Vage Gefühle – spontane Kritik. Vor dem attac-Kongreß: Typische Ein-Punkt-Bewegung hängt einem Kapitalismusbegriff an, der radikaler Kritik und emanzipatorischer Politik entgegensteht

 

Von Ingo Stützle

Der Begriff »Kapitalismus« wurde in der Bundesrepublik noch nie gerne gehört. Um so mehr fällt auf, daß er inzwischen vom Kapital auf offiziellen Happenings positiv besetzt wird. Das drückt die Hegemonie der kapitalistischen Ideologie nach dem scheinbaren Endsieg des Kapitalismus aus. Auch wenn das Kapitalverhältnis natürlicher erscheint denn je, sind in den letzten Jahren die Widersprüche auf der Welt offensichtlicher geworden. Hervorstechende Entwicklungen sind die Herausbildung eines globalen Finanzmarktes und die damit einhergehenden Veränderungen im Zuge von Deregulierung und Liberalisierung von Kapitalbewegungen. Auf diese hat es die Gruppe ATTAC (»Association pour une Taxation des Transactions financières pour l’Aide aux Citoyens«, zu deutsch »Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der BürgerInnen«) abgesehen.

Auch wenn die Tobin-Steuer nicht die einzige Forderung der ATTAC-Aktivisten ist, ist die »fünfte Gewalt«, wie sie die Finanzmärkte nennen, doch der Dreh- und Angelpunkt ihrer Theorie und Praxis. ATTAC ist eine typische Ein-Punkt-Bewegung. In den Finanzmärkten bzw. in deren Repräsentanten wird die Macht gesehen, die Politik im allgemeinen und nationalstaatliche Politik im besonderen in die Mangel nimmt und zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt. Sie machten die neue Qualität des Kapitalismus aus. Gleichzeitig wird in den Finanzmärkten das Moment des Kapitalismus gesehen, das im Alltagsverstand der Menschen am meisten präsent ist. Darauf bauen die Kampagnen. Jede und jeder, so die These, fühlt sich von den allgegenwärtigen Finanzmärkten betroffen und läßt sich über diese leicht mobilisieren.

Kapitalismus und Krise
Durch den ständigen Verweis auf die erhöhte Krisenhaftigkeit durch den »neuen« spekulativen Kapitalismus und die damit verbundenen Rückkopplungseffekte ist der Krisenbegriff ebenso zentral wie der implizit zugrundeliegende Kapitalismusbegriff. Peter Wahl, der eher dem linken Spektrum bei ATTAC zuzuordnen ist, lehnt in einer Auseinandersetzung mit dem BUKO (Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) die Notwendigkeit eines »elaborierten Krisen- und Kapitalismusbegriffs« für ATTAC ab. »Vage Gefühle«, »spontane Kritik« und »emotionale Empörung« seien ausreichend. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, denn selbst wenn man dem zustimmen würde, liegen implizit bestimmte Vorstellung von Krise und Kapitalismus zugrunde. Das wird bei ATTAC Deutschland offensichtlich, wo der Bremer Ökonomieprofessor Jörg Huffschmidt Gründungsmitglied ist und als theoretischer Kopf und Stichwortgeber fungiert. In einem von ATTAC vertriebenen Faltblatt schreibt Huffschmidt, daß das »wesentliche Problem moderner kapitalistischer Systeme« in der »ständigen Produktion eines Kapitalüberschusses« liegt, »der wegen unzureichender Binnennachfrage nicht mehr rentabel investiert werden kann«. Das ist nach meinem Verständnis klassische Unterkonsumtionstheorie, die aufgrund der Anarchie des Marktes eine ständige Disproportion zwischen Produktion und Konsumtion für die Übel im Kapitalismus verantwortlich macht. Ihr liegt die These zugrunde, daß nur Konsumgüter nachgefragt werden könnten. Die Nachfrage nach Produktionsmitteln wird nur als »Input« für die Produktion von Konsumgüter wahrgenommen. Aber die Nachfrage nach Produktionsmitteln, die wiederum Produktionsmittel produzieren, ist für die kapitalistische Produktionsweise konstitutiv, da sie auf dem ständigen Zwang zu Produktivkraftentwicklung, also der Einführung neuer Produktionstechniken und -technologien beruht. Produktive Investitionen unterliegen wiederum dem kapitalistischen Verwertungszwang. Damit sind wir bei der Frage nach der Dynamik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und dem Verhältnis von Produktivkapital und Geldkapital. Produktion im Kapitalismus ist immer Spekulation auf eine möglichst gute Profitrate. Auch bei der Investition in produktives Kapital bleibt unklar, ob es sich nach den Erwartungen verwertet. Das wußte selbst der keinen kommunistischen Umtrieben verdächtige Keynes: »We simply do not know«.

In einer Beilage zur taz schreibt Huffschmidt, daß sich die Tobin-Steuer darauf richtet, »die verkehrten Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht die Finanzanleger sollen die Ziele der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik bestimmen, sondern demokratische Wirtschaftspolitik, die sich an den Bedürfnissen der Menschen […] orientiert«. Dann würden die Finanzmärkte auch »eine sinnvolle und wichtige Rolle spielen können«, zum Beispiel zur Finanzierung von Produktion, die natürlich dem »Allgemeinwohl« zugute kommt. Heutige Instrumente seien zu »reinen Wetten geworden«.

Da fragt man sich, wo die Kritik der politischen Ökonomie geblieben ist. Die verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in der scheinbaren Natürlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ausdrücken, sind bei ATTAC nicht mehr umzuwerfen, sondern »vernünftig« und »demokratisch« einzurichten. Das bedeutet, jegliche Form der Ausbeutung und Herrschaft in der kapitalistischen Produktion auszublenden und als gottgegeben hinzunehmen. Daran schließt das Verständnis an, Kapitalismus habe mit »Allgemeinwohl« zu tun und bürgerliche Demokratie sei als solche gar nicht so schlecht, über die Verwendung der Tobin-Steuer könne demokratisch entschieden werden. Verteilung von und Zugang zu gesellschaftlichem Reichtum aber findet nur ex post über den lieben Staat statt, die ihm zugrundeliegenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse werden also hingenommen.

ATTAC suggeriert »eine völlig neue Qualität internationaler Wirtschaft«. Kategorien wie entfesselter Markt oder »Diktatur der Finanzmärkte« liegt ein imaginierter gebändigter Kapitalismus zugrunde. Nicht nur, daß auf jegliche radikale Kritik am Kapitalismus und seinen spezifischen Politikformen (Staat) verzichtet wird; im dunkeln bleibt, warum es überhaupt einen neuen Kapitalismus geben soll. Die suggerierte neue Qualität des Kapitalismus wird immer wieder mit den enormen Summen belegt, die sich täglich über den Erdball bewegen.

Charakteristisch für Finanzmärkte ist aber nicht eine grundlegend andere Funktionsweise von Kapitalismus, sondern es sind zum einen die Eigenschaften der getauschten Waren: Zeit, Erwartung, Risiko, etc. Zum anderen dominiert auf dem Finanzsektor nicht nur die nicht-zeitgleiche Zahlung, sondern es werden sogar Zeit-Kontrakte gehandelt. Des weiteren werden die für den Kapitalismus immer schon strukturellen Determinanten für die Verteilung des Geldkapitals auf die verschiedenen Anlagesphären ausgeblendet. Eine wesentliche Determinante für produktive Investitionen ist die Erwartung höherer Einsparung von variablem Kapital (Arbeitskräften) als Kosten für investiertes konstantes Kapital (Maschinen). Hier verschieben sich die Entscheidungsoptionen, wenn Löhne massiv gedrückt werden.

Das Finanzsystem, das bei ATTAC in den Vordergrund rückt, war schon immer eine strukturelle Determinante im kapitalistischen Reproduktionsprozeß. Die zu erwartende Profitrate mißt sich mit einem gegebenen Zinsfuß. Beide stehen sozusagen in Konkurrenz zueinander. Natürlich ist der Kapitalismus nicht einfach immer derselbe. Das Neue ist u.a., daß die Finanzmärkte im sich globalisierenden Kapitalverhältnis am ehesten einen globalen Markt darstellen. Dies bedeutet, daß Geldkapitalströme und die Durchschnittsprofitrate keinen nationalstaatlichen Rahmen mehr haben. Für die Verwertung von vorgeschossenem Geldkapital werden jetzt globale Standards gesetzt. Mit dieser Entwicklung und den enormen Massen an Kapital sind die Wirkungen und Folgen von Krisen enorm gestiegen, was aber nicht bedeutet, daß ein »normaler« Kapitalismus, den ATTAC ständig suggeriert, eine krisenfreie Veranstaltung ist. Es ist gerade sein wesentliches Kennzeichen, daß sich Akkumulation krisenhaft entwickelt und sich über Krisen immer wieder Dynamik gewaltsam herstellt.

Zusammenfassend scheint mir, ein nicht explizierter Begriff von Kapitalismus feststellbar zu sein, der, weil sich ATTAC einer kollektiven Reflexion systematisch verweigert, einer radikalen Kapitalismuskritik und einer emanzipatorischen Politik entgegensteht.

Strategische Affirmation
Bei ATTAC kommt jedes kritische Verständnis von bürgerlich-parlamentarischer Demokratie abhanden. Politik müsse den globalisierten Märkten »nachwachsen« oder diese müßten wieder auf den Boden der FDGO (Freiheitlich-Demokratische-Grundordnung) geholt werden. Auf der Homepage von ATTAC International findet man sich im Ambiente eines Verschwörungsfilms wieder, bei welchem hinter unendlichen Zahlenreihen der alles lösende Schlüssel gewähnt wird.

Das ATTAC-Logo ist ein mit Weltkugeln versehenes Prozentzeichen. Dem liegt ein technokratisches und voluntaristisches Politikverständnis zugrunde. Damit und mit dem ganzen öffentlichen Auftreten wirkt die Vereinigung nur als die Interessenvertretung der Tobin-Steuer. In öffentlichen Auseinandersetzungen weisen Aktivisten diese Kritik immer zurück. Es sei klar, daß die Steuer nicht so viel bringen würde und es sich eher um ein taktisches Verhältnis handelt. Hier trifft der vom BUKO erhobene Vorwurf, ATTAC verkaufe die Leute, die sie gewinnen wolle, für dumm.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß der ehemalige französische Innenminister Chevènement als stolzes ATTAC-Mitglied öffentlich auftreten kann und der ehemalige deutsche Finanzminister Lafontaine auf dem ATTAC-Kongreß in Berlin sprechen wird. Die Grundlage für eine Zusammenarbeit mit Funktionären, die in der Abschiebung von Flüchtlingen mit Todesfolge und der keynesianischen Wirtschaftspolitik ihre Lebensaufgabe sehen, bleibt ungeklärt. Derweil fördert ATTAC-Mitglied Peter Waldow (WEED) den ganzen ökonomischen Sachverstand zutage, wenn er im Manager Magazin publizieren darf: »Die Reduktion der Überliquidität […] und die Reallokation hin zu längerfristiger Finanzierung [ist] eine hilfreiche Maßnahme zur Stabilisierung der Devisenmärkte.« Es gilt also auch am Alltagsverstand der Managementeliten anzusetzen.

In Auseinandersetzungen um die Strategie von ATTAC wird gerne auf Anschlußfähigkeit und Alltagsverstand verwiesen. Dem strategischen Konzept des Alltagsverstandes liegt die »Philosophie der Praxis« des Marxisten Antonio Gramsci zugrunde. Allerdings geht auch hier wieder einiges daneben. Als Alltagsverstand bezeichnet Gramsci die »Philosophie der Nicht-Philosophen«. Es soll kein »falsches« und »richtiges« Bewußtsein gegeneinander gestellt werden, sondern es wird die Konstellation von organischen Intellektuellen und subalternen Klassen thematisiert, zwischen Philosophie und Altagsverstand. »Nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie ›geschichtlich‹, reinigt sie sich von den intellektualistischen Elementen individueller Art und wird ›Leben‹«. Es ist eine Kritik an einem Kritikverständnis, das »richtige« Kritik einseitig-aufklärerisch an die Massen herantragen will. Diese Form ist gerne in einer massenverachtenden Form bei vielen narzißtischen Kritikern von ATTAC zu finden, die gerne die begriffliche Rekonstruktion der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit verwechseln und meinen, die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, käme deren Umstürzung gleich. Die Philosophie der Praxis ist aber eine »Kritik des ›Alltagsverstands‹«, so Gramsci. Dem aber verweigert sich die ATTAC-Gruppe, indem sie die »objektiven Gedankenformen« (Marx), die die kapitalistische Produktionsweise selbst hervorbringt, affimiert. Da ihre Kapitalismuskritik innerhalb der Kategorien der Verhältnisse verhaftet bleibt, verwehren sie sich selbst die Möglichkeit dessen, was sie selbst einfordern: eine andere Welt.

Mit Kampagnen wie »Stopp Steuerflucht« leisten sie einer Vorstellungen von einem gerechten Kapitalismus und einer personifizierenden Kritik Vorschub. Ebenso wird mit der Kampagne »Weg mit der Riester-Rente!« an einen Alttagsverstand angeschlossen, der den gerechten Lohn langer harter und produktiver Arbeit von bösen raffgierigen Spekulanten in Gefahr gebracht sieht. Auch wenn es unabdingbar ist, an der alltäglichen Lebenserfahrung anzusetzen, gilt es doch, die Grammatik des Alltagsverstandes ernst zu nehmen, um nicht Bewußtseinsformen zu reproduzieren, die mit einer emanzipatorischen Politik nicht zu vereinbaren sind. Weiter kann behauptet werden, daß ATTAC mit ihrer Strategie dem Begriff des Common sense alle Ehre macht, indem sie aus einer hegemonietheoretischen Sicht dazu beiträgt, einen herrschaftlichen Konsens zu organisieren. Die Bestrebungen von internationalen Organisationen und Regierungen, neue Formen der Regulierung oder Organisation zu etablieren, finden in ATTAC ein williges Pendant. So wird aus Sand im Getriebe schnell Schmieröl in der Verwertung.

In einer Entgegnung auf ein Interview mit James Tobin über die Globalisierungsproteste hebt Peter Wahl im Spiegel hervor, daß zurückschreckende Angst vor zu radikalen Forderungen unangebracht sei: »Der Vorwurf, daß ATTAC internationale Institutionen pauschal ablehnen würde, trifft nicht zu. Zunehmend globalisierten Märkten muß ein globaler Ordnungsrahmen entgegengesetzt werden, der die Allmacht der Märkte wieder unter demokratische Kontrolle bringt. WTO, IWF und Weltbank könnten theoretisch hierfür durchaus geeignete Institutionen sein.«

Ein derart verkürztes und naives Verständnis von in Apparate gegossenen Politikformen der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich in der Praxis wider, die dazu führen wird, daß alles gleich, aber nicht besser wird. Mit ATTAC findet eine Form der Institutionalisierung von sozialer Bewegung statt, die vorhandene Radikalität neutralisiert oder eine Radikalisierung erst gar nicht entstehen läßt, da sie als Sammelbecken für »Anti-Globalisierungsbewegung« fungiert, worauf die exorbitant steigenden Mitgliedszahlen schließen lassen.

Was tun?
Die Kritik an ATTAC soll als Aufforderung an uns alle verstanden werden, uns wieder eine radikale Kapitalismus- und Staatskritik anzueignen und hegemoniefähig zu machen – durchaus auch in Diskussionen mit ATTAC. Die Linke muß ihre Defensive und ihr teilweises Versagen auf dem ökonomiekritischen Feld in den letzten 20 Jahre aufarbeiten. In der Theorie wie in der Praxis! Dabei ist aber das wichtig, was der französische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas als Distanz zum Staat bezeichnet hat. Da er den Begriff des Staates in einem sehr weiten Sinn gebraucht, geht es darum, gegen alle Formen der Politik Widerstand zu leisten, die Herrschaft und Ausbeutung in einem komplexen Ensemble von Institutionen, Organisationen und Kräften reproduzieren.

Das bedeutet zum einen, jeder Professionalisierung und Institutionalisierung kritisch zu begegnen. Des weiteren muß es darum gehen, Widerstand und vor allem politische Organisierung wieder in allen Bereichen des Alltags zu verankern und voranzutreiben. In konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnissen muß eine politische Organisierung ansetzen. In der Alltagspraxis findet die Auseinandersetzung um den Alltagsverstand statt, hier werden kollektive Wahrnehmungen und Interpretationen von gesellschaftlicher Wirklichkeit geprägt. Diese ist weder einfach gegeben noch kann sie einfach über aufklärerische Flugblätter und Gegenexpertise verbreitet werden. Daran anschließend müßte es darum gehen, neue Formen der Solidarität zu entwickeln. Die Auswirkungen der Globalisierung auf unsere Lebensverhältnisse sollten thematisiert werden – am Arbeitsplatz, in den Unis, in den Stadtteilen. Rassistische Ausgrenzungen, Leistungszwang, Konkurrenzdruck, Workfare-Maßnahmen, prekäre, neue sowie alte Arbeitsverhältnisse sind da nur einige Stichworte, denen es zu begegnen gilt. Die reale politische Substanz der »Antiglobalisierungsbewegung« besteht in all den Gruppen, Initiativen und Organisationen, die schon seit Jahren lokal verankerte Politik machen. Genau dort gilt es anzusetzen.

Erschienen in: Junge Welt, 18.10.2001