Verfassung als Kampfinstrument der »politisch-moralischen Ausbürgerung«

Der Thüringer Fraktionschef Bodo Ramelow (DIE LINKE) ist bis vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen, um eine Grundsatzentscheidung darüber abzuholen,

»inwieweit die Erhebung personenbezogener Daten über ein Mitglied des Deutschen Bundestages oder eines Landtages aus allgemein zugänglichen Quellen ohne Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln … durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zulässig ist, falls der betreffende Abgeordnete Mitglied und Spitzenfunktionär einer Partei ist, hinsichtlich derer tatsächliche Anhaltspunkte … für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen … vorliegen.«

Und das Bundesverwaltungsgericht hat heute entschieden, dass der Verfassungsschutz Dossiers aus allgemein zugänglichen Daten anlegen darf, eine »offene Beobachtung« zulässig. Das gilt nicht nur für Ramelow, sondern für alle Funktionäre der Linkspartei.

Dem Fass den Boden schlägt der Anwalt des Verfassungssutzes aus, der wähernd der Verhandlung erklärte, dass doch die Bundespräsidentenwahl gezeigt habe, also die Ablehnung von Joachim Gauk, dass die Linkspartei beobachtet werden müsse. Hallo?!

Inzwischen widerspricht derartigen bodenlosen Ausfällen niemand mehr so richtig. Auf die Kommentare in der morgigen Tagespresse kann man gespannt sein (Ausnahmen bestätigen die Regel). Da wirken ein paar Texte aus den 1970er manchmal wie Rohrputzer für Hirn und politsichen Sachverstand. So ein kleiner Auszug [1. Brüggemann, Heinz (1978): Strategien der inneren Kolonisation, in: Gottschalch, Wilfried/ Preuß, Ulrich K., et al. (Hg.): Über den Mangel an politischer Kultur in Deutschland, Berlin, 50-66, hier: S. 59] aus dem netten Bändchen »Über den Mangel an politischer Kultur in Deutschland« aus dem Jahre 1978. Dort heißt es:

»Nach dem klassischen Legalitätssystem des liberal-repräsentativen Staates sind Emotionen, Gedanken und Wertvorstellungen Privatangelegenheiten privater Subjekte, ›und das, was ihren gesellschaftlichen Zusammenhang konstituierte und zusammenhielt, war die formelle öffentliche Gewalt‹ (U.K. Preuß, Legalität-Loyalität-Legitimität, in: Leviathan 4/77, S. 463). Wird aber – und das ist in der Bundesrepublik geschehen – eine vom Legalitätssystem abgekoppelte inhalts- und wertorientierte Sphäre der Legitimität etabliert, dann ist die Verfassung nicht mehr in erster Linie das Organisationsprinzip aller staatlicher Gewalt, durch das der Bürger vor dieser Gewalt geschützt wird, sondern der Staat macht sich zum Träger einer Wertidee, er verwirklicht gegenüber dem Bürger die Verfassungswerte – und das heißt: Kriterium der Legalität ist nicht mehr die Übereinstimmung von bestimmten Handlungsweisen mit den Gesetzen, sondern die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von politischen Zielsetzungen, Einstellungen, Emotionen und Gedanken mit dieser Wertidee, als deren legitime Verkörperung der Staat, die staatlichen Machtorgane sich darstellen.«

In Ulrich Preuß‘ Aufsatz [2. Preuß ist inzwischen Professor an der Hertie School of Governance], den Heinz Brüggemann zitiert, heißt es weiter:

»Eine Ordnung, die ihre eignen sozialen Voraussetzungen und ihre politische Funktionsweise in Gestalt einer ›Verfassungstreue‹ tabuiert und der Veränderung entzieht, bildet sich zu einer Zwangs-Wert-Ordnung zurück. … Es entbehrt daher nicht einer gewissem Logik, dass das in Art. 20 Abs. 4 GG konstitutionalisierte Widerstandsrecht nicht als ein Recht des Volkes gegen eine illigitim gewordenen Regierung, sondern als ein Recht jedermanns gegen ›Illoyale‹ ausgestattet worden ist. Ein Wert-Zwangsverband findet seine Identität nicht zuletzt in dem Kampf gegen Dissidenten. Die weitere Entwicklung ist vorgezeichnet: die öffentliche Gewalt als Organ der zwangsweise kollektivierten Wertüberzeugungen der Bürger wird auch deren übriggebliebene Rechte zwangsweise kollektivieren und treuhänderisch im Namen der gemeinsamen Werte verwalten, um endlich zu einer vollkommenen Kongruenz von objektiver Wertordnung und subjektivem Wertbewusstsein zu gelangen« (Preuß, ebenda, 456)

Damit wird, so Preuß, die Verfassung zu einem Kampfinstrument der »politisch-moralischen Ausbürgerung« (ebenda) [3. Im Gegensatz zum zitierten Aufsatz aus dem Leviathan ist Preuß’ wichtige Aufsatzsammlung Legalität und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland von 1973 online zu haben]

Die politischen Verfahren gegen Linke in den letzten Jahren haben gezeigt, was das konkret bedeutet. Und da hilft es auch nicht weiter, wenn taz-Autor Christian Rath meint, dass der Rechtsstaat noch funktioniert. Nein, es liegt einiges im Argen.

Nachtrag (22.7.): Ein Überblick über die Zeitungskommentare zeigt die doch recht kritische Ressonanz – wenn auch nicht in dem von mir angestimmten Ton.

Siehe auch:

Bundesgerichtshof: Überwachung war von Beginn an illegal
Verfassungsschutzbericht 2010: Zur ›freien‹ Deutungshoheit der Verfassungsschutzämter

Anmerkungen: