Die Europapolitik des deutschen Machtblocks und ihre Widersprüche

Ein in der Krise oft zu hörender Satz ist:

»Die Politik macht doch eh nur das, was die Wirtschaft will.«

Und mit etwas staunendem Unverständnis wird gerne ein weiterer Satz formuliert:

»Die deutsche Politik, die auf Austeritätspolitik im EU-Ausland drängt, schadet doch der deutschen Exportwirtschaft.«

Während die erste Feststellung eine einheitliche Entität (»die Wirtschaft«) unterstellt, die dieses oder jenes meinen oder wollen könnte, geht der zweite Satz davon aus, dass sich das Interesse des exportorientierten Kapitals unmittelbar in die Politik der deutschen Bundesregierung umsetzt oder bei der politischen Elite die Lehrbuchvernunft eines keynesianistisch, makroökonomischen Lehrbuchs gefunden werden könnte.

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Nicos Poulantzas zum 75. Geburtstag

Nicos Poulantzas 1968 in einer Pariser Universität

Nicos Poulantzas wäre heute 75. Jahre alt geworden (auch wenn wikipedia etwas anderes behauptet). Aus diesem Anlass sei nicht nur auf den Sammelband Poulantzas lesen verwiesen, den ich 2006 mitherausgegeben habe, sondern auch auf einen aktuellen Beitrag von Alexander Gallas bei freitag.de und auf mein Geburtstagsständchen vor fünf Jahren in ak 509.

Volkszählung und Herrschaftswissen

Bereits Marx stellte 1842 fest:

»Die Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.« (MEW 1, 29)

Die genuin politische Dimension von statistischem Wissen diskutierten vor allem der Staatstheoretiker Nicos Poulantzas und Michel Foucault. Ihnen war klar: Staatliche Herrschaft funktioniert nur mit und durch die Produktion von Wissen über die Bevölkerung. Auch wenn es sich etwas absonderlich anhört: Herrschaft beginnt bei der Hausnummer.

»Die Bildung eines Regierungswissens ist absolut untrennbar von der Bildung eines Wissens  über all die Vorgänge, die sich im weiten Sinne um die Bevölkerung drehen, nämlich über genau das, was man ›Ökonomie‹ nennt«

Schafe werden nicht nur zum Einschlafen gezählt. Foto: CC-Lizenz, barwell

So Foucault in seinen Vorlesungen von 1977/78. Foucault nannte die staatliche Bevölkerungssteuerung Bio-Politik.

In einem Aufsatz zu dieser Frage habe ich zwischen abstrakten Wissen, strategischem Wissen, wissenschaftlichem Wissen und der politischen Ökonomie unterschieden.

Hier ein kleiner Auszug au meinem Beitrag Der Staat als Wissensapparat aus Poulantzas lesen:

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Linkspartei: Staatskritik als blinder Fleck?

Könnten bei zu starkem Drücken untergehen. Foto: CC-Lizenz, Richard Carter

Vor ein paar Tagen wies Tom Strohschneider angesichts der Bundespräsidentenwahlen auf ein Papier von Rainer Rilling hin (Welche politische Krise?). Dort konstatiert dieser eine »skeptische Distanz« der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der links-libertären Milieus gegenüber der Linkspartei. Alex Demirović hat nun im Blog des Prager Frühlings die andere Seite der Medaille beleuchtet: die fehlende Staatskritik innerhalb der Linkspartei – vor allem im Rahmen ihrer Programmdebatte.

»Obwohl der Einschätzung des Staates durchaus eine wichtige Rolle zukäme, bleibt er im Programmentwurf eine Blindstelle. Das birgt zwei Gefahren für die Linke: die der Überschätzung, da der Staat überschätzt wird hinsichtlich dessen, was mit ihm erreichbar ist; die der Unterschätzung hinsichtlich seiner Gefährlichkeit.«

Wundern kann dieser Mangel nicht. Diesen wieder und wieder zu betonen, ist sicherlich richtig, sollte aber nicht davon abhalten, eine grundsätzliche Kritik von Partei und Parlament zu formulieren. Viel erwarten kann man von Linkspartei und der Programmdiskussion allerdings nicht. Schließlich würde die von Demirović eingeforderte Staatskritik nicht weniger bedeuten, als die Infragestellung der eigenen parteipolitischen Geschäftgrundlage.

Vom Gehege der Verfassung zur kommissarischen Diktatur?

Langsam könnte man es mit der Angst zu tun bekommen. Demokratische und liberale Verhältnisse waren den Deutschen ja noch nie ein inneres Bedürfnis. Besonders dann nicht, wenn ökonomische Verhältnisse derart erschüttert werden, dass das kleinkarierte Weltbild aus den Fugen gerät und der autoritäre Charakter zu Ruhe und Ordnung gerufen wird. Da orientiert sich die Mittelschicht schon mal gerne an »oben«, grenzt sich nach unten (oder einem imaginären Außen) ab und bleibt vor allem eines: gefügig und sozial friedlich (vgl. Pathologische Kampflosigkeit).

Zählen wir doch mal zusammen:

  • Die gerade erschienene DIW-Studie unterstreicht eine weitere soziale Polarisierung, die vor allem dazu führen könnte, dass sich die Abstiegsangst rassistisch oder sozialchauvinistisch äußert. Die Umfrageergebnisse nach der Hetze von Guido Wetserwelle hatten diese Tendenz bereits angedeutet. (vgl. Christina Kaindl in ak 548)
  • Die soziale Polarisierung wird von einer politischen und kulturellen Elite begleitet, die immer abfälliger einen sozialdarwinistischen Ton anschlägt (Sarrazin, Heinsohn, Sloterdijk). (vgl. u.a. Bühl in ak 544, Albrecht von Lucke in den Blättern 12/2009, sowie hier)
  • Die internationale Kritik (der USA und von Frankreich) an der deutschen Sparpolitik hat eine Kehrseite: Deutschland will sich mit diesem Sparkurs auf Kosten anderer Länder durch die Krise manövrieren. Der Export soll Deutschland retten, also das Ausland für den Aufschwung zahlen (siehe Dani Rodrik). Wo wir wieder beim ersten Punkt wären – Niedriglöhne und Sparpaket. Aber zudem deutet sich hier eine Tendenz an, die an 1929ff. erinnert: Handelskrieg.

Und dann so was: »Deutschlands führende außenpolitische Zeitschrift« (so bezeichnet sie sich selbst) Internationale Politik (IP) macht ein Heftschwerpunkt zum falschen Glanz der Diktatur. Besonders Aufschlussreich ist der einleitende Aufsatz von Herfried Münkler, einem gefragten Politikberater und zugleich Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. german-foreign-policy hat den Aufsatz recht gut zusammengefasst und ist zurecht stutzig bei Münklers Aussage, dass »wenn heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede ist, dann zumeist im Sinne dessen, was [Carl] Schmitt als kommissarische Diktatur bezeichnet hat«.

Wo, fragt man sich, wird denn das Bedürfnis nach ‘Diktatur light’ artikuliert, und von wem? german-foreign-policy konstatieren, dass dies wohl eine »abseits jeder demokratischen Öffentlichkeit geführte Diskussion« sein muss. Dem Deutschlandradio war Münklers Ausführungen keine weitere Anmerkung wert. Kein Wunder, schließlich bezieht er sich auch auf Colin Crouch, mit dem auch so mancheR LinkeR in der Analyse d’accord geht und Münkler bekennt sich natürlich eindeutig zu Demokratie und Rechtsstaat. Das Erschreckende ist aber, dass Münkler den »Leerlauf der Demokratie« nicht aus einer herrschaftskritischen Perspektive durchleuchtet, sondern im Gegenteil nach Sinn und Unsinn diktatorischer Maßnahmen fragt. Continue reading “Vom Gehege der Verfassung zur kommissarischen Diktatur?”

Die Mühe der Ebene. Eigentum und Besitz bei Nicos Poulantzas

Alex Demirovic, Stephan Adolphs und Serhat Karakayali haben in der Reihe Staatsverständnisse bei Nomos einen Band zu Nicos Poulantzas herausgegeben. Dieser ist jetzt erschienen. Darin findet sich auch ein Aufsatz von mir und Sabine Nuss:

Durch die in den letzten Jahrzehnten rasant fortgeschrittene Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien wurde »Geistiges Eigentum« zu einer besonders umkämpften Rechtssphäre. Manch einer vertritt die These, Geistiges Eigentum würde zur zentralen Rechtsform des 21. Jahrhunderts bzw. des »Informationszeitalters« werden. Hintergrund dieser Entwicklung ist die Digitalisierung von Inhalten geistig-kreativer Schöpfung. Durch die elektronische Datenverarbeitung und die grenzüberschreitende Vernetzung von Computern können geistig-kreative Schöpfungen weltweit unautorisiert verbreitet werden. In den vergangenen Jahren hat es etliche Maßnahmen gegeben, die dieser Praxis Einhalt gebieten sollen. So wurde u.a. das Urheberrecht angepasst und Kopierschutztechnologien entwickelt sowie Kampagnen durchgeführt, die das »Unrechtsbewusstsein« der NutzerInnen wecken sollten (»Raubkopierer sind Verbrecher«). Auf internationaler Ebene wurde das internationale Regelwerk TRIPS in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen, um die Eigentumsrechte im zunehmend weltweiten Warentausch mit Gütern geistigkreativer Schöpfung zu sichern.

Die aktuellen Entwicklungen und Debatten um Geistiges Eigentum sind vorliegendem Text Anlass für eine Re-Lektüre von Nicos Poulantzas’ Klassen im Kapitalismus – heute von 1974, in dem er den Wandel von Eigentumsverhältnissen seiner Zeit als eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der herrschenden Klasse analysiert. Vor diesem Hintergrund wollen wir Poulantzas’ Konzeption von Eigentum eingehender vorstellen und diskutieren.

Weiterlesen in: Nuss, Sabine/ Stützle, Ingo (2010): Die Mühe der Ebene. Eigentum und Besitz bei Nicos Poulantzas, in: Demirović, Alex/ Adolphs, Stephan/ Karakayali, Serhat (Hg.): Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis, Baden-Baden, 115-131.

Die Tage wird sicher das komplette Inhaltsverzeichnis auf der website einsehbar sein.

Der Staat, das verflixte Ding. Warum materialistische Staatstheorie für linke Politik hilfreich sein kann

Linke Politik findet, so selbstbewusst und kämpferisch sie auch sein mag, immer in einem staatlichen Kontext statt. Entsprechend machen die Partei DIE LINKE, Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder linksradikale Organisationsansätze wie die Interventionistische Linke sehr verschiedene Erfahrungen mit dem Staat. Sie sind aber mit denselben staatlichen Organisationsprinzipien wie dem bürgerlichen Recht, bürokratischen Verfahren, der parlamentarischen Demokratie, der Parteienkonkurrenz, der Trägheit staatlicher Verwaltung und dem Gewaltmonopol konfrontiert. Diese Organisationsprinzipien kapitalistischer Staaten versucht die materialistische Staatstheorie genauer zu verstehen, wobei „materialistisch“ einen positiven Bezug auf die marxsche Ökonomiekritik meint. Dabei bricht sie mit den Vorstellungen vom Staat als einer von der Gesellschaft getrennten Sphäre. Stattdessen unterstreicht sie, dass der Staat kein Gegenprinzip zur kapitalistischen Ökonomie darstellt, sondern sich beide Momente gegenseitig voraussetzen. Holzschnittartig formuliert: Kein Kapitalismus ohne staatlich garantiertes Eigentums- und Arbeitsrecht, kein Staat ohne kapitalistisch erwirtschaftete Steuern.

Gramsci, Poulantzas, feministische Staatsforschung

Was wie ein theoretisches Gedankenexperiment erscheinen mag, ist in der Geschichte der materialistischen Staatstheorie eng mit den politischen Erfahrungen derjenigen verbundenen, die aus einer materialistischen Sicht den Staat begreifen wollten. Antonio Gramsci analysierte vor dem Hintergrund der Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung und dem Sieg des Faschismus das Verhältnis von Staatsapparaten und Zivilgesellschaft. Nicos Poulantzas markierte in Folge von 1968 und der Probleme der emanzipatorischen Kämpfe ab Mitte der 1970er die Grenzen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte, sich in die politische Ausrichtung des staatlicher Apparate einzuschreiben. Und die feministisch- materialistische Staatsforschung beschäftigte sich mit dem Staat, da sie vor dem Problem stand, dass die feministische Bewegung nicht nur repressiv unterdrückt, sondern auch politisch anerkannt wurde, und als Folge dessen feministische Bewegungsmomente in staatlicher Politik zu verschwinden drohten. Staatstheorie, die den Staat begreifen will, ist vor allem Begriffsarbeit, die sich in Begriffen wie dem „integralen Staat“ (Gramsci), dem Staat als der „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas), dem „Staat des Kapitals“ (Agnoli) oder dem „politischen Maskulinismus“ (Sauer) konkretisiert. Damit sind kapitalismus- und staatskritische Politikauffassungen verbunden, die eine andere Reflexion auf politisches Handeln zulassen, als die in der politischen Öffentlichkeit gängigen.

Linke Parteien

Dieses wollen wir anhand der Erfahrungen mit und von linken Parteien in aller Kürze skizzieren. Während im Mainstream die Gründung von Parteien als politische Option von interessierten BürgerInnen verhandelt wird, versteht die materialistische Staatstheorie sie primär als politischen Druck auf gesellschaftliche Akteure, die sich politisch organisieren wollen. Denn Parteien als Formen politischer Organisation kanalisieren, filtern und formatieren Interessen: Zur Parteiform gehören hierarchische Parteistrukturen, die Verfassungstreue (wozu u.a. auch die Unhinterfragbarkeit der Eigentumsordnung gehört), das parlamentarische Wirken innerhalb durch konservative Kräfte bestimmte parlamentarischen Strukturen und eine bürokratische Logik, die sich an den staatlichen Apparaten ausrichtet.

Prägend für die neuere staatstheoretische Debatte zur Frage von Parteien ist vor allem die Erfahrung mit den Grünen: Anfang der 1980er aus einer breiten, linken sozialen Bewegung zum „Marsch durch die Institutionen gestartet“, landete sie ab 1998 punktgenau bei der Zustimmung zum Kosovo-Krieg und zur neoliberalen Agenda 2010. Eine Erklärung für diese Entwicklung in Anschluss an Gramsci würde sich auf die Veränderung interner Positionen in der grünen Auseinandersetzung um hegemoniale Weltanschauungen fokussieren: Sie reichen von einer Transformation grüner Positionen von einer oppositionellen Bewegung zu einer oppositionellen Partei zu einer staatstragenden Partei, in der Positionen wie „außenpolitische Verantwortlichkeit“, „ökologische Modernisierung“ und „aktivierende Sozialpolitik“ schlussendlich wichtiger wurden als linke Positionen zu „Frieden“, “ökologischer Kapitalismuskritik”, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Selbstorganisierung“. Dabei ist zu beachten, dass das etablierte parlamentarische Spektrum durch die Parteienkonkurrenz und den daran angeschlossenen Medienapparat massiven Druck auf linke Kräfte ausübt, politische Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.

Poulantzas wiederum hat sich insbesondere mit der Materialität staatlicher Apparate beschäftigt, also der Frage, welche gesellschaftlichen Praktiken in Staatsapparate eingeschrieben sind, und inwiefern diese gesellschaftliche Kräfte formieren und Interessen verändern. Poulantzas beharrte darauf, dass politisches Handeln im Staat nicht in freien Willensbekundungen linker Kräfte aufgeht. Dies bezieht sich auf den existierenden Korpus an Gesetzen und Verfahren, an den linke Positionen „systematisch“ anschließen müssen, wollen sie „sinnvolle Politik machen“. Als Resultat davon kann es zu einer symbolischen Transformation linker Politik kommen, so dass diese auf Grund ihres staatstragenden Auftretens für rechtlich und verwaltungstechnisch nicht geschulte, außerparlamentarische linke Akteuren nicht mehr erkennbar ist.

Standbein und Spielbein

Soziale Bewegungen stellen über ihre eigenständige Selbstorganisierung hinaus eine gesellschaftliche Kraft dar, die linke politische Projekte legitimieren (z.B. Umweltpolitik entgegen bestimmter Kapitalinteressen) oder dafür sorgen können, dass linke Parteien gegenüber dem parlamentarischen Alltag politischen Rückhalt bekommen. Die grüne Partei diskutierte dieses in den 1980ern als Verhältnis von „Standbein und Spielbein“. Das Standbein stellt die organisierte außerparlamentarische Politik dar; das Spielbein die Repräsentation und Politik im Parlament. Diese Debatte war von dem Bewusstsein geprägt, dass dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsterrains von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik und den divergierenden Reichweiten linker Forderungen alles andere als unproblematisch und konfliktfrei ist. Gegenwärtig müsste es daher darum gehen, sich eine derartige Perspektive wieder anzueignen, da DIE LINKE nicht aus einer breiten sozialen Bewegung entstanden ist, gleichzeitig jedoch auch nicht als linke Kraft im neoliberal-konservativen parlamentarischen Spektrum ohne soziale Bewegungen als außerparlamentarische Bündnispartner überleben wird. Zentral hierfür ist, die zu Beginn des Artikels geschilderten Interessenswidersprüche zwischen linken Akteuren in einem solchen Bündnis auszuhalten. Dieses beinhaltet einerseits, eine Zusammenarbeit oder gar Bezugnahme von Teilen der außerparlamentarischen Opposition mit oder auf die Partei nicht für prinzipiell unmöglich zu erklären und andererseits von einer widerspruchsfreien Symbiose in einem gemeinsamen politischen Projekt abzurücken. Realistischerweise müsste es gegenwärtig somit darum gehen, überhaupt eine derartige Perspektive wieder aufzumachen und sich über die Bedingungen einer solchen mit dem nötigen staatskritischen Rüstzeug zu verständigen.

Lars Bretthauer/ Ingo Stützle

Erschienen in: prager frühling. Magazin für Freiheit und Sozialismus, Nr.3, 2009, 9-10.

Mit Poulantzas die G8 verstehen. Das Gipfel- treffen der Industriestaaten als staatstheoretisches Problem

Die Kämpfe um und gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm sind vorbei. Während die Proteste ihre Erfolge gezeitigt haben, bleibt die Frage, gegen was sie sich eigentlich gerichtet haben. Öffentlich wahrgenommen wurden vor allem zwei Momente der Kritik: Das Treffen sei auf Grund der kleinen Anzahl von teilnehmenden Staaten illegitim, und die neoliberale und kriegstreiberische Politik der G8-Staaten sei abzulehnen. Welche konkrete Funktion der G8-Gipfel jedoch abseits einer umfassenden Gleichsetzung mit der neoliberalen Globalisierung hat, darüber herrscht Uneinigkeit. Im Folgenden wollen wir mit Nicos Poulantzas’ Staatstheorie die Politik der G8 zu verstehen versuchen.
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Endlich erschienen: Poulantzas lesen

Poulantzas LesenNach viel Arbeit ist endlich der Sammelband “Poulantzas lesen” beim VSA-Verlag erschienen. Dort kann der Band auch bestellt werden. Denkt aber bitte auch an die linken Buchläden bei Euch um die Ecke! Unter www.poulantzas-lesen.de werden wir weiteres Material und Besprechungen sammeln. Die Tage wird die Seite zudem komplett überarbeitet werden. Eine Mailingliste für Diskussionen ist bereits aufgesetzt und wird demnächst aktiviert werden. Den Spekulationen ist somit ein Ende gesetzt. Das Buch ist da!!!

Der Klassenfeind steht immer im Staat. Nicos Poulantzas zum 70. Geburtstag

“Die Geschichte selbst hat uns bis heute kein gelungenes Experiment des demokratischen Wegs zum Sozialismus gegeben. Stattdessen hat sie uns negative Beispiele gezeigt, die man vermeiden, und Irrtümer, über die man nachdenken muss.” Nicos Poulantzas, von dem diese Zeilen stammen, ist wie kaum ein/e andere/r marxistische/r TheoretikerInnen der Nachkriegszeit dieser Aufforderung nachgekommen. Dass er dabei den kapitalistischen Staat ins Zentrum seiner analytischen Anstrengungen stellte, ist sicherlich ein Grund dafür, warum er in den letzten Jahren – im Zuge des Abgesangs auf den Nationalstaat – verstärkt in linke Debatten zurückgefunden hat. Am 21. September wäre Poulantzas 70 Jahre alt geworden.
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Vortrag und Diskussion: Nicos Poulantzas – Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie

Nicos Poulantzas (1936-79) erkannte frühzeitig die Auflösungserscheinungen des fordistischen Vergesellschaftungsmodus. In Auseinandersetzung mit Marx, Gramsci, Foucault u.a. formulierte er Fragestellungen und Einsichten, die trotz ihrer Aktualität in linken Debatten lange Zeit nicht auftauchten. Seine Analyse der Durchsetzung des Neoliberalismus und seiner gegenwärtigen Hegemonie sind von großer Aktualität. Seine These, daß der Staat als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu verstehen ist, ist für das Verhältnis zum Staat für emanzipatorische Bewegungen ebenso zu überprüfen wie die Perspektive eines ‘demokratischen Sozialismus’, der innerhalb wie außerhalb staatlicher Institutionen entstehe. Die Veranstaltung soll auch Anfängerinnen und Anfänger Einstiegshilfen geben und zur weiteren Auseinandersetzung mit Poulantzas anregen.

Ingo Stützle (Politologe, Mitherausgeber von „Poulantzas lesen“, VSA 2006, AK-Redakteur, Berlin)

Do. 07.09.06 | 19:30 Uhr
Hamburg-Haus Eimsbüttel
Dormannsweg 12 | Raum 14

Teilnahmegebühr 2,- €

Von Stellungs- und Bewegungskriegen – Kämpfe in und um den Staat. Eine Einführung in die materialistische Staatstheorie

Dem Staat begegnet man überall: auf Demos, im Sozialamt oder in der Universität. Deshalb haben wir immer schon bestimmte Vorstellungen darüber, was er ist, welche Funktionen er hat und wie er zu anderen gesellschaftlichen Momenten in Beziehung steht. Wenn der Krieg gegen den Irak darauf zurückgeführt wird, dass bestimmte Regierungsfunktionäre der USA in er Ölindustrie beschäftigt sind oder waren, so steckt dahinter die Vorstellung, dass bestimmte Einzelkapitale unmittelbaren Einfluss auf die Staatsregierung haben und die Regierungsgeschicke lenken. Wenn in der globalisierungskritischen Bewegung eingeklagt wird, der Staat solle endlich seiner Funktion als Garant des Allgemeinwohls für alle BürgerInnen nachkommen, wird ihm eine Funktion unterstellt, die es nur zu verwirklichen gilt: wenn nötig durch Druck von der Straße. Das sind nur zwei Beispiele. Das politische Bewusstsein ordnet die gesellschaftliche Wirklichkeit nach bestimmten Vorstellungen von Staat, auch wenn keine Theorie vom Staat zugrunde liegt. (1)
Genau das ist der Einsatzpunkt für eine theoretische Beschäftigung mit der Form Staat und seinen Funktionen. Da trotz aller verstreuten, mehr oder weniger hilfreichen Anmerkungen eine Theorie des Staates bei Marx nicht zu finden ist, beginnt eine ausdrücklich materialistische Staatstheorie erst mit Antonio Gramscis Analysen der Oktoberrevolution und der Niederlage der revolutionären Prozesse in Westeuropa. Seine Kritik der Politik hat bis heute nichts an Aktualität verloren.

Gramsci – Schützengräben im Klassenkampf

Die zentrale Fragestellung im Werk von Antonio Gramsci (1891-1937) war: Warum gelang die Revolution in einem zurückgebliebenen Land wie Russland, nicht aber in den wirtschaftlich entwickeltsten Staaten des kapitalistischen Westens? Wie war diese Niederlage möglich? Die Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung musste er unter den Faschisten am eigenen Leib erfahren: er wurde ins Gefängnis gesteckt und starb an den Folgen der Haft.
Das Scheitern der revolutionären Bewegungen im Westen macht für ihn die Schwachpunkte der gängigen Revolutionstheorien deutlich. Er kritisiert den ”revolutionären Attentismus” der II. Internationale, die auf den großen und alles entscheidenden “Kladderadatsch” (Bebel) wartete. Aber in ihrer Hoffnung, die russische ”Revolution gegen das Kapital” lasse sich einfach auf den Westen übertragen, werden auch die theoretischen Ausführungen der linksradikalen Organisationen der komplexen Situation nicht gerecht. Deshalb versucht Gramsci, die begriffliche Apparatur der marxistischen Theorie zu erweitern. In seiner Staatstheorie kommt dem Begriff Hegemonie ein zentraler Stellenwert zu. Darunter versteht er die Fähigkeit der herrschenden Klassen, ihre Interessen so durchzusetzen, dass sie von den subalternen Klassen als Allgemeininteressen anerkannt werden und sich ein ”aktiver Konsens der Regierten” zu einem “historischen Block” materialisiert. Die Hegemonie der herrschenden Klasse in einem historischen Block bedarf allerdings eines realen, materiellen Kompromisses und ist kein bloßer ideologischer Schein. Beispielhaft für einen solchen historischen Block war der sozialstaatliche Klassenkompromiss in der Nachkriegszeit auf der Basis von Fordismus und Keynesianismus.
Den ”Ort”, an dem soziale Kräfte um Hegemonie ringen, bezeichnet Gramsci als Zivilgesellschaft. Damit meint er Institutionen wie Familie, Schule, Kirchen, Militär, und politische Gruppierungen, aber auch Sportverbände und andere Vereinigungen des “bürgerlichen” Lebens. In all diesen Institutionen materialisiert sich die herrschende Ideologie. Deshalb ist die Zivilgesellschaft kein neutrales Terrain, sondern herrschaftsförmig organisiert. Im Blick auf die Zivilgesellschaft unterscheidet Gramsci zwei Modalitäten staatlicher Macht: den Staat im engeren Sinn, d.h. den Regierungsapparat und die politisch-juridischen und repressiven Organisationen (“politische Gesellschaft”), und den “erweiterten” oder integralen Staat, der sich aus der ”politischen Gesellschaft” und der “Zivilgesellschaft” zusammensetzt.
Von dieser Unterscheidung her analysiert er dann den Sieg der Oktoberrevolution und die Niederlage der Revolution in Westeuropa. Während in Russland ein Zentrum der Macht erstürmt und zerstört werden konnte, bestand ”im Westen zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand” (GH 4, S. 874). Reduzierte sich im Osten Staatsmacht auf repressive Gewalt, war Staatsmacht im Westen ”Hegemonie, gepanzert mit Zwang” (GH 4, S. 783).

Die Krise des Marxismus –
die Interventionen Althussers

Nach dem II. Weltkrieg kam es im Kalten Krieg zu einer rasanten Restauration kapitalistischer Verhältnisse, während die etablierten kommunistischen Parteien vollständig unter der Hegemonie der KPdSU und damit des Stalinismus gerieten. Die ging so weit, dass sich die französische KP der “Entstalinisierung” der KPdSU nach dem XX. Parteitag widersetzte. Da sie gleichzeitig während der antikolonialen Kämpfe in Algerien keine klare Position bezog, führte sie die traditionelle Arbeiterbewegung in die Stagnation. Auf diese Krise antwortete Jean-Paul Sartres existenzialistischer Marxismus, der auf subjektives Handeln und eine aktivistische revolutionäre Praxis setzte. Die KPF öffnete sich dieser Herausforderung erst spät und orientierte sich in internen Debatten im Rückgriff auf den frühen und humanistischen Marx. Dagegen wollte Louis Althusser (1918 – 1990) Marx mit Erkenntnissen aus Psychoanalyse und Strukturalismus konfrontieren. Die Folge war eine Schule machende Neulektüre des Kapital, die bis heute zahlreiche ideologie- und subjekttheoretische Arbeiten inspiriert.

Ideologie und ideologische Staatsapparate (IISA)

Althusser greift in seinem programmatischen Aufsatz ”Ideologie und ideologische Staatsapparate” (IISA) die Ideen Gramscis auf. Ihm geht es um die Frage, wie sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in den (Alltags-) Ideologien der Subjekte reproduzieren. Die erste begriffliche Unterscheidung, die er trifft, ist die zwischen Staatsmacht und Staatsapparat. Der Staatsapparat ist relativ autonom vom Besitz der Staatmacht. Ferner unterscheidet er zwischen “repressiven” und “ideologischen Staatsapparaten” (RSA bzw. ISA). Funktionieren die ISA ”in erster Linie” mit Ideologie, arbeiten die RSA primär mit Gewalt. Dabei ist ihm bewusst, dass es keine ”reinen” Apparate gibt und sich die Unterscheidung von RSA und ISA nur im Blick auf ihre jeweils dominierende Funktionsweise treffen lässt.
Die Funktion der ISA ist es, obligatorische Verhaltensweisen hervorzubringen. Althusser konzipiert dies als Anrufung der Individuen als “Subjekte”. Subjekt ist, wer sich der ideologischen Anrufung freiwillig unterwirft und ihre “Rituale” befolgt. Der Machteffekt der Anrufung besteht darin, dass sich ein Individuum gerade dann für “frei” hält, wenn es sich als Subjekt erfährt. Auch die Parteien der ArbeiterInnenbewegung seien Elemente der ISA: Die Ideologie der Arbeiterparteien rufen die Mitglieder als ”Kämpfer-Subjekte” an (Althusser 1977, S. 164).
Während Althusser in IISA selbst von einer marxistischen Staatstheorie spricht, tritt er im Rahmen einer Konferenz, die sich mit der ”Krise des Marxismus” herumschlägt, die Flucht nach vorne an: ”Wir können es offen sagen: Es gibt eigentlich keine tatsächliche ‚marxistische Staatstheorie’” (Althusser 1978, S. 65). Eine Reihe von Faktoren trugen zu dieser Feststellung bei: Der Staat war in den realsozialistischen Staaten alles andere als abgestorben und in der Konfrontation mit dem stalinschen Erbe standen die kommunistischen Parteien – allen voran die italienische KPI und die französische KPF – unter Legitimationsdruck; nicht zuletzt auch aufgrund der neuen sozialen Bewegungen, die die Form Partei als solche in Frage stellten. Deshalb fordert Althusser im Anschluss an Marx’ ”Kritik der Politischen Ökonomie” eine ”Kritik der Politik” (ebd., S. 73).

Nicos Poulantzas – Der Staat als soziales Verhältnis

Anfang der 60er Jahre kam der in Griechenland geborene Poulantzas (1936 – 1979) nach München, um zu promovieren. Wegen der dort noch sehr von nationalsozialistischen Ideen geprägten Atmosphäre siedelte er schon bald nach Paris über. War er zu dieser Zeit noch vom exististenzialistischen Marxismus Sartres geprägt, weil dieser Handlung, Subjekt und soziale Auseinandersetzungen ins Zentrum rückte, näherte er sich ab Mitte des Jahrzehnts den Positionen Althussers an und entwickelt schließlich immer stärker eigene Positionen. Nach den Mairevolten von 1968 rezipierte er nicht nur Schriften, die die Frage von Massenbewegung und Kulturrevolution einbezogen, sondern beschäftigte sich auch mit anderen Theorien – vor allem mit den Arbeiten Foucaults.
Im Gegensatz zu Althusser sind die Arbeiten von Poulantzas stärker von strategischen Fragestellungen durchzogen. Im Mittelpunkt steht der Bezug der Klassenkämpfe zur konkreten Staatlichkeit einerseits unter faschistischer oder diktatorischer Herrschaft, andererseits in den parlamentarischen Demokratien. Seine theoretische Anstrengung gilt dem Verständnis der letzteren und der Frage nach einer adäquaten kommunistischen Praxis. Er kritisiert, dass alle bisherigen revolutionären Versuche die bürgerlichen Freiheitsrechte beseitigt hätten, eine emanzipatorische Linke diese aber nicht leichtfertig zur Disposition stellen dürfe. Stärker als Althusser bezieht er die neuen sozialen Bewegungen und die Krise der kommunistischen Parteien explizit in die theoretische Auseinandersetzung ein. Sein sehr viel konsequenterer Bruch mit dem immer noch verbreiteten marxistischen Dogmatismus zeigt sich in seiner Ablehnung zentraler Begriffe wie Basis/Überbau oder ”Diktatur des Proletariats”. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Theoretikern stellen diese Begriffe für ihn schon damals Sackgassen dar.

Der Staat als materielle Verdichtung sozialer Kräfte

Ausgangspunkt seiner Staatstheorie ist die Kritik an zwei grundlegenden Vorstellungen: Der Staat als Sache/Instrument und der Staat als Subjekt. Die letztere schreibt dem Staat eine eigene Rationalität zu oder konzipiert diesen als Träger und Durchsetzungsform der Vernunft. Eine größere Rolle spielen aber die Vorstellungen, die den Staat als neutrale Sache konzipieren, deren Gebrauch vom Willen des Besitzers abhängig ist. Diesem Kurzschluss entgeht Poulantzas, indem er im Anschluss an Althusser zwischen Staatsapparaten und Staatsmacht unterscheidet. Allerdings lehnt er Althussers Vorstellung des Staatapparats als “Festung” ab. Der kapitalistische Staat dürfe nicht ”als ein sich selbstbegründendes Ganzes” begriffen werden, “sondern, wie auch das ‚Kapital’, als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt” (Poulantzas 1978, S. 119). Der Staat ist ein Kampffeld, das sich in formierten Institutionen verkörpert.
Den Zusammenhang von Politik und Ökonomie denkt Poulantzas immer als eine wechselseitige Konstitution. So ist der Staat durch seine Abwesenheit in der Ökonomie anwesend und ermöglicht gerade durch seine Abwesenheit die Konstitution einer autonomen ökonomischen Sphäre. Dabei kommt der Politik gegenüber der Ökonomie in so weit das Primat zu, als der Staat die zentrale Funktion hat, den Zusammenhalt der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu organisieren: nur er kann die langfristige Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft garantieren. Zwar sind damit deren grundlegenden Widersprüche und Krisenhaftigkeit nicht beseitigt, doch gibt der Staat eine Form vor, in der sich diese bewegen können. So ist der Staat in allen Kämpfen als Struktur präsent, während zugleich die Kämpfe stets Kämpfe im Staat sind. Die Beziehung zwischen Staat und Ökonomie ist folglich keine äußerliche und der Staat selbst das zentrale Feld gesellschaftlicher Widersprüche. Indem er der ”Ort” ist, an dem ein von allen Klassen relativ unabhängiges, herrschaftsförmiges Kompromissgleichgewicht organisiert wird, gewinnt der Staat eine ”relativen Autonomie” gegenüber allen Klassen. Genauer: erst der Staat organisiert die Bourgeoisie zur Klasse. Zuvor stehen die bürgerlichen Klassenfraktionen in Konkurrenz zueinander und stellen dabei den jeweils erreichten Klassenkompromiss in Frage. Je stärker die Widersprüche zwischen den Fraktionen werden, desto stärker ist die Autonomie des Staates. Da der Kompromiss auch die subalternen Klassen einschließen muss, sind auch sie und ihre Interessen im Staat präsent. Deshalb schließt der Kompromiss unter anderem materielle Zugeständnisse an die Subalternen ein, die dadurch aber gerade nicht zur Klasse organisiert, sondern untereinander fragmentiert und gespalten werden.
Allerdings drücken sich die Kämpfe immer nur vermittelt, nie unmittelbar im Staat aus. Ihre Vermittlung denkt Poulantzas immer im Sinne einer Repräsentation: Etwas, das vorhanden ist, wird durch die Repräsentation politisch neu formatiert, d.h. modifiziert und organisiert. Auch deshalb ist der Staat kein ”monolithischer Block ohne Risse” (ebd., S. 122), sondern durch Klassenwidersprüche gespalten, in die sich die Klassen im Maß ihrer Macht einschreiben. Das findet seinen Ausdruck dann auch im unterschiedlichem Gewicht und in den Grenzlinien zwischen den Staatsapparaten.
Ist der Staat in vielen marxistischen Ansätzen stets Klassenstaat, geht Poulantzas einen entscheidenden Schritt weiter und weist in seinem Buch Staatstheorie ausdrücklich darauf hin, dass der Staat nicht nur durch Klassenkämpfe, sondern durch verschiedene soziale Kämpfe bestimmt wird. Ohne genauer darauf einzugehen, hebt er dabei die Geschlechterverhältnisse hervor. Er verweist auf die Probleme, vor die die neuen sozialen Bewegungen die traditionellen Arbeiterparteien stellen, die aufgebaut sind, als könne die Gesellschaft auf die Fabrik reduziert werden. Jedoch geht er nicht so weit, auf die Autonomie der Bewegungen zu setzen: ”Ich halte es durchaus für notwendig, dass diese sozialen Bewegungen eine reale Autonomie besitzen, aber zugleich müssen die Parteien der Linken in ihnen auf geeignete Weise präsent sein. Allerdings macht gerade diese Forderung eine radikale Umwandelung eben dieser Parteien erforderlich.” (1979, S. 135)

Nützliche Gegengifte

Da materialistische Staatstheorie die Probleme emanzipatorischer Praxis vor dem Hintergrund konkreter Kämpfe und der spezifischen Verfasstheit kapitalistischer Produktionsweise bearbeitet, dürfen ihre konkreten Erkenntnisse nicht einfach verallgemeinert werden. Statt dessen müssen sie in ihrer Besonderheit behandelt werden und immer nach ihren Konstitutionsbedingungen und ihrer Verallgemeinerbarkeit hin befragt werden. An den Fragen und Problemen, an denen die genannten Autoren stehen und in denen sie stecken geblieben sind, gilt es auch in den heutigen Debatten anzusetzen. Um so erstaunlicher aber ist es, dass weder Hardt/Negri (2002) noch Holloway (2002) auf Poulantzas Staatstheorie eingehen. Beide haben die Tendenz zu vereinfachenden, instrumentalistischen Staatsvorstellungen, in denen wichtige Differenzierungen wieder verloren gehen. Diese Differenzierungen dürfen umgekehrt nicht dazu führen, die Herrschafts- und Gewaltförmigkeit der staatlichen Apparate auszublenden, wie dies historisch sowohl in den diversen Stamokap-Theorien als auch in den Vorstellungen vom ”Marsch durch die Institutionen” der Fall war. In sträflicher Weise wurde vor allem in den 90er Jahren der Herrschaftscharakter der kapitalistischen Staaten in den Theorien von Global Governance und der Weltbürger- und –zivilgesellschaft ausgeblendet. Als Gegengift zu solchen Ansätzen, die den Staat als ein grundsätzlich herrschaftsfreies Terrain begreifen, ist die Lektüre der hier vorgestellten Autoren nach wie vor unverzichtbar.

Ingo Stützle ist Aktivist bei FelS (Für eine linke Strömung) in Berlin und arbeitet dort in der AG Sozialer Widerstand.

Der Artikel wurde von der Redaktion stark gekürzt. Die Langfassung ist unter www.akweb.de/Fantomas nachzulesen.

Anmerkung:
1) Die arranca!-Redaktion (2002) hat das Verhältnis an mehreren Punkten durchdiskutiert: Organisationsfrage, Existenzgeld, Staats-Antifa und Globalisierungskritik.

Literatur:
arranca!-Redaktion (2002): Staatsangelegenheiten, in: arranca! Für eine linke Strömung, Nr. 24
Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg
Althusser, Louis (1978): Die Krise des Marxismus, Hamburg
Gramsci, Antonio (1990ff.): Gefängnishefte, 10 Bde., zitiert: GH, Hamburg
Hardt, Michael / Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Darmstadt
Holloway, John (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster
Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie, Hamburg
Poulantzas, Nicos (1979): ‘Es geht darum, mit der stalinistischen Tradition zu brechen!’, in: Prokla 37, 127 – 140.

Erschienen in: fantômas, Nr.5, 2004, 7-10.