Vom Gehege der Verfassung zur kommissarischen Diktatur?

Langsam könnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Demokratische und liberale Verhältnisse waren den Deutschen ja noch nie ein inneres Bedürfnis. Besonders dann nicht, wenn ökonomische Verhältnisse derart erschüttert werden, dass das kleinkarierte Weltbild aus den Fugen gerät und der autoritäre Charakter zu Ruhe und Ordnung gerufen wird. Da orientiert sich die Mittelschicht schon mal gerne an »oben«, grenzt sich nach unten (oder einem imaginären Außen) ab und bleibt vor allem eines: gefügig und sozial friedlich (vgl. Pathologische Kampflosigkeit).

Zählen wir doch mal zusammen:

  • Die gerade erschienene DIW-Studie unterstreicht eine weitere soziale Polarisierung, die vor allem dazu führen könnte, dass sich die Abstiegsangst rassistisch oder sozialchauvinistisch äußert. Die Umfrageergebnisse nach der Hetze von Guido Wetserwelle hatten diese Tendenz bereits angedeutet. (vgl. Christina Kaindl in ak 548)
  • Die soziale Polarisierung wird von einer politischen und kulturellen Elite begleitet, die immer abfälliger einen sozialdarwinistischen Ton anschlägt (Sarrazin, Heinsohn, Sloterdijk). (vgl. u.a. Bühl in ak 544, Albrecht von Lucke in den Blättern 12/2009, sowie hier)
  • Die internationale Kritik (der USA und von Frankreich) an der deutschen Sparpolitik hat eine Kehrseite: Deutschland will sich mit diesem Sparkurs auf Kosten anderer Länder durch die Krise manövrieren. Der Export soll Deutschland retten, also das Ausland für den Aufschwung zahlen (siehe Dani Rodrik). Wo wir wieder beim ersten Punkt wären – Niedriglöhne und Sparpaket. Aber zudem deutet sich hier eine Tendenz an, die an 1929ff. erinnert: Handelskrieg.

Und dann so was: »Deutschlands führende außenpolitische Zeitschrift« (so bezeichnet sie sich selbst) Internationale Politik (IP) macht ein Heftschwerpunkt zum falschen Glanz der Diktatur. Besonders Aufschlussreich ist der einleitende Aufsatz von Herfried Münkler, einem gefragten Politikberater und zugleich Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. german-foreign-policy hat den Aufsatz recht gut zusammengefasst und ist zurecht stutzig bei Münklers Aussage, dass »wenn heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede ist, dann zumeist im Sinne dessen, was [Carl] Schmitt als kommissarische Diktatur bezeichnet hat«.

Wo, fragt man sich, wird denn das Bedürfnis nach ‘Diktatur light’ artikuliert, und von wem? german-foreign-policy konstatieren, dass dies wohl eine »abseits jeder demokratischen Öffentlichkeit geführte Diskussion« sein muss. Dem Deutschlandradio war Münklers Ausführungen keine weitere Anmerkung wert. Kein Wunder, schließlich bezieht er sich auch auf Colin Crouch, mit dem auch so mancheR LinkeR in der Analyse d’accord geht und Münkler bekennt sich natürlich eindeutig zu Demokratie und Rechtsstaat. Das Erschreckende ist aber, dass Münkler den »Leerlauf der Demokratie« nicht aus einer herrschaftskritischen Perspektive durchleuchtet, sondern im Gegenteil nach Sinn und Unsinn diktatorischer Maßnahmen fragt.

Das ist vor allem deshalb erschreckend, weil man den AutorInnen von german-foreign-policy widersprechen muss. Das Bedürfnis wird nicht abseits einer demokratischen Öffentlichkeit formuliert, wenn es sich auch nicht als eines nach einer kommissarischen Diktatur artikuliert. Münklers Referenz ist Carl Schmitt. So wie bei Otto Depenheuer, einem Staatsrechtler aus Köln, den der jetzige Finanzminister (und ehemalige Innenminister) Wolfgang Schäuble als Nachtlektüre empfiehlt (Selbstbehauptung des Rechtsstaates). (taz, 6.10.10) Wohl deshalb, weil man mit ein paar Seiten Ausnahmezustand gut schlafen kann. Wie aber u.a. David Salomon (Prokla 152, 2008) oder Marcus Hawel (Kritische Justiz 1/2009) gezeigt haben, ist Depenheuer genau einer derjenigen, die mit einem Ausnahmezustand die Demokratie retten wollen – zuungunsten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und selbst Schäuble unterstreicht:

»Die Verfassung ist immer weniger das Gehege, in dem sich demokratisch legitimierte Politik entfalten kann, sondern immer stärker die Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahmlegt« (FAZ, 13.9.1996, S.12)

Ja, da muss man erst einmal schlucken.

So abseitig von einer demokratischen Öffentlichkeit findet die Debatte also nicht statt. Das Bedürfnis nach ein bisschen mehr Ausnahme und ein wenig härterer Hand zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die politische Klasse und die ach so kritischen Medien bspw. auf die Explosion eines Sprengsatzes auf der Protestdemo gegen die Sozialkürzungen in Berlin reagieren. (taz, 17.10.07 & Kommentar, hier die Chronologie und Kommentar bei lafontaines linke)

Damit keine Missverständnisse entstehen: Nein, der Faschismus steht nicht vor der Türe und auch die früher gern verwendete Vokabel Faschisierung trifft es nicht so recht. Aber: Die Linke muss in Zukunft mehr Gehirnschmalz darauf verwenden, zu verstehen, wie sich die ökonomische Krise in eine politische Krise übersetzt und welche Optionen sich gegenwärtig für die politische Klasse herausbilden.

Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsrechte und Demokratie sind derzeit nicht von links oder rechts gefährdet, sondern von der Mitte der Gesellschaft.

Für weitere Überlegungen könnten die Ausführungen von Nicos Poulantzas hilfreich sein. Mit seiner Unterscheidung zwischen ökonomischer Krise, politischere Krise und Staatskrise sowie dem Begriff des autoritären Etatismus (vgl. Kannankulam 2007) haben wir durchaus etwas an der Hand, um die politische Verlaufsform und die Gefahren einer zunehmenden autoritären Zurichtung von Staat und Gesellschaft zu verstehen. Und das scheint bitter nötig zu sein.

Foto: CC-Lizenz, frozenchipmunk