Die Kapitallesebewegung: Digitaler-Boheme- Bullshit

Seit dem sichtbaren Ausbruch der Finanzkrise ist Karl Marx ein Medienstar. Auch die taz nimmt sich da nichts und berichtet bereits zum zweiten Mal in Folge über die Kapitallektüre-Bewegung. So richtig trauen will die ehemals linke Tageszeitung der Sache nicht: Da werden Stimmen zitiert, die die Auflagensteigerung des Kapitals als Propaganda-Aktion des Dietz-Verlags interpretieren, ein Tag später kommentiert taz-Starautor Helmut Höge die Kapitallesebewegung und kommt zu dem Schluss, “dass der bundesweite “Marx-Marathon” an den Unis bloß ein Digitaler-Bohème-Bullshit ist, bei dem die Afterstudy-Partys vermutlich das Eigentliche sind.”

Wie immer schreibt Edelfeder Höge mit Wortwitz und -biss und damit trifft er durchaus kritische Punkte der Kapitallesebewegung. Beispielsweise schreibt Höge, dass die Kapitallektüre angewiesen sei auf “eher klammheimliche, aber auch gemütliche Selbstorganisation”, und weniger auf zentralisierte, durchgeplante Gross-Organisation mit Schulungscharakter. Aber würde er mehr mit den Leuten sprechen, die den ganzen Kladderadatsch organisieren, würde er erfahren, dass es gerade deren Hoffnung ist, dass sich die Kurse nach der ersten Initialzündung irgendwie selbst weiter organisieren und es auf diese Weise dann auch über den ersten Band hinaus schaffen.

Das ist wiederum etwas, was Autor Höge selbst offensichtlich nicht geschafft hat. Leider, muss man sagen, denn es schmälert seine sonst recht hübsche Glosse. Nach Höge besteht das Marx’sche Hauptwerk “im Wesentlichen aus der Warenanalyse – und die ist seit der Durchsetzung des Geldes als Ware, also seit etwa 500 vor Christi in Ionien, aktuell. Sie wird es auch wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bleiben.” Marx hätte sich mit großem Vergnügen auf diese Sätze gestürzt. Die “Durchsetzung des Geldes als Ware seit 500 vor Christi in Ionien” hätte er genüsslich zur Illustration der bürgerlichen Ökonomie genutzt, die in allen auch historisch weit zurückliegenden Gesellschaftsformen die bürgerlichen Formen am Werke sieht. Dass das Platzen der US-Finanzblase mit der Warenanalyse kaum zu begreifen ist, dem würde Marx wohl zustimmen. Die Analyse der von Finanzinstituten kreierten und verkauften Produkte hatte Marx auch erst im Dritten Band behandelt und zwar mit der Kategorie des “Fiktiven Kapitals”. Schön wärs, würde Helmut Höge eine kleine, gemütliche, selbstorganisierte Lesegruppe initiieren, dann wäre die nächste Glosse zum Thema sicher noch lustiger.

Sabine Nuss und Ingo Stützle