Großer Gipfel, kleine Wirkung. Interessenkonflikte prägten den G20-Gipfel in Pittsburgh

Am 24. und 25. September trafen sich zum dritten Mal innerhalb eines Jahres die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Nachdem die G8 nicht mehr der politische Rahmen war, die weltweite Wirtschaftskrise, deren Folgen sowie die Herausforderungen des Klimawandels zu verhandeln, schwingt sich die G20 scheinbar selbst zur legitimen G8-Nachfolgerin auf. Zu wichtig sind inzwischen u.a. die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China). An ihrem ökonomischen Gewicht kam die G8 politisch nicht mehr vorbei.

Auch der Protest in Pittsburgh blieb symbolisch
Auch der Protest in Pittsburgh blieb symbolisch

Auch wenn es nicht zum großen Krach kam, so hatte der Gipfel in Pittsburgh doch einen Hauch von Seattle: allerdings nicht auf der Straße, sondern – wie 1999 – bei den Verhandlungen. »Wir hatten es diesmal mit einer Wand zu tun«, hieß es aus deutschen Verhandlungskreisen. Die Schwellenländer stellten klare Forderungen: »Entweder ihr macht große Konzessionen bei der Reform der internationalen Organisationen, oder wir lassen den Gipfel platzen.« (spiegel-online, 25.9.09) Am Ende wurde eine kaum nennenswerte Neuverteilung der Stimmrechte beim Internationalen Währungsfonds (IWF) verabredet.

Wenn man die Beschlüsse von Pittsburgh mit den Ergebnissen des G20 im April vergleicht, dann zeigt sich, dass sich substanziell kaum etwas bewegt hat. (vgl. ak 538) Peter Bofinger, einer der sogenannten Wirtschaftsweisen, monierte bereits im Vorfeld des G20-Gipfels: »Der Politik fehlt der Mut zu radikalen Reformen.« (Die Welt, 22.9.09) Fehlender Mut ist jedoch wahrlich nicht das Problem; es gibt einen ganz einfachen Grund: Mit zwölf weiteren Staaten sind die in der G20 anzutreffenden Interessenkonflikte und Widersprüche mehr und vielfältiger geworden.

Boni oder keine Boni – das ist hier die Frage

Die Staaten der G20 sind nicht gleichermaßen von der Krise und ihren Ursachen betroffen. Das war beim G8 durchaus anders. Sinkende Rohstoffpreise stellen zwar ein Symptom der Krise dar. Für die importierenden Industriestaaten stellen sie kein Problem dar; sie treffen aber die Rohstoffe exportierenden Staaten um so härter. Ähnlich sieht es mit der Krise der Finanzmärkte und des Bankensektors in den jeweiligen Staaten aus. Im Vorfeld des Gipfels stellte z.B. ein indonesischer Vertreter fest, dass in seinem Land von der Krise praktisch nichts zu merken sei, da dort das »Finanzsystem … schlicht und ergreifend zu wenig entwickelt« wäre. (spiegel-online, 25.9.09)

Auch die vereinfachende Rede von einer »globalen Rezession« trifft die Sache nicht. China, Indien, Brasilien, Argentinien, Südafrika, Saudi-Arabien und auch Australien sind nicht in dem Maße von der Krise betroffen wie die Metropolenländer. Und: Sie schlagen sich mit anderen Folgen herum. Weshalb auch nicht von einer globalen Angleichung gesprochen werden kann, wie Karl Heinz Roth meint. (1)

Toxische Papiere und die hierzulande viel diskutierte Kreditklemme stehen in diesen Ländern nicht besonders weit oben auf der Agenda. Von größerer Bedeutung sind die Lebensmittel- und Rohstoffpreise. Vor allem die verteuerten Nahrungsmittel haben in vielen Staaten die Lebensverhältnisse der Menschen verschlechtert – und zum Teil in den letzten Monaten zu Revolten geführt.

»Leider droht die Krise … aus Sicht Europas, zumal Deutschlands, mit Blick auf die lange überfällige Konsolidierung zu einer verpassten Chance zu werden«, bemängelte der Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann in einem Gastkommentar für die Neue Zürcher Zeitung. (NZZ, 23.9.09) In den USA seien im Zuge der Finanzkrise Großbanken entstanden, die zukünftig international eine größere Rolle spielen würden. Auch China hätte im Bankensektor aufgeschlossen, so der Spitzenbanker.

Ackermann sieht sich zu Recht einer stärkeren Bankenkonkurrenz ausgesetzt. Die Bundesregierung hat mit ihrer zögerlichen Verstaatlichungspolitik dafür gesorgt, dass u.a. mit der Hypo Real Estate ein Dauerproblem entstanden ist und der Bankensektor in Deutschland insgesamt schlechter dasteht. Im Gegensatz dazu haben Großbritannien und die USA zügig verstaatlicht und inzwischen zwar weniger, dafür aber weitaus mächtigere Banken, die auf den globalen Finanzmärkten die bestimmende Konkurrenz darstellen. Politisch begegnete Deutschland dem im Vorfeld des G20-Gipfels mit der Forderung, dass keine Bank mehr so groß sein dürfe, dass sie Regierungen erpressen könne.

In Pittsburgh spiegelten sich nicht nur die unterschiedlichen staatlichen Interessen wider. In dem, was verhandelt wurde, kam auch das unterschiedliche Verständnis über die (angeblichen) Ursachen der Krise zum Ausdruck – z.B. in der Frage der Boni für Spitzenbanker. Bereits Anfang September hatten die FinanzministerInnen der G20 in London entsprechende Richtlinien, nicht aber eine Höchstgrenze für Boni festgelegt. Frankreich und Deutschland konnten sich nicht gegen die USA und Großbritannien durchsetzen.
Kapitalismus außer Rand und Band

Auf Grundlage dieser Richtlinien erarbeitet das Financial Stability Board (FSB) konkrete Vorschläge, die in Pittsburgh angenommen wurden. Die beschlossenen Punkte müssen nun in nationales Recht gegossen werden. Inwieweit dies gelingt, ist offen, denn kein Staat will für sich selbst Wettbewerbsnachteile beschließen. Der Chef des IWF, Dominique Strauss-Kahn, hatte bereits nach dem letzten Gipfel seine Bedenken geäußert: »Ich warte noch immer auf den Beschluss von harten Maßnahmen und eine Umsetzung auf nationaler Ebene.« (Frankfurter Rundschau, 6.6.09) Das Beispiel zeigt, wie weit die G20 davon entfernt sind, eine »ökonomische Weltregierung« zu sein. Weder haben sie Sanktionsgewalt, noch stehen sie quasi als Instanz über den Staaten, sondern setzen sich nur aus diesen zusammen.

In Zukunft sollen die Banken nun die Vergütung stärker an der langfristigen Geschäftsentwicklung ausrichten. Das soll kurzfristige Spekulationen verhindern. Zukünftig soll ein wesentlicher Teil des Gehalts – bei Führungskräften zwischen 40% und 60%, im Topmanagement sogar über 60% – leistungsabhängig ausgezahlt werden, die Hälfte davon in Form von Aktien oder ähnlichen Papieren. Die Idee dahinter: Das Gehalt ist von der Wertentwicklung des jeweiligen Unternehmens abhängig. Dass der Börsenwert jedoch selbst hoch spekulativ ist und größeren Schwankungen unterliegt, bleibt unberücksichtigt. Goldman Sachs orientiert sich bereits jetzt an diesem Modell – im Gegensatz zu konkurrierenden Banken. Doch trotz der Orientierung an der langfristigen Geschäftsentwicklung hat die US-Bank im ersten Halbjahr einen Rekordbetrag von 11,4 Mrd. US-Dollar für Boni zurückgestellt. (NZZ, 27.9.09)

Deutschland und Frankreich, die schärfere Regelungen durchsetzen wollten, ließen sich mit der Ankündigung abspeisen, dass der IWF bis zum nächsten G20 im Juni 2010 die Möglichkeiten einer Finanzmarktsteuer prüfen solle. Die USA stimmen dem wohl auch deshalb zu, weil selbst die EU keine einheitliche Position in dieser Frage hat. Es ist also ungewiss, ob daraus etwas wird. Gleichwohl beziehen sich VertreterInnen von einigen NGOs positiv auf diese Entwicklung. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sie mit einem derartigen Projekt eingebunden werden, ihre oppositionelle Position gegenüber den globalen Institutionen und Herrschaftsstrukturen aufgeben und lieber das Kleingedruckte mitdiskutieren.

Ein weiteres zentrales Thema in Pittsburgh war die Neuregelung der Eigenkapitalquoten. Ähnlich wie bei den Boni gehen die ProtagonistInnen dieses Vorschlags davon aus, dass eine »falsche Anreizstruktur« Ursache der Krise sei. Eine zu geringe Eigenkapitaldeckung hätte dazu geführt, dass nicht eigenes, sondern geliehenes, d.h. fremdes Kapital auf dem Spiel stünde, weshalb die Banken zu große Risiken eingegangen seien. Eine gesetzliche Verpflichtung für eine höhere Eigenkapitalquote würde dem entgegenwirken, da dann eigenes Kapital »riskiert« werden müsste.

Dass hinter diesem Streit auch Interessenkonflikte stehen, zeigt das Beispiel der sogenannten Rechnungslegungsstandards: Aufgrund unterschiedlicher Bilanzierungsregeln in Europa und den USA hat nach einer Studie der Citigroup z.B. die Deutsche Bank ein hartes Kernkapital von etwa 1,2% der Bilanzsumme. Nach US-Regeln betrüge die Kapitalquote jedoch 3% – mehr als das Doppelte. Es ist also kein Wunder, die USA für eine breitere Kapitaldecke eintreten, während Kontinentaleuropa auf andere Neuregelungen drängt.

Auch Lobbygruppen melden sich in dieser Frage zu Wort. Einzelne Großbanken und der Deutsche Bankenverband hatte schon immer Vorfeld des Gipfels davor gewarnt, dass zu schnell eingeführt Regeln die Krise nur verschärfen würden. (spiegel-online, 25.9.09) Eine Neuregelung würde die Kreditvergabe beeinflussen und könnte die viel diskutierte Kreditklemme weiter verschärfen.

Der verstärkende Effekt des Kredits für die immer krisenhafte Kapitalakkumulation wird erst gar nicht diskutiert. Laufen die Geschäfte gut, sprudeln die Gewinne, ist das Kapital auch bereit, etwas zu riskieren. Banken vergeben vor diesem Hintergrund auch unkompliziert Kredite; steht es hingegen schlecht um die Profitabilität des Kapitals, sind die Konjunkturprognosen alles andere als rosig, so sind auch Banken nicht bereit, bitter nötige Kredite zu gewähren. Banken handeln in einem solchen Fall eben nicht wie ein besorgter Vater, sondern so, wie es sich für ein kapitalistisches Unternehmen gehört: Die Entscheidungen sind vom zu erwartenden Profit und dem damit verbundenen Risiko abhängig. Was sich also im Aufschwung zum Boom verstärken kann, verstärkt sich in der darauf folgenden Krise zum Negativen.

Regulierungsvorhaben unter Interessenkonflikten

Bezeichnend, über was in Pittsburgh nicht gesprochen wurde. So spielte das internationale Währungssystem keine Rolle, obwohl es zur Krisenhaftigkeit des globalen Kapitalismus wesentlich beiträgt. China drängt seit einiger Zeit auf eine Reform des Weltfinanzsystems. »Genaugenommen sind die Gründe der Krise verknüpft mit dem mangelhaften internationalen Währungssystem, das vom US-Dollar dominiert wird«, so Hu Xiaolian, die stellvertretende Gouverneurin der chinesischen Zentralbank, in einer von der indischen und englischen Zentralbank herausgegebenen Aufsatzsammlung mit dem Titel »Gründe der Krise«.

Zwar wurden die globalen Ungleichgewichte in der Abschlusserklärung erwähnt, jedoch ohne jeglichen Bezug zur Frage der Neuordnung des Währungssystems, ganz so, als würden globaler Handel und Kapitalbewegungen nicht in US-Dollar abgewickelt. Es dominiert nach wie vor die neoklassische Vorstellung, dass Währungen gleichberechtigt sind und der Wechselkurs ökonomische Veränderungen adäquat wiedergeben würde. Das Gegenteil ist der Fall.

Die besondere Rolle des US-Dollars ist einer der wichtigsten Gründe dafür, warum die USA billige Produkte aus China und teure Autos und hochwertige Maschinen aus Deutschland importieren können. Gleichzeitig häufen diese Länder entweder die höchsten Devisenreserven der Welt an (der Börsenwert von BASF und Daimler zusammen betragen etwa fünf Prozent der gesamten chinesischen Devisenreserven) oder kaufen die in den USA verpackten Ramschpapiere als rentierliche Investitionen auf. Doch für das Schweigen gibt es Gründe: Sowohl Deutschland als auch China sind nach wie vor auf den Export ausgerichtet. Solange ihre Binnenmärkte eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie von ausländischer Nachfrage abhängig. Spiegelbildlich verhält es sich mit den USA: Sie brauchen Finanziers ihrer enorm angestiegenen Schulden.

Der Pittsburgher Gipfel zeigt die Ambivalenz, die tief greifende Umbruchphasen mit sich bringen. Viele Staaten wurden aufgrund der Krise zu staatlichen Eingriffen gezwungen. Die Grenze der Deregulierung wurde offensichtlich. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hätte. Ein zentraler Punkt des Abschlussdokuments des G20-Treffens in Pittsburgh betrifft zu Handelsliberalisierungen. Die entsprechenden Verhandlungen in der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) sollen möglichst bald abgeschlossen werden. Die Absage an Protektionismus mutete hingegen skurril an, wenn zeitgleich ein Streit über Einfuhrbeschränkungen von chinesischen Autoreifen in die USA die WTO beschäftigt.

Diese Auseinandersetzung ist symptomatisch für die zukünftigen Debatten innerhalb der G20. Trotz des allseitigen Einverständnisses, dass globale Probleme nur gemeinsam bearbeitet werden können, durchzieht die Runde große Interessenkonflikte. Und das nicht nur in puncto Freihandel: Beim Klimaschutz wurde lediglich das Vorhaben formuliert, Subventionen für fossile Energieträger »mittelfristig« auslaufen zu lassen – eine Frist wurde allerdings nicht genannt.

Ingo Stützle

Anmerkung:

1) Karl Heinz Roth: Die globale Krise, VSA-Verlag, Hamburg 2009 [siehe hierzu auch meine Besprechung]

Erschinenen in: analyse & kritik. ak – zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 543 vom 16.10.2009

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