Piraten im Ausnahmezustand. Daniel Heller-Roazen untersucht die Geschichte einer Rechtsfigur

Der Begriff “Ausnahmezustand” hat seit Jahren Konjunktur. Der Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen beschäftigt sich in seiner Studie mit einer dazugehörenden Rechtsfigur, dem Pirat. Die bis in die Antike zurückgehende Untersuchung folgt der historischen Entstehung der Figur “Pirat”, dem politischen und sozialen Wandel und seinem Verschwinden. Dass der Pirat plötzlich wieder auf der politischen Bühne erscheint, ist für Heller-Roazen ein Anzeichen dafür, dass sich die Formen der politischen Konfrontationen verändert haben, und ein Alarmzeichen zugleich. Continue reading “Piraten im Ausnahmezustand. Daniel Heller-Roazen untersucht die Geschichte einer Rechtsfigur”

Mit BP ist die Rente (nicht) sicher. Was die Öl-Katastrophe mit der Krise des Kapitalismus zu tun hat

Vor einigen Tagen hatte ich bereits das Thema BP angeschnitten. Michael R. Krätke hat nun in einem aufschlussreichen Text deutlich gemacht, was alles an BPs Zukunft hängt – u.a. das britische Rentensystem. Bei diesem spielen Pensionsfonds eine Schlüsselrolle und halten eine Unmengen an BP-Aktien. Zirka ein Sechstel aller in Großbritannien ausgezahlten Dividenden gingen bisher auf BP zurück. Mit diesem Geldsegen ist nun wohl Schluss. Dumm gelaufen für diejenigen, die sich auf das Leben nach der Lohnarbeit gefreut haben. [1. Sollte der Staat einspringen, die Renten zu sichern, wird aus dem kapitalgedeckten System de facto ein umlagefinanziertes mit Steuergeldern. Einen Punkt, den Ulrike Herrmann bereits in der taz anhand der Riester-Rente deutlich gemacht hatte.] Gleichzeitig ist der Ölkonzern der größte Steuerzahler. Eine mögliche Pleite oder die Übernahme durch andere Konzerne betrifft demnach unmittelbar die politischen Interessen des Königreichs. Ausgerechnet jetzt hat Großbritannien Stress mit dem großen Bruder USA. Der Umweltkatastrophe und der Krise des Öl-Konzerns BP könnte nun auch noch eine politische Krise folgen. Krätke:

»Fällt BP den US-Giganten in die Hände, ist es vorbei mit Rücksichten auf Pensionsfonds oder sonstige britische Belange. In wenigen Tagen, am 27. Juli, muss BP mit den Zahlen für das zweite Quartal 2010 herausrücken. Sie werden verheerend sein. Der Fall zeigt, wie zwei völlig obsolete Kernelemente des heutigen Kapitalismus – eine fossile Energiewirtschaft und die weltweite Finanzspekulation – uns in die nächste Katastrophe treiben.«

Was Krätke ausspart ist die zunehmende Konkurrenz zwischen den Staaten, die bereits zwischen den USA und Deutschland als Wortführer der EU offen zu Tage liegt. Und: Wenn die Kernelemente des Kapitalismus obsolet sind, dann gehört er doch eigentlich gleich ganz ins Museum, oder?

Anmerkung:

Prokla 159: Marx!

Gestern lag die neue Prokla im Briefkasten. Das Thema ist Marx! Die Nummer schließt damit an die Prokla 151 an, die ebenfalls einen gesellschaftstheoretischen und -kritischen Schwerpunkt hatte (»Gesellschaftstheorie nach Marx und Foucault«). Aber auch in den Heften zu »Krise«, zu »Sozialismus« oder »postkolonialen Studien« spielte Marx eine prominente Rolle. Damit mausert sich die Prokla zu einem wichtigen Bezugspunkt für eine an Marx orientierte Sozialwissenschaft.

Continue reading “Prokla 159: Marx!”

Export und Krise – aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Gestern hatte ich Paul Krugman als Sprachrohr einer keynesianistischen Interpretation der gegenwärtigen ökonomischen Konstellation angeführt. Von Keynes kann man durchaus etwas lernen, aber eine an Marx orientierte Kritik und Keynes’ Theorie ergänzen sich eben nicht einfach, wie viele zu glauben meinen (vgl. hier).

»Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel.« (Marx 1848) Foto: CC-Lizenz, Patrick Q.

Bereits in Keynes Allgemeiner Theorie ist zu dem von Krugman angesprochenen Problem zu lesen:

»Wenn aber die Nationen lernen können, sich durch ihre Inlandpolitik Vollbeschäftigung zu verschaffen …, braucht es keine wichtigen wirtschaftlichen Kräfte zu geben, die bestimmt sind, das Interesse eines Landes demjenigen seiner Nachbarn entgegenzusetzen. … Internationaler Handel würde aufhören das zu sein, was er ist, nämlich ein verzweifeltes Mittel, um die Beschäftigung im Inland durch das Aufzwingen von Verkäufen in fremden Märkten und die Einschränkung von Käufen aufrechtzuerhalten, der, wenn er erfolgreich ist, lediglich das Problem der Arbeitslosigkeit auf den Nachbarn schiebt, der im Kampf unterliegt« (Keynes 1936, 322f.).

Continue reading “Export und Krise – aufgeschoben ist nicht aufgehoben”

Krugman: Deutschland wird sich noch wundern. Was Sparpaket und Hartz IV mit Export und Handelskrieg zu tun haben

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll plural sein – im politisch erträglichen Rahmen versteht sich. Gestern durfte der so gern interviewte Heiner Flassbeck die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft anprangern. Heute darf der CDU-Haushaltspolitiker Steffen Kampeter alles wieder gerade rücken:

»Im Übrigen ist die Exportleistung, die die Bundesrepublik Deutschland bringt, nicht Ergebnis irgendeiner politischen Manipulation, sondern der Leistungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, die in den Betrieben arbeiten, der Kreativität der Unternehmen und ihrem Willen, dass die deutschen Dienstleistungen und Produkte auch im Ausland gekauft und erworben werden.«

Foto: CC-Lizenz, Sean Hickin

Soso. Leistungsfähigkeit und Kreativität. Hat es nicht eher damit zu tun, dass seit der Agenda 2010 und Hartz IV Löhne und Profite (ganz plastisch) immer weiter auseinanderdriften und Deutschland trotz allen Geredes ein Niedriglohn ist (wie die jüngste DIW-Studie unterstrich), das dank geringer Lohnstückkosten einen Wirtschaftskrieg provoziert? Schon vergessen, dass in den letzten Tagen vor allem die Autoindustrie über den Exportboom jauchzte? (Vgl. Ein fragwürdiger Weltmeister: Deutschland exportiert Arbeitslosigkeit, Standpunkte 14/2010 von Mario Candeias) Nur ist es eben so, dass nicht alle Länder gleichzeitig Exportweltmeister sein können. Wenn ein Land mehr exportiert als importiert muss ein anderes Land mehr Waren einführen als es ins Ausland verkauft.

Continue reading “Krugman: Deutschland wird sich noch wundern. Was Sparpaket und Hartz IV mit Export und Handelskrieg zu tun haben”

Vorhersage: Weltmarktungewitter. Der US-Dollar zu Gast China

Weltmarktungewitter
Foto: CC-Lizenz, merrickb

Dass nach wie vor der neoliberale Zeitgeist herrscht, zeigte Obamas Besuch in China. Eines der zentralen Themen waren die Währungsverhältnisse. Auch in der deutschen Presse. Heute in der taz und gestern in Die Welt.

Im Februar war bereits die US-Außenministerin Clinton in China zu Besuch. Damals gab es ähnlich Debatten. Kurz nach Rückkehr von ihrer China-Reise kündigte Präsident Obama zeitgleich mit dem größten Konjunkturpakt der US-Geschichte an, dass jetzt gespart werde. Fast wie beim Schlussverkauf: Richtig viel Geld ausgeben und gleichzeitig sparen! Wenige Monate später dann die gleiche Leier: In einem Gespräch Ende Juli kamen US-Außenministerin Clinton sowie Finanzminister Geithner mit ihren chinesischen Kollegen zu einem zweitägigen »Strategic and Economic Dialogue« zusammenkamen und betonten, dass die USA jetzt sparen würden. Eine ähnliche Ansage wird auch dieses Mal kommen (müssen). Schließlich führen China und die USA ungewollt eine symbiotische Beziehung und der US-Dollar soll weiterhin stark bleiben. China versuchte in der letzten Zeit die USA unter Druck zu setzen, in dem sie als Alternative zum US-Dollar die Sonderziehungsrechte des IWF als Weltgeld ins Spiel brachte. Eine etwas unrealistische Vision. Aber wie weit die gegenwärtige Weltpolitik von einer Re-Regulierung der Weltwirtschaft entfernt ist, zeigen die Aussagen bei der heutigen Pressekonferenz. Obwohl es nämlich zu keiner Einigung hinsichtlich der Wechselkurses gab, betonte Obama: »Ich bin erfreut über die Aussagen der chinesischen Seite in den vergangenen Erklärungen, sich im Laufe der Zeit auf Wechselkurse zuzubewegen, die mehr am Markt orientiert sind«. Der Markt soll es also richten. Was wir von diesem zu erwarten haben ist wohl mehr als klar: eine weitere Verschärfung der Widersprüche.

Der US-Dollar steht seit einigen Monaten unter Druck. Vor allem sog. carry trades machen ihm zu schaffen. Dass der US-Dollar eben keine Währung wie jede andere ist zeigt der Umstand, dass diese Arbitragegeschäfte plötzlich Thema sind, obwohl Japan und der Yen jahrelang davon betroffen waren und es niemand so recht interessierte. Wie aber die USA meinen das Problem in den Griff zu bekommen lässt nicht unbedingt hoffen, dass das große »Weltmarktungewitter« (Marx) bereits vorbei ist.

Der Euro stinkt nicht – Iran will Devisenreserven auf Euro umstellen

Kurz nach Obamas Verkündung die von seinem Vorgänger Bush geplanten Abwehrraketen in Osteuropa nicht zu stationieren und einer Dynamik auf den Devisenmärkten, die in in der Presse bereits als “geldpolitischer Durchfall” diskutiert wird, einer Abwertung des US-Dollars, vermeldet der Iran, dass es seine Devisenreserven auf Euro umstellen will. Damit ignoriert der Iran nicht nur die Sanktionsdrohungen, sondern setzt noch einen drauf, indem er die europäische Währung gegen den Greenback in Stellung bringt. Die Ölgeschäfte werden schon seit längerem in Euro gehandelt. Ein für die Weltwährungen und die Frage von Krieg und Frieden nicht unbedeutendes Faktum. Ob allerdings der US-Dollar in nächster Zukunft tatsächlich seine Rolle als Weltgeld einbüßen muss ist mehr als fraglich. Die Abwertung des US-Dollars ist weniger als Flucht aus dem US-Währung, als vielmehr als zunehmende Risikobereitschaft zu interpretieren – US-Staatspapiere werden verkauft und die liquiden Mittel auf die internationalen Finanzmärkte geschaufelt. Ob dort Gewinne blühen oder eine Verschärfung der Krise gesät wird bleibt abzuwarten. Die politische Botschaft aus Teheran hingegen ist eindeutig und wird dort ankommen wo sie auch verstanden werden wird.

Welches Geld regiert die Welt? Nicht nur China zweifelt an der Rolle des US-Dollars als Weltwährung

weltgeld us-dollar

Für manche ist die Welt des US-Dollars noch in Ordnung. Zum Beispiel für die somalischen Piraten. Diese wollten, so der an Verhandlungen beteiligte Ex-FBI-Agent Jack Cloonan, nur die US-Währung als Lösegeld akzeptieren. Bei Piraten steht der Greenback also noch hoch im Kurs. Ganz anders sieht es hingegen in China aus, dem bei Abwertungen des US-Dollars ein Verlust der Währungsreserven droht. Etwa 50-70 Prozent der über 2 Bio. chinesischen US-Dollar-Devisen laufen auf die US-Währung. In den letzten Monaten hatte es der chinesische Zentralbankchef Zhou Xiaochuan geschafft, die Rolle des US-Dollars als Weltgeld und damit auch die politische Rolle der USA als Weltmacht zum Politikum zu machen. Zuletzt kurz vor dem G8-Gipfel in Italien. Continue reading “Welches Geld regiert die Welt? Nicht nur China zweifelt an der Rolle des US-Dollars als Weltwährung”

Piraten und der Welthandel

“Piraterie bedrohe den Welthandel” – so oder ähnlich ist es bei Focus, Der Spiegel oder dem Handelsblatt zu lesen. Dabei verhält es sich genau umgekehrt! Die internationale Piraterie auf den Weltmeeren leidet unter dem Kollaps des Welthandels! Während noch im Oktober 2008 nur 70 Linienschiffe piraten-im-gartenweltweit in den Häfen stilllagen, waren es im April 2009 bereits 486! Für die sich verschlechternden Existenzgrundlage für Piraten ist zu einem nicht unwesentlichen Teil das exportorientierte Deutschland verantwortlich.

“Der globale Containerumschlag in deutschen Häfen ist im Januar um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gesunken, das war noch vor einem Jahr für niemanden denkbar”, sagte Burkhard Lemper, Professor am Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik in Bremen dem Merkur. Im Februar ist der deutsche Export im Vergleich zum Vorjahr um über 20 Prozent eingebrochen. Laut Financial Times Deutschland liegen weltweit mehr als zehn Prozent aller Containerschiffe ohne Beschäftigung in den Häfen.

Kein Wunder also, dass inzwischen schon Passagierschiffe zum Beuteobjekt werden und sich die internationale Piraterie zu einem zunehmend umkämpften Markt unter verschärften Konkurrenzbedingungen entwickelt.

Bild: joriel, CC-Lizenz

Aufgeblättert: »Das Weltkapital« von Robert Kurz

Im Anschluss an Marx’ Bücherplan zum Aufbau einer Kritik der politischen Ökonomie ist es sicherlich eine sinnvolle Aufgabe, sich dem Weltmarkt als Kategorie der Kritik der politischen Ökonomie zu widmen (35). Ausgehend von den ›Globalisierungskritikern‹ nähert Verf. sich dem Kapitalismus als Weltsystem (42 ff), streift die Imperialismustheorie (78 f) und setzt sich intensiv mit ›Globalisierungsleugnern und Verdrängungskünstlern‹ (187) auseinander. Die Kritik läuft nach bekanntem Muster: ›Alle sind konservativ geworden, so wie in anderer Weise (…) alle neoliberal geworden sind.‹ (370) ›Linke Gesellschaftskritik‹ bewegt sich immer noch im ›Gehäuse kapitalistischer Kategorien‹ (19) und linke Theoriegeschichte ist weiterhin nicht aufgearbeitet (326). Verf. arbeitet sich allerdings an schwachen Gegnern ab, andere werden kaum einmal in einem Nebensatz gewürdigt (Wallerstein, Altvater).

Die neue Qualität des Kapitalismus sieht Verf. im veränderten Charakter des Finanzkapitals, welches die Globalisierung vorantreibt – für ihn ist letztere nur ein ›eskalierter Krisenprozess‹ (59). Dem Finanzkapital komme die konstitutive Funktion bei der Simulation eines funktionierenden Systems zu, ohne die es bereits zum Zusammenbruch des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gekommen wäre (220). Aus der zunehmenden Entkopplung des Geldes von seiner Substanz Arbeit (119) folge eine ›Virtualität‹ der Kreditverhältnisse. Das Geld sei zu einer juristischen Konstruktion verkommen (122 f), während Arbeit ihre Bedeutung verliere. Unklar bleibt allerdings, wie Verf. ständig von überflüssiger Arbeit und der abnehmenden Relevanz der Arbeitskosten sprechen kann und gleichzeitig die Verlagerung von Arbeitsplätzen als zentrales Moment der Globalisierung konstatiert, was doch nur vor dem Hintergrund besserer Ausbeutungsbedingungen sinnvoll ist (94, 133, 168 f).

Weiter widmet er sich den Tücken der verkürzten Kapitalismuskritik (299 ff), vor allem dem ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff) und den Illusionen gegenüber dem Staat (366 ff). Der ›objektive Verblendungszusammenhang‹, den der Kapitalismus für alle ›immanenten Akteure‹ hervorbringe, führe in der Krise dazu, dass die ›innere systemische Logik‹ auf den Kopf gestellt werde (299): Die innere Schranke der Verwertung erscheine als Zirkulationsphänomen, was Teile der Linken, allen voran die Linkspartei, mit nationalem Keynesianismus beantworteten, der die Ursache der Krise in einem nicht mehr an den Nationalstaat gebundenen Finanzkapital sehe (u.a. 320). Pauschalisierend sieht Verf. diese Politik vor dem Hintergrund schwindender Arbeit in Forderungen nach einem starken Staat, Arbeitszwang und dem Schutz der deutschen Arbeiter umschlagen. Dabei seien diese Programme gesellschaftlichen Formen geschuldet, die einen ›strukturellen Nationalismus‹ (380) ebenso hervorbrächten wie einen ›strukturellen Antisemitismus‹ (342 ff). – Verf. bewegt sich dabei allerdings auf unterschiedlichen Kritikebenen. Bestimmten theoretischen Vorstellungen meint er einfach mit der Empirie, der Wirklichkeit (64) oder der realen Historie (67) beikommen zu können, statt die von ihm eingeklagte kategoriale Kritik wirklich durchzuführen. So konstatiert er beim Theorem der komparativen Kostenvorteile im Anschluss an Ricardo nur dessen Blamage gegenüber der Wirklichkeit (64), kritisiert also bloß, dass Ricardo den kapitalistischen Formbestimmungen aufsitze. Auch mit seinem Kronzeugen Marx geht Verf. wenig sorgsam um. Aus den ›ökonomischen‹ Bewegungsgesetzen – wie Marx im Vorwort des Kapitals seinen Gegenstand skizziert – werden ›gesellschaftliche‹ (20), was einen Unterschied ums Ganze macht, der von Engels geprägte Begriff des ›ideellen Gesamtkapitalisten‹ wird Marx zugeschrieben (39) usw.

Gegenüber den ›Globalisierungsleugnern‹ besteht Verf. auf der neuen Qualität, die das Weltkapital mit sich bringe: ›Wenn die Veränderung im Verhältnis des Exportvolumens und der Direktinvestitionen von 6 auf mehr als 50 Prozent keine qualitative sein soll, dann gibt es (…) offenbar überhaupt keinen Umschlag von Quantität in Qualität mehr.‹ (171) – So wie hier das engelssche Argument bloß oberflächlich aufgesetzt wirkt, greift Verf. des öfteren auf suggestive Begriffe zurück und ersetzt Argumente durch eine Rhetorik des angeblich ›glasklaren‹ oder ›eindeutigen‹ Charakters eines Sachverhalts, während das Gegenteil statt widerlegt bloß als lächerlich abgetan wird (171 ff, 194 ff, 365 ff).

Kurz, Robert, Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Edition Tiamat, Berlin 2005 (479 S., br., 18 Euro)

Erschienen in: DAS ARGUMENT 265/2006

Kein Blut für Petro-Dollar? Das Weltgeld und das Schmiermittel des globalen Kapitals

Auch Verschwörungstheorien haben manchmal einen realen Kern. Die Initiative Nachrichtenaufklärung nominiert seit zehn Jahren vernachlässigte Nachrichten. Im Jahr 2005 befand sich unter den Top-Ten die Meldung, dass der Iran eine internationale Ölbörse plant. Der Rohstoff, der die Welt bewegt, sollte dort nicht mehr in US-Dollar, sondern in Euro gehandelt werden. Die Begründung für die Wahl dieser Nachricht liegt auf der Hand: Die Denomination einer der wichtigsten Rohstoffe des globalen Kapitalismus in Euro hätte Auswirkungen auf die ganze Weltwirtschaft und auf das Verhältnis zwischen USA und EU – den zwei größten Wirtschafts- und Machtblöcken der Welt. Continue reading “Kein Blut für Petro-Dollar? Das Weltgeld und das Schmiermittel des globalen Kapitals”

Der Yen zu Gast in China. Das Treffen der G7 in Essen und der Börsencrash

Im Februar hatten die Gipfelproteste und die Finanzminister der G7, also die mächtigsten Industriestaaten ohne Russland, in Essen ein erstes Stelldichein. Über 1.000 DemonstrantInnen nahmen an den Protesten teil. Sie richteten sich vor allem gegen das Treiben so genannter Hedge Fonds. Während diese in der Abschlusserklärung der Regierungschefs zentrales Thema waren, konnte sich Deutschland mit einem Fingerzeig Richtung Japan nicht durchsetzen. Der Gastgeber hätte Japan gerne darauf gedrängt, für einen stärkeren Yen zu sorgen. Wenige Wochen später brach die chinesische Börse ein und nahm die US-Börse gleich mit. Auch Tage später war die Unsicherheit groß – schließlich wurden viele hundert Mrd. US-Dollar vernichtet. Ein Grund dafür war die Kursentwicklung des Yen.
Continue reading “Der Yen zu Gast in China. Das Treffen der G7 in Essen und der Börsencrash”

Ideal und Wirklichkeit. Freihandelstheoretiker und ihre Kritiker haben einiges gemeinsam

Nicht nur die Praxis, auch die Theorie des weltweiten Freihandels ist Jahrhunderte alt. Doch was sind ihre Grundannahmen, und wie schließen die heutigen Neoliberalen und WTO-Befürworter daran an? Auch die Kritik am Freihandel entstand nicht erst mit der globalisierungskritischen Bewegung. Trifft sie ihren Gegenstand, oder unterminieren bestimmte Formen von Kritik ihren antikapitalistischen Anspruch?

Mit der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren ist ein alter Schlachtruf wieder in aller Munde: »Laissez faire et laissez passer«. Diese Parole ist wohl auf Jacques Vincent de Gournay zurückzuführen, der in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert wie viele französische Kaufleute für die Befreiung vom Merkantilismus plädierte. Für den Merkantilismus als wirtschaftspolitisches Theorem des Absolutismus hatte der »Reichtum der Nationen« (Adam Smith) vor allem eine Ursache: der Exportüberschuss, der sich in einer aktiven Handelsbilanz ausdrückte. Mit dieser Vorstellung war eine bestimmte Politik verbunden: Niedrige Ausfuhrzölle, hohe Einfuhrzölle, Förderung des Transportwesens, Erweiterung und Regulierung des inneren Marktes usw. Der dem Handel zugesprochene produktive Charakter wurde unter Umständen auch gewaltsam erzwungen. Die Kolonisierung der Welt zur Sicherung von Rohstoffen, Handelsstrukturen und Absatzmärkten haben im Merkantilismus ihren Anfang.

Diese Politik hatte jedoch auch in Europa selbst negative Auswirkungen, vor deren Hintergrund der freihändlerische Schlachtruf entstand. In Frankreich wurde die Landwirtschaft durch die hohe Besteuerung der Landwirte und die Getreidepreisbindung, welche die Löhne für die Manufakturen niedrig halten sollten, fast vollständig ruiniert. Hinzu kam, dass die aristokratischen Grundherren durch Steigerung der Pachtzinsen ihre Einkünfte erhöhen wollten. Hier setzten die Physiokraten an, die im Gegensatz zu merkantilistischen Vorstellungen davon ausgingen, dass allein die landwirtschaftliche Produktion produktiv sei. Freihandel hatte für François Quesnay (1694-1774), dem wichtigsten Vertreter der Physiokraten, vor allem den Zweck, die gegängelte (Land-)Wirtschaft zu stärken. Damit könnte die Versorgung gewährleistet und bei Krisen und Missernten Abhilfe geschaffen werden, da ohne Handelsbeschränkungen eine ausgleichende Versorgung der Provinzen sichergestellt werden könnte.

Auch in späteren Auseinandersetzungen spielte das Getreide eine zentrale Rolle. In der ersten Hälfte des 19.Jh. setzte das aufstrebende industrielle Kapital in England alle Hebel in Bewegung, um die Abschaffung der so genannten Korngesetze durchzusetzen. »Cheap food, high wages« war bereits damals die demagogische Parole der Freihändler, die als erste politisch organisierte Bewegung der neuen industriellen Bourgeoisie versuchten, die breite Bevölkerung vom Freihandel zu überzeugen. Die damalige Argumentation ist auch heute noch von zentraler Bedeutung: Zölle auf Getreide verteuern die Lebensmittelkosten und senken die Reallöhne.

Kosten und andere Vorteile
Der Klassiker unter den Freihandelstheoretikern ist David Ricardo (1772-1823). Bis heute bildet sein Theorem der »komparativen Kostenvorteile« die Grundlage aller Freihandelstheorien. Die Grundidee ist simpel: Im Gegensatz zu Adam Smith ging Ricardo davon aus, dass es keinen absoluten Produktionskostenvorteil eines Landes gegenüber einem anderen geben muss, damit der Reichtum in einem Land steigt. Ricardo ging dagegen von den relativen Preisverhältnissen (da er vom Geld abstrahiert, eigentlich von Tauschverhältnissen) unterschiedlicher Güter aus, die ihm zufolge wiederum durch die Arbeitskosten bestimmt sind.

Voraussetzung für seine weitere Überlegung ist, dass sich durch internationale Konkurrenz und Kapitalbewegungen keine globale Profitrate erstellt. Damit bestimmt sich Ricardo zufolge der Wert auf dem internationalen Markt anders als innerhalb eines Landes. Wenn sich nun die Länder auf die Produktionszweige spezialisieren, in denen sie im Verhältnis zu anderen Ländern billiger produzieren, dann ergibt sich ein positiver Effekt für alle Länder, weil sie die gegebenen Ressourcen von der unrentablen in die effizientere Produktion verlagern. Das von Ricardo selbst angeführte Beispiel verdeutlicht seine Überlegungen: England und Portugal benötigen für die Produktion von Tuch und Wein jeweils eine bestimmte Arbeitsmenge je Wareneinheit. Deren Gesamtmenge könnte laut Ricardo jedoch effektiver eingesetzt werden, wenn sich beide Länder auf die Produktion spezialisieren, in der sie vergleichsweise, d.h. komparativ besser sind. Beide Länder könnten so ihre verfügbare Arbeitszeit effektiver einsetzen und durch den Tausch der insgesamt größeren Masse an Gebrauchswerten einen Wohlfahrtsgewinn realisieren. Diese effizienzsteigernde Wirkung der internationalen Arbeitsteilung wird spätestens seit Ricardo systematisch theoretisiert. Von Befürwortern wie Kritikern wurde dieses Theorem in seinen Grundannahmen meist akzeptiert und lediglich anders ausgelegt oder kritisch reformuliert.

Die erste Weiterentwicklung der Überlegungen von Ricardo stammt von John Stuart Mill (1806-1873), der sowohl klassisch, arbeitswerttheoretisch wie Ricardo als auch neoklassisch, rein preistheoretisch argumentierte (zur Neoklassik siehe unten). Er ging von einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht mit einem gleichgewichtigen Wechselkurs und damit einem gleichgewichtigen System von relativen Preisen aus, mit welchem über Export und Import Angebot und Nachfrage in allen Ländern zur Deckung kommen. Über den Wechselkurs und damit die veränderte Kaufkraft einer Währung für ein bestimmtes Gut in einer anderen Währung (terms of trade) wird Mill zufolge die internationale Struktur von Angebot und Nachfrage so lange »reguliert«, bis diese zur Deckung kommen.

Das Herz der Freihandelstheorie
Die heutige Idee vom freien Handel ist ohne die Neoklassik weder vorstellbar noch zu erklären. Vor allem die neoklassische Preistheorie und die daraus entwickelte allgemeine Gleichgewichtstheorie sind zentrales Fundament des Freihandelsparadigmas. Die Grundlagen der Neoklassik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die klassische Nationalökonomie (Smith, Ricardo u.a.) weiterentwickelte, beruhen im Grunde auf normativen Aussagen: Es wird ein ideales Verhalten der wirtschaftenden Menschen konstruiert, welches eine optimale Situation des Gleichgewichts und ideale Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass auf der einen Seite die Bedürfnisse der Individuen unendlich sind, die Ressourcen zu ihrer Befriedigung dagegen endlich. Damit entsteht für die Subjekte der Zwang zu Arbeitsteilung und Tausch – gerade auch international. Treten keine externen Schocks (z.B. Kriege oder Naturkatastrophen) auf, ist der Markt ein endogen stabiles System. In diesem Gleichgewicht gibt es ein Ensemble von relativen Preisen, die keinen mehr besser stellen können, ohne dass gleichzeitig andere MarktteilnehmerInnen schlechter gestellt werden (so genanntes Pareto-Optimum).

Grundlegend für die Neoklassik ist die Trennung von monetärer und realer Sphäre. Es herrscht eine »Zwei-Welten-Lehre«, die streng zwischen der Sphäre der Preise und Geldmengen auf der einen Seite und physischer Produktion von Gütern sowie den dazu nötigen Produktionseinheiten auf der anderen Seite unterscheidet. Diese Unterscheidung kommt auch bei der Außenwirtschaft zur Geltung.

Bei den monetären außenwirtschaftlichen Aktivitäten kommt vor allem der Devisenmarkt in Betracht. Angebot und Nachfrage von Währungen bestimmen hier den Wechselkurs, Geld existiert nur als Währung neben anderen Währungen, ohne Bezug auf die »reale« Produktion. Es können zwei Szenarien unterschieden werden. Einmal in einem System fester Wechselkurse (wie zum Beispiel das von Bretton Woods bis 1973) und einmal im System flexibler Wechselkurse, wie es heute weitgehend gegeben ist. Bei letzterem bleibt für die Neoklassik das Theorem des Gleichgewichts zentral. Langfristig gilt im System flexibler Wechselkurse bei Kaufkraftparität ein Gleichgewicht zwischen den Währungen. Der Wechselkurs ist durch die Relation der Preisniveaus bestimmt. Verändert sich dieses in einem Land, verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Exporte nehmen ab und Importe zu. Das bedeutet, dass eine erhöhte Nachfrage nach Devisen dazu führt, dass die inländische Währung gegenüber der ausländischen so weit abgewertet wird, bis die Nachfrage nach Devisen befriedigt ist. Damit ist erneut ein Gleichgewicht zwischen den beiden Währungen hergestellt. Der Neoklassik zufolge ist somit durch den freien Wechselkurs (d.h. keine Handelsbeschränkungen für Devisen und Kapitalmärkte) eine perfekte Abschirmung gegen importierte Inflation aus dem Ausland möglich. Damit wird deutlich, dass die Neoklassik, deren höchstes Gut die Preisstabilität ist, für freien Handel auf den Devisenmärkten und flexible Wechselkurse plädiert.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Freihandel mit Gütern wieder verstärkt Gegenstand der neoklassischen Theorie. Insbesondere die Spezialisierung der einzelnen Länder aufgrund unterschiedlicher Ausstattung von Kapital und Arbeit rückte in den Mittelpunkt der Analysen. Zunächst wurde in den 1930er Jahren im so genannten Heckscher-Ohlin-Theorem behauptet, dass sich Länder unter Effizienzkalkülen entlang der Intensität von Arbeit und Kapital spezialisieren. Wohlfahrtsgewinne seien vor allem dann zu erzielen, wenn sich Länder auf die Produktion spezialisieren, für die sie prädestiniert sind: Portugal etwa durch niedrige Lohnkosten und England durch Geldkapital. Nachdem festgestellt wurde, dass dieses Theorem empirisch nicht haltbar war, wurde es im Stolper-Samuelson-Theorem mit der Argumentation gerettet, dass nicht von einer Homogenität der Ware Arbeitskraft ausgegangen werden könne. Stolper/ Samuelson erklärten, dass bei erhöhter Nachfrage nach einem Gut und damit steigenden Löhnen in diesem Sektor die Löhne für die Produktion eines anderen Gutes sinken. Mit der Aufnahme von Handelsbeziehungen und den damit einhergehenden Wohlfahrtsgewinnen seien demzufolge immer Einkommensumverteilungen verbunden. Wesentliche Aussagen der klassischen wie der neoklassischen Außenhandelstheorie lassen sich bereits im Rahmen ihrer eigenen theoretischen Grundlage kritisieren: Ricardos Argument vom komparativen Kostenvorteil ist nur gültig, wenn vom Zins abgesehen wird und eine (Handels-)Welt mit nur einem einzigen Gut vorausgesetzt wird. Nur so wären die Preisverhältnisse ausschließlich durch Technologie bestimmt. Dies ist jedoch eine geradezu irrwitzige Annahme für den internationalen Handel, wo es gerade darum geht, unterschiedliche Güter zu tauschen. Ohne diese Annahme und unter Einbeziehung der Verteilung von Zins- und Lohnsatz ist weder ein klarer Zusammenhang der Preisentwicklung in den unterschiedlichen Ländern konstatierbar, noch kann eine Aussage über Vorteile einer kapital- oder arbeitsintensiven Produktion getroffen werden. Die suggerierten klaren Zusammenhänge, auf welchen alle Erklärungen der (neo)klassischen Freihandelstheorien bauen, sind somit in ihrem Kern zerstört.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die neoklassische Wirtschaftstheorie zunächst einen schlechten Stand, da sie sich als unfähig erwiesen hatte, eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 zu finden. Doch trotz dieser Krise der ökonomischen Theorie wurde politisch im Rahmen des Systems von »Bretton Woods« und den GATT/ WTO-Runden unter der Hegemonie der USA auf die Etablierung eines möglichst freien Weltmarkts gedrängt. Etappenweise fand weltweit eine Internationalisierung des produktiven Kapitals und schließlich des Geldkapitals statt. Mit letzterem kann auch die neue Qualität der Globalisierung herausgestellt werden, nämlich dass sich eine globale Durchschnittsprofitrate etabliert, an der sich alle Verwertungsmöglichkeiten in Konkurrenz um das Geldkapital messen lassen müssen.

Die neoliberale Freihandelsideologie, wie sie sich nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nahezu allgemein durchsetzte, ist im Kern nichts Neues und schließt nur an allgemeine neoklassische Argumentationen an. Es gab in ihrem Rahmen keinen Versuch, eine neue integrierte Theorie zu formulieren, lediglich Akzentuierungen. So wird etwa ins Feld geführt, dass die Transaktionskosten durch den Freihandel sichtlich gesenkt werden können und sich somit ein allgemeiner Wohlfahrtseffekt einstellt. Desweiteren wird argumentiert, dass durch die vertiefte weltweite Arbeitsteilung eine Steigerung der Produktivkräfte ermöglicht wird. Inzwischen ist mit dem Buch »Free Trade Today« (2002) von Jagdish Bhagwati, einem Anwärter auf den Nobelpreis für Ökonomie, die wirtschaftstheoretische Zunft dort angelangt, wo sich bereits die klassische Freihandelsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert versucht hat: der Bevölkerung allgemeinverständlich nahe zu bringen, warum der Freihandel zu ihrem Besten ist.

Die Theorien sind schön …
Fast genauso alt wie die Theorie und Praxis des Freihandels ist die Kritik daran. Diese bewegt sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen, und nicht selten trifft sie ihren Gegenstand eher schlecht als recht.
Eine erste Kritiklinie versucht Ricardos Theorem von den komparativen Kostenvorteilen kritisch zu reformulieren oder dessen kritische Punkte auszuleuchten. So argumentierten beispielsweise viele Dependenztheoretiker, dass im Falle von Dritte-Welt-Ländern mit einer Spezialisierung der Produktion eine zunehmende Abhängigkeit vom Welthandel verbunden sei und somit die Gefahr von Krisen. Bei einseitiger Ausrichtung auf landwirtschaftliche Produktion mache sich ein Land von der Witterung abhängig, und die Monokultur wirke sich nachteilig auf die Qualität der Produkte und auf die natürlichen Ressourcen wie z.B. Böden aus.

Andere Dependenztheoretiker wie Arghiri Emmanuel, aber auch Marxisten wie Ernest Mandel betonten darüber hinaus in den 1960er und 70er Jahren im Anschluss an die marxsche Werttheorie den »ungleichen Tausch« zwischen den verschiedenen Ländern. Die Ausbeutung der Dritten Welt wurde von ihnen als Werttransfer gedacht. So geht Emmanuel davon aus, dass die Lohnunterschiede zwischen Peripherie und Zentrum größer seien als die Niveaus der Produktivität. Deshalb kann er auf Grundlage der ricardianischen Theorie der komparativen Kosten davon ausgehen, dass ein einseitiger Transfer von Werten stattfindet, und zwar von Süd nach Nord. Diese Grundüberlegung liegt auch der Fair-Trade-Bewegung zugrunde. Wie die »ricardianischen« Sozialisten des 19. Jahrhundert einen gerechten Lohn einforderten, geht die Fair-Trade-Bewegung davon aus, dass die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse des kapitalistischen Weltsystems durch »gerechte« Preise aufgebrochen werden können. Es wird somit ein bürgerliches Ideal, der gerechte Preis, gegenüber einer räuberischen Praxis, dem ungleichen und ungerechten Tausch, eingeklagt.

Das Theorem vom »ungleichen Tausch« wurde schon früh kritisiert, denn es beruht auf einer überkommenen marxistischen Werttheorie, die ähnlich wie Klassik und Neoklassik eine »Zwei-Welten-Lehre« vertritt. Das Geld dient, wie in der Neoklassik, nur als Schmiermittel des Tausches. Damit lässt sich die Vorstellung vom ungleichen Tausch bereits in den Grundannahmen in Frage stellen, weil sie lediglich einen Tausch von Arbeitsquanten unterstellt (etwa wenn in einem Produkt aus Afrika 20 Arbeitsstunden stecken, während in dem dagegen eingetauschten Produkt aus Deutschland nur eine Arbeitsstunde enthalten ist). In seiner naturalistischen Annahme von Arbeit, Ware und Wert unterschlägt das Theorem vom ungerechten Tausch jedoch den konstitutiven Charakter des Geldes, ohne welches überhaupt nicht von Wert gesprochen werden kann und welches eine untrennbare konstitutive Relevanz für den kapitalistischen Gesamtzusammenhang und damit auch für Lohnarbeit, ‚reale’ Produktion und Tauschvorgänge hat.

… aber die Realität ist hässlich
Eine zweite Form der Kritik, die insbesondere vom reformorientierten Flügel der heutigen globalisierungskritischen Bewegung formuliert wird, vergleicht das Ideal des Freihandels mit der Wirklichkeit. Der Freihandel wird gemäß seinen eigenen Maßstäben daran gemessen, was er als Befriedungs- und Demokratisierungsstrategie, als Wohltäter für Reich und Arm und Garant für ökonomische Stabilität leistet. In diesem Zusammenhang wird oft die widersprüchliche Politik der Industriestaaten kritisiert, vor allem die auf Freihandel drängenden USA und die EU, die zugleich manche heimische Wirtschaftssektoren mit hohen Zöllen oder Subventionen schützen. Auch im Zusammenhang mit protektionistischen Maßnahmen – die mal als unabdingbare Voraussetzung für Industrialisierungsprozesse in Dritte-Welt-Ländern, mal als Abschottung der Industrieländer gegen Produkte aus dem Süden interpretiert werden – wird die staatliche Wirtschaftspolitik von dieser Warte aus kritisiert.

Diese Form der Kritik misst zwar die Freihandelstheorie an ihren eigenen Ansprüchen und kann somit ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Die Vorstellung, dass der Staat eins zu eins für eine Umsetzung ökonomietheoretischer Konzepte wie der Freihandeltheorie zuständig ist, trifft jedoch wenig. Weil es dieser Form der Kritik an einer Staatstheorie fehlt, wird verkannt, dass der Staat in seiner Form und Funktionsweise einen »ideellen Gesamtkapitalisten« darstellt. Dieser kann sich durchaus auch gegen einzelne Kapitalfraktionen richten, wenn es erforderlich scheint.

Dies kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Ende März 2003 mussten die USA vor der WTO eine Niederlage im Streit um ihre 30prozentigen Schutzzölle auf Stahlimporte einstecken. US-amerikanische Stahlerzeuger und Gewerkschaften waren angesichts dieses Schiedsspruchs der WTO beunruhigt, Zuspruch kam hingegen von der stahlverarbeitenden Industrie, zu deren Vorteil fortan die staatliche Zollpolitik gestaltet wurde. Die Stahlunternehmer mussten sich ebenso wie die StahlarbeiterInnen damit abfinden, dass das Interesse der stahlverarbeitenden Industrie an billigem ausländischen Stahl Berücksichtigung fand. Hier wird deutlich, dass weder das gesamte Kapital ein Interesse an Freihandel hat, noch dass eine Kapitalfraktion unmittelbar die staatliche Politik bestimmen kann. Beide Momente kommen in der Freihandelskritik meist zu kurz.

Das Beispiel verdeutlicht darüber hinaus, dass der »Handelskrieg« um den Stahl ohne unmittelbare Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auskam, er aber eine dritte, vermittelnde Instanz benötigte. Ausbeutung und Herrschaft findet heute nicht (mehr) in der Form von Raubzügen und Plünderungen statt, sondern in der Form des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse. Frei von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen wird in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft das Privateigentum vom Staat garantiert, der relativ autonom von allen Klassen und Klassenfraktionen existiert. Auf nationaler Ebene formuliert erst der Staat so etwas wie ein allgemeines Interesse des Kapitals. Davor stehen die Einzelkapitale in Konkurrenz zueinander. Über Aushandlungsprozesse in der bürgerlichen Öffentlichkeit und im Diskurs um das »Allgemeinwohl« setzt der Staat ein allgemeines Kapitalinteresse nicht nur gegen, sondern auch mit Zustimmung der ausgebeuteten Klasse durch und bringt somit alle Interessen in einen herrschaftsförmigen Konsens.

Auf internationaler Ebene gilt ähnliches: Die Staaten verhalten sich ebenso wie die Bürger als formal freie und gleiche (Völkerrechts-)Subjekte zueinander. Das ‚globale Allgemeinwohl’, welches das Allgemeinwohl der mehr oder weniger kapitalistischen Einzelstaaten darstellt, wird unter der Führung einer Hegemonialmacht im Rahmen von internationalen Institutionen wie der WTO ausgehandelt und formuliert. In diesen politischen Formen organisieren die Staaten internationalen Wettbewerb. Damit ist klar, dass kapitalistische Ökonomie sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene nicht ohne Staatlichkeit und politische Institutionen möglich ist. Markt und Staat sind zwar unterschiedliche gesellschaftliche Strukturierungsmodi. Eine Gegenüberstellung, bei der der Staat als positives Gegengewicht zum Markt dargestellt wird, verhindert jedoch nur die Etablierung einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik.

Gewalt, Lug und Trug?
In einer dritten Form der Kritik, die sich selbst oft als radikal versteht, wird Freihandel als ideologischer Schein einer im Kern räuberischen und gewalttätigen Herrschaftsausübung gebrandmarkt. Außenwirtschaft wird auf unmittelbare Gewaltakte, Raubwirtschaft und Plünderungszüge reduziert. Diese Form der Kritik kann bis auf die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg zurückverfolgt werden. Mit diesen begann eine Debatte um die »Vermachtung von Märkten«, gemäß der die Freiheit und Gleichheit im Tausch abgelöst wird von mächtigen Monopolen, die Monopolprofite durchsetzen – allem Gerede vom Freihandel zum Trotz mit protektionistischen Maßnahmen.

Diese Form antiimperialistischer Kritik findet sich bis heute in jeglicher Couleur, etwa bei Noam Chomsky, einer Leitfigur der globalisierungskritischen Bewegung. Er geht in anarchistischer Tradition affirmativ von bürgerlichen Formen von Freiheit und Gleichheit aus und kritisiert dann deren mangelhafte Umsetzung sowie die damit verbundenen personalen Herrschaftsverhältnisse. So heißt es in seinem Buch »War against People« (2003), Privatkonzerne seien eine »Form privatisierter Tyrannei«. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus scheine es keine »Alternative zu dem System eines von Staat und Konzernen betriebenen Merkantilismus [zu geben], das sich hinter Zauberformeln wie ‚Globalisierung’ oder ‚Freihandel’ versteckt.« Für Chomsky laufen vom Freihandel »vielleicht 70 Prozent der grenzüberschreitenden Transaktionen (die zu Unrecht ‚Handel’ genannt werden) tatsächlich innerhalb von zentral gesteuerten Institutionen« ab, und zwar »in Konzernen und Konzernverbindungen«, was eine »marktwidrige Wettbewerbsverzerrung« darstelle. Auch bei den so genannten Handelsabkommen gehe es »nicht um Freihandel«, sondern »diese Abkommen haben sehr stark gegen den Markt gerichtete Elemente«.

Der Markt erscheint somit bei Chomsky als Ideal und eben nicht als Instanz, die den nicht-personalen Zwang der ökonomischen Verhältnisse exekutiert. Gegenstand seiner Kritik ist nicht der Freihandel als konkrete Form bürgerlicher Tauschverhältnisse, sondern dessen angebliche Perversion durch einzelne Staaten, Konzerne und deren Tycoons. In bürgerlichen Gesellschaften ist die herrschende Form der Reproduktion jedoch weder durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, noch durch unmittelbaren Einsatz von Gewalt bei der Abpressung eines Mehrprodukts gekennzeichnet (wie z.B. Leibeigenschaft, Sklaverei). Zwar existieren diese Formen immer noch, besonders in nicht stabilen bürgerlichen Gesellschaften. Aber immer dort, wo sie auftreten, benötigen sie eine besondere ideologische (oft religiöse) Legitimierung, die mit Freihandelstheorie in der Regel nicht viel zu tun hat.

In seiner Kritik der politischen Ökonomie konnte Marx erklären, wie sich Ausbeutung und Herrschaft unter bürgerlichen Verhältnissen darstellen. In seinem Hauptwerk Kapital zeigte er, dass sich diese nicht-personalen Verhältnisse gegenständlich in Ware, Geld, Kapital und anderen ökonomischen Formen ausdrücken. Das Problem an den oben skizzierten Formen der Kritik an Freihandelstheorie ist demgegenüber, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrem »idealen Durchschnitt« (Marx) gerade nicht Gegenstand von Kritik ist. Vielmehr wird ein kapitalistisches Ideal gegenüber einer schlechten, durchaus existenten Realität eingeklagt. Herrschaftskritisch mögen diese Formen der Kritik am Freihandel sein, mit einem avancierten kritischen Verständnis von Kapitalismus ist es dagegen nicht weit her.

Ingo Stützle

Eine kommentierte Literaturliste zu diesem Text ist unter www.iz3w.org zu finden.

Erschienen in: iz3w, Nr.289, 2005