauptet mit einem Auflauf, sondern mit Schulden, die die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann. »Streicht alle Schulden, und verteilt das Land neu!« Dieser Satz des Althistorikers Moses Finley sei das einzige und über die Jahrhunderte immer wiederkehrende revolutionäre Programm. Und: Den meisten Revolten gingen (übermäßige) Schulden voraus. Bevor an Revolution zu denken ist, sollte jedoch verstärkt darüber eine Verständigung stattfinden, was eigentlich revolutioniert werden soll. Schuldenstreichung ist ja durchaus eine richtige Forderung, aber nur wenn die Verhältnisse, die die Verschuldung immer wieder hervorbringen, mitgestrichen werden. Welche das sind, darüber wird man sich mit Graeber nicht so schnell einigen können.

Ingo Stützle

Einen längeren Nachtrag zu dieser Besprechung findet sich hier.

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Klett Cotta, Stuttgart 2012. 544 Seiten, 26,95 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 572 vom 19.5.2012

Anmerkungen:

1. Vgl. »Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus« (München 2012) und »Inside Occupy« (Frankfurt am Main-New York 2012).
2. Historische Forschungen, die sich an Marx orientieren, widersprechen deshalb Graebers Ausführungen zu Markt, Kredit und Geld. Zur Durchsetzung des Markts als Imperativ vgl. Ellen Meiksins Wood: The origin of capitalism. London-New York 2002. Zu Geld vgl. Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter, Stuttgart 2011. Zum Kredit vgl. Karl Polanyi: Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979, Seite 322ff.