Volkszählung und Herrschaftswissen

Bereits Marx stellte 1842 fest:

»Die Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.« (MEW 1, 29)

Die genuin politische Dimension von statistischem Wissen diskutierten vor allem der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas und Michel Foucault. Ihnen war klar: Staatliche Herrschaft funktioniert nur mit und durch die Produktion von Wissen über die Bevölkerung. Auch wenn es sich etwas absonderlich anhört: Herrschaft beginnt bei der Hausnummer.

»Die Bildung eines Regierungswissens ist absolut untrennbar von der Bildung eines Wissens  über all die Vorgänge, die sich im weiten Sinne um die Bevölkerung drehen, nämlich über genau das, was man ›Ökonomie‹ nennt«

Schafe werden nicht nur zum Einschlafen gezählt. Foto: CC-Lizenz, barwell

So Foucault in seinen Vorlesungen von 1977/78. Foucault nannte die staatliche Bevölkerungssteuerung Bio-Politik.

In einem Aufsatz zu dieser Frage habe ich zwischen abstrakten Wissen, strategischem Wissen, wissenschaftlichem Wissen und der politischen Ökonomie unterschieden.

Hier ein kleiner Auszug au meinem Beitrag Der Staat als Wissensapparat aus Poulantzas lesen:

»Nach Poulantzas muss der ›Staatsdiskurs‹ »stets verstanden und angehört werden, wenn auch nicht immer in gleicher Weise und von allen; es reicht nicht aus, wenn er sich in Zauberformeln präsentiert.« (ST, 85f.) ›Zauberformeln‹ gehören dem vorbürgerlichen ›Staat‹ an, in dem der Souverän die Einsicht in die wahren, von Gott gegebenen ›Gesetze‹ hatte, die es nur klug anzuwenden galt (118f.). Mit Foucault lässt sich zeigen, wie und z.T. auch warum sich dies veränderte. Die Rationalität des ›Regierens‹ war der Staatsräson bis ins 17. Jh. immanent. Ab diesem Zeitpunkt verändert sich das Verhältnis zwischen Regierung und den Wissensbeständen, die für die Aufrechterhaltung und Entwicklung des Staates notwendig sind, grundlegend (STB, 395f.). Foucault stellt entsprechend fest: »Das heißt, das für den Souverän notwendige Wissen wird eher eine Kenntnis der Dinge als eine Kenntnis des Gesetzes sein, und die Dinge, welche der Souverän kennen muss, diese Dinge, welche eben die Realität des Staates sind, das ist genau das, was man damals ›Statistik‹ nennt« (396; Herv. I.S.; vgl. 152, 156). [1. ›Statistik‹ ist hier Deutsch i. O. Was den Deutschen die ›Statistik‹ ist den Engländern die ›politische Arithmetik‹. Als deren Begründer gilt William Petty (1623-1687). Gerne wird dieser als einer der ersten angeführt, der einen Staat nach allen Regeln der Kunst ›vermessen‹ hat (KI, 288). Nur selten wird betont, dass dies nur durch die militärische Besetzung Irlands möglich war, wodurch der historische Zusammenhang von Statistik und Polizey deutlich wird (vgl. STB, 455).]

Poulantzas wiederum führt aus, dass der Staat »nicht nur die Wahrheit seiner Macht [erklärt], sondern […] auch die Mittel der Ausarbeitung und Formulierung [liefert]« (ST, 62). Er nennt in diesem Zusammenhang die bürgerliche Statistik und die staatlichen statistischen Institute. Das von diesen produzierte Wissen hat jedoch wenig mit dem bereits thematisierten strategischen Wissen gemein – vielmehr kann es als abstraktes Wissen bezeichnet werden. Dieses bezieht sich einerseits auf eine bereits existierende soziale Realität (modernes Eigentum, Wertgrößen in Form ausgepreister Waren etc.), konstituiert jedoch zugleich eine neue Realität: »Kataster, Konskription und Landaufnahme produzieren damit Staat, machen Gesellschaft regierbar. Sie können als ›Maschinen‹ betrachtet werden, denen die Aufgabe zukommt, das aus der Regierungsperspektive Chaotische, Verworrene, Unübersichtliche mittels des Einsatzes bestimmter Techniken zu ordnen, kalkulierbar und produktiv zu machen; Volk soll zu Bevölkerung, Natur in Landschaft, Güter sollen in Werte transformiert werden.« (Tantner 2002: 149; Herv. I.S.; vgl. Bourdieu 1994: 106f.) [2. Vgl. Gottschalk (2004), Porter (1986), John (1884) und Desrosières (1993).] Dieses Datenmaterial ist nicht einfach das Produkt präexistenter ›Tatsachen‹, sondern stellt selbst eine spezifische soziale Konstruktion (Poovey 1998) dar – eine Konstruktion statistischer Kategorien wie ›Geschlecht‹, ›Nation‹, ›Familie‹, ›Geburtenrate‹, ›Beruf‹ und ›Einkommen‹ unter Abstraktion ihrer jeweils sozialen Dimension. [3. Im Gegensatz zum Geld kann hier allerdings nicht von einer ›Realabstraktion‹ gesprochen werden (vgl. Heinrich 1999: 209 Fn. 24), da hier keine ›reale‹ und zugleich unbewusste Abstraktion im Zuge einer verallgemeinerten gesellschaftlichen Praxis vorliegt.] Dieses Wissen über ›Land und Leute‹ entstand parallel zur Entstehung moderner Staatlichkeit: Mit der Durchsetzung des modernen Eigentums und eindeutig identifizierbaren Rechtspersonen (Groebner 2002; Tantner 2002); der Entstehung des Steuerstaats, der einer kalkulierbaren Datenbasis über Steuerzahler und Vermögenswerte bedurfte; der ›Bio-Politik‹ [4. Vgl. Lindner in diesem Band.] und der für sie notwendigen Kenntnis über Familienstand, Geburtenrate etc.; einem stehenden Heer und dem notwendigen Wissen darüber, wie viele gesunde Männer in wehrfähigem Alter der eigenen Nation auf dem Staatsterritorium lebten; einer aktiven Wirtschaftspolitik, die über die Produktionsstruktur und -kapazitäten nicht allein für die Kriegsvorbereitung Auskunft haben musste.

Poulantzas begreift das abstrakte Wissen nur als historisches Faktum und thematisiert es – wahrscheinlich im Anschluss an seine Weberrezeption – lediglich als Funktionsweise staatlicher Bürokratie (Weber 1921: 551ff.). [5. Hier schneidet Poulantzas die Funktionsweise der bürokratischen Verwaltung und Zirkulation von Wissen an, ohne weiter darauf einzugehen. Nach Max Weber handelt es sich dabei um »Dienst-wissen« (1921: 129).] Ebenso das »Geheimnis der Bürokratie und der Macht« (ST, 62). Die arcana imperii sind jedoch historisch darin begründet, dass sie als Mittel der Produktion von abstraktem Wissens fungierten, das wiederum zur Entwicklung der Potenzen der staatlichen Macht diente. Dieses Wissen musste ›Staatsgeheimnis‹ sein, schließlich durften z.B. die potenziellen Kriegsgegner nichts von der Kriegsfähigkeit eines Landes wissen (STB, 398, 455).

Zentrales Moment des abstrakten Wissens ist die Vereinheitlichung (vgl. Weber 1921: 129f.). Da Verwaltungen auf Standardisierungen beruhen, stellte sich die Heterogenität von Werkzeugsbezeichnungen und Flächen [6. In Preußen galten selbst im 18. Jh bspw. noch über 20 unterschiedliche Definitionen des Längenmaßes ›Fuß‹ (Spittler 1980: 585).] – und Gewichtsmaßen ebenso wie die Existenz einer Vielzahl von Dialekten als Problem für den Staat heraus. [7. Poulantzas widmet sich den standardisierenden Effekten des abstrakten Wissens nur in der Form der Nationalsprache. Diese stelle kein Nebenprodukt staatlicher Herrschaft, sondern ein »wesentliches materielles Merkmal« (ST, 87) der Existenz der spezifischen Trennung von manueller und geistiger Arbeit dar. Poulantzas fokussiert wahrscheinlich deshalb auf die Sprachproblematik, weil die ›Nation‹ zentraler Gegenstand der weiteren Darstellung in der ST wird, und die Vereinheitlichung der Sprache gerade für die Herausbildung der französischen Nation von zentraler Bedeutung war (vgl. Bourdieu 1994: 95).] Das somit eingeführte Wissensfeld stellt folglich einen abstrakten Maßstab sozialer Verhältnisse und ökonomischer Potenz dar. Es konstituiert allerdings nicht nur die Grundlage für wirtschaftpolitische Entscheidungen. Die kapitalistische Gesellschaft und die sie konstituierenden sozialen Verhältnisse erscheinen mit dem abstrakten, auf Zahlen und Ziffern reduzierten Wissen als kontrollierbar und regierbar (vgl. Miller/Rose 1990).«

Literatur:

– Bourdieu, Pierre (1994): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M 1998
– Desrosières, Alain (1993): The Politics of Large Numbers. A History of Statistical Reasoning, Cambridge 1998
– Gottschalk, Karin (2004): Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert, in: Collin, Peter/ Horstmann, Thomas (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden, 149- 174.
– Groebner, Valentin (2002): Das Wissen von der Bezeichnung der Körper: ›complexio‹ und die Kategorien der Personenbeschreibung zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert, in: Landwehr, Achim (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wisses, Augsburg, 173-188.
– Heinrich, Michael (1999): Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 2. A, Münster
– John, Vinzenz (1884): Geschichte der Statistik. Ein Quellenmässiges Handbuch für den akademischen Gebrauch wie für den Selbstunterricht (Erster Teil. Von dem Ursprung der Statistik bis auf Quetelet (1835)), Stuttgart
– Miller, Peter/ Rose, Nikolas (1990): Das ökonomische Leben regieren, in: Schwarz, Richard (Hg.): Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994, 55-108.
– Poovey, Mary (1998): A History of the Modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society, Chicago-London
– Porter, Theodore M. (1986): Rise of statistical thinking. 1820-1900, Princeton/NJ
– Spittler, Gerd (1980): Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32.Jg., H.3, 574-604.
– Tantner, Anton (2002): Vermischung vermeiden. Seelenkonskription, Hausnummerierung und Vermischung um 1770, in: Landwehr, Achim (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wisses, Augsburg, 147-172.
– Weber, Max (1921): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (5., revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe), Tübingen, 1980

Anmerkungen: