Die Herrschaft des Privateigentums

Ingo Stützle schreibt zu Mythos und Realität der »Chicago Boys« bei der Durchsetzung der neoliberalen Agenda nach dem Militärputsch in Chile vor 50 Jahren.

um ein Text, der sich kritisch mit der Geschichte und der Durchsetzung des Neoliberalismus beschäftigt, der nicht den Militärputsch in Chile vor 50 Jahren und die sogenannten Chicago Boys erwähnt. So schreibt David Harvey in seiner »Kleinen Geschichte des Neoliberalismus«: »Damals wurde ein Team von Ökonomen nach Santiago beordert, das der chilenischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen sollte. Man nannte sie die ›Chicago Boys‹«. Die chilenischen Ökonomen, ausgebildet bei neoliberalen Größen wie Milton Friedmann und Friedrich August von Hayek, so die gängige Erzählung, hätten damals das neoliberale Handwerkszeug von Privatisierung bis Deregulierung im Handgebäck gehabt, das sie unter Laborbedingungen ausprobieren sollten. Für Liberale ist die solidarische Begleitung der mörderischen Militärdiktatur, nicht mehr als ein »Sündenfall«, so Rainer Hank, dessen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS, 26.3.2023) auch mit den »Chicago Boys« betitelt ist. Wenn auch so einiges, was hierzu geschrieben wird, stimmt, so zeigt sich, dass das konterrevolutionäre Bündnis aus Militär und Wissenschaft nicht so »organisch« und fest war, wie gerne behauptet wird – und der Faschismus ist auch keine »Ursünde« der liberalen Tradition, wie es etwa Hank behauptet, sondern ihr als Potenzialität eingeschrieben.

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FAQ. Noch Fragen? (A)typisch: Prekarität als neue Normalität

siestaLaut einer neuen DGB-Studie (»Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten«) gehen etwa 30 Prozent der unter 35-Jährigen einer »atypischen« Beschäftigung nach – bei den unter 25-Jährigen ist es sogar fast die Hälfte. Unter »atypisch« versteht man befristete oder Teilzeitjobs, Zeitarbeit oder Minijobs. Laut dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) waren 2014 sogar fast 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs tätig. Selbst im öffentlichen Dienst schreitet die atypische Beschäftigung voran – und nicht nur im Wissenschaftsbetrieb. Das zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit von 2015 (»Befristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst«). Ihre Untersuchung zeigt, dass der Anteil der befristeten Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Sektor über zehn Prozent höher ist als in der Privatwirtschaft. Untersucht wurde der Zeitraum von 2004 bis 2014. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? (A)typisch: Prekarität als neue Normalität”

Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach

MirowskiMit der Krise vor über fünf Jahren witterten so manche Linken Morgenluft. Die Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus würden größer. Inzwischen ist deutlich geworden, dass der Neoliberalismus alles andere als infrage steht. Dieser Hartnäckigkeit widmet Philip Mirowski sein neues Buch. Der Wirtschaftswissenschaftler war bereits zu Beginn der Krise gern gesehener Interviewpartner oder Autor in der FAZ, als noch der verstorbene Frank Schirrmacher dem Feuilleton vorstand. Dieser verstand jedoch nie, dass Konservative wie er für Mirowski ein Teil des Problems sind – nämlich als Verteidiger des Status quo. (1) Das zeigt das neue Buch, das bereits 2013 in englischer Sprache erschien.

Das Buch »soll die Strategien der Neoliberalen dokumentieren und ihre Erfolge begutachten, zu denen häufig auch die Wirtschaftswissenschaftler beigetragen haben.« Hierfür hält der Autor einen ganzen Strauß an Erklärungen bereit. Ein Großteil davon besaß jedoch auch schon vor der Krise Gültigkeit: Mirowski zeichnet nach, wie sich der Neoliberalismus etablierte und festigte und nach und nach alle Poren der Gesellschaft besetzte. Continue reading “Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach”

Telepolis-Interview zum Buch »Ist die Welt bald pleite?«

In der Öffentlichkeit wird der ökonomische Verstand einer schwäbischen Hausfrau stets als Vorbild staatlichen Haushaltens gepriesen, aber wird dieses Bild der vielleicht doch komplexeren volkswirtschaftlichen Wirklichkeit gerecht? Stephan Kaufmann und ich argumentieren in unserem Buch Ist die Welt bald pleite? dagegen.

Sparprogramme der Politik liefen in der Vergangenheit regelmäßig wie folgt ab: Mit dem Versprechen, Schulden abzubauen, wurden zu Lasten der Armen und der Bevölkerungsmehrheit Sozialausgaben gestrichen und öffentliche Güter privatisiert, während Unternehmen und Vermögende von missliebigen politischen Maßnahmen verschont blieben. In der Praxis waren am Ende solcher Maßnahmen die Schulden üblicherweise höher als davor, was häufig zu einer Verschärfung der Sparprogramme führt.

In einem Telepolis-Interview stehen wir Rede und Antwort:

Teil 1: “Staatliche Sparsamkeit kennt immer Profiteure und Verlierer”
Teil 2: “Jede Wette, dass die Schuldenbremse die nächste Krise nicht überlebt”

FAQ. Noch Fragen? Der Euro: stabil und unterbewertet

Deutschland ist Exportweltmeister. In Brüssel heißt es: »Deutschlands erfolgreichste Armee ist die deutsche Industrie.« Wenn der Außenwert des Euro schwach ist, sind Waren »made in Germany« billig, was den Außenhandel weiter anheizt. Das findet nicht nur Merkel gut, schließlich ist das die Voraussetzung dafür, dass es an der »Heimatfront« ruhig bleibt. Gleichzeitig sorgt sich nicht nur die Bundesbank um den Euro. Er sei zu schwach, die Europäische Zentralbank (EZB) verfolge eine falsche Politik – und nicht nur deshalb drohe Inflationsgefahr. Die Bundesbank versteht sich als Stabilitätsanker einer harten und stabilen Währung. Ein Widerspruch? Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Der Euro: stabil und unterbewertet”

Leere Versprechen mit System. Was ein extra-institutionelles Treffen wie G7 in Elmau soll

Sonnenaufgang im Wettersteingebirge. Foto: CC-Lizenz, 7pc
Sonnenaufgang im Wettersteingebirge. Foto: CC-Lizenz, 7pc

Viele hatten gedacht, dass nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm derartige Treffen kaum mehr eine Rolle spielen. Mit der Krise ab 2008 wurde plötzlich die G20 wichtiger. Nun trifft sich die G7 in Elmau – ohne Russland. Es stellt sich die Frage, gegen was man sich bei derartigen Gipfelprotesten eigentlich richtet. Die G7 ist weder ein Staat, noch etwas, was mit der Europäischen Union (EU) vergleichbar wäre. Nicht einmal der Welthandelsorganisation (WTO) ist der G7-Gipfel ähnlich. Bei der WTO legen miteinander konkurrierende Staaten gemeinsame Spielregeln fest, können ein Schiedsgericht anrufen und sich bei Regelverletzungen sogar sanktionieren. Eine derartig verregelte Institutionalisierung zur Stabilisierung politischer Prozesse stellt die G7 nicht dar. Die G7 verfügen nur über eine schwach ausgebildete Bürokratie und beschränkte Interventionsformen. Die getroffenen Absprachen sind zu wenig verbindlich – im Kern betreibt sie symbolische Politik. Dass sie leere Versprechen sind und bleiben, liegt also in der Sache selbst. Continue reading “Leere Versprechen mit System. Was ein extra-institutionelles Treffen wie G7 in Elmau soll”

FAQ. Noch Fragen? Investitionen für Griechenland

Eine der ersten Wortmeldungen des neuen griechischen Finanzministers Gianis Varoufakis war: »Ich bin Finanzminister eines bankrotten Staats«, und lange stand für die Troika die Forderung im Vordergrund, dass Griechenland den Gürtel enger schnallt. Inzwischen stellt sich die politische Klasse auch die Frage: Wie können Investitionen angeregt werden? In den letzten Wochen wurden deshalb einige Ideen gewälzt. Genannt wurden hierbei einige weniger bekannte Institutionen wie die Europäische Investitionsbank (EIB), die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) oder die diversen EU-Regionalfonds. Aber folgen diese Einrichtungen einer anderen Logik als die der Austerität? Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Investitionen für Griechenland”

FAQ. Noch Fragen? Investitionslücke

Nachdem das Haushaltsloch gestopft ist und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine schwarze Null schreiben kann, war plötzlich in der Zeitung von einem neuen Mangel zu lesen: Um eine bestehende »Investitionslücke« zu stopfen, seien bis 2017 jährlich mehrere Milliarden Euro notwendig – so ein Gutachten der Ökonomen Henrik Enderlein und Jean Pisani-Ferry für das deutsche Wirtschaftsministerium. Bereits im August 2014 hatte das Deutsche Wirtschaftsinstitut (DIW) behauptet, dass schwache Investitionen ein geringes Wachstum zur Folge hätten. Warum aber sollen ausbleibende Investitionen dafür verantwortlich sein, dass die Wirtschaft kaum wächst? Wenn keine Investitionen getätigt werden, werden keine Arbeitskräfte engagiert, werden keine Rohstoffe und Produktionsmittel gekauft – und keine Waren hergestellt, die wiederum verkauft werden. Okay. Aber gilt der Satz nicht auch anders herum? Sind die Investitionen nicht deshalb so schwach, weil die Wirtschaft kaum wächst? Wann sind Unternehmen bereit, Geld in die Hand zu nehmen, sogar Kredite aufzunehmen und zu investieren, das heißt Geld für Löhne, Rohstoffe und Produktionsmittel auszugeben? Genau, dann, wenn die Wirtschaft wächst, Profite winken, aus investiertem Geld (G) mehr Geld (G’) wird. Es zeigt sich also, dass Investitions- und Wachstumsschwäche zwei Seiten einer Medaille sind, nämlich der kapitalistischen Verwertungslogik, deren unmittelbarer Zweck die Verwertung von Geldkapital ist – und der »ultimative Zweck allen Wirtschaftens« ist eben nicht, wie ZEIT-Wirtschaftsredeakteur Mark Schiernitz im Zuge der Debatte um die Investitionslücke behauptete, »der Konsum«. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Investitionslücke”

Out now: Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« – Einführung, Debatte, Kritik

Piketty-Buch»Das vielleicht wichtigste Buch des letzten Jahrzehnts«, nannte es US-Nobelpreisträger Paul Krugman: Thomas Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert, das im Oktober auf Deutsch erscheint, hat wie kaum ein anderes wissenschaftliches Werk international Furore gemacht, die Bestsellerlisten erobert und Begeisterung hervorgerufen – aber auch heftige Kritik provoziert. Piketty wurde zum neuen Karl Marx erklärt und mit dem Revolutionär der Wirtschaftswissenschaften, John Maynard Keynes, in eine Reihe gestellt. Die Grundthese des »Rockstar-Ökonomen« (Financial Times): Im Kapitalismus der letzten Dekaden hat die Ungleichheit dramatische Ausmaße angenommen und wächst stetig weiter – nicht bloß zufällig, sondern mit System. Auf eine Formel gebracht: r > g (die Rendite aus Kapital ist im Normalfall höher als das Wirtschaftswachstum). Damit wird eine kleine Elite immer reicher – und zugleich immer mächtiger. Gerade auch in Deutschland geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander: Das Vermögen der 10 reichsten Deutschen ist größer als das der ärmeren Bevölkerungshälfte (etwa 35 Mio. Menschen) zusammen.

Angesichts des sensationellen Erfolgs der nicht gerade leicht konsumierbaren 800-Seiten-Studie, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, stellt sich die Frage, woher der Hype um Pikettys Buch kommt. Was steht überhaupt drin? Was wird an ihm kritisiert? Und was ist davon zu halten – vom Buch und der Kritik daran?

Zusammen mit Stephan Kaufmann referiere ich in »Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre« Inhalt und Argumente von Pikettys Kapital und erörtere die Kontroversen, die diese »Bibel der Umverteilungspolitiker« (Manager-Magazin) ausgelöst hat; zudem zeigen wir die Grenzen, Widersprüche und Irrtümer der vermeintlichen »Piketty-Revolution« (Krugman) auf.

→ Das Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe sind als PDF online.
→ Zum Dos­sier »Piket­tys Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert«

FAQ. Noch Fragen? Argentinien ist zahlungsunfähig

Anfang August war Argentinien »technisch zahlungsunfähig«. Ratingagenturen stuften das Land deshalb als »bedingt zahlungsunfähig« ein. Die Zuspitzung in den letzten Wochen ist jedoch kaum zu verstehen, wenn man nicht weiß, was sich vor über zehn Jahren abspielte. Ende 2001 war in Argentinien fast alles, was Beine hat, auf den Straßen – mit Kochtöpfen und trotz erklärtem Ausnahmezustand. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Argentinien ist zahlungsunfähig”

Der Krisenstab: »Hallo, hier spricht die EZB …«

Vor einigen Tagen starb Karl Albrecht, der Aldi-Mitbegründer. Laut der aktuellen Forbes-Liste belegte er Platz 23 unter den reichsten Menschen weltweit. Sein Vermögen wird auf über 17 Milliarden Euro geschätzt. Wie viel genau er auf der hohen Kante hatte, weiß niemand. Das ist nicht nur bei ihm so. Continue reading “Der Krisenstab: »Hallo, hier spricht die EZB …«”

FAQ. Noch Fragen? Und täglich grüßt der Dax

Was waren die letzten Wochen aufregend! Bricht der Dax die magische Rekordmarke? Die Medienwelt fieberte den 10.000 Punkten entgegen. Die Präsenz des Aktienindex ist Ausdruck einer gefestigten neoliberalen Hegemonie: Noch Mitte der 1990er Jahre wäre es undenkbar gewesen, dass vor Beginn der Tagesschau und vor der Wettervorhersage die Stimmung auf dem Börsenparkett ausführlich Thema sein könnte. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Und täglich grüßt der Dax”

Die Hilflosigkeit keynesianistischer Makroökonomie

Nachdem die Krise 2008 zu einer internationalen Banken- und Finanzkrise ausartete und eine tiefgreifende Depression nach sich zog, waren Vergleiche mit 1929 an der Tagesordnung. In der Diskussion über wirtschaftspolitische Alternative wurde und wird auch regelmäßig der in den 1930er Jahren angestrengte »New Deal« ins Feld geführt – als positives Beispiel für eine Alternative.

Stephan Schulmeister vom österreichischen WIFO hat nun ein 23seitiges Papier mit dem Titel »Von Roosevelt lernen: Sein ›New Deal‹ und die große Krise Europas« vorgelegt. Der Beitrag ist wie immer lehrreich und interessant – nur etwas hilflos. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn diese politische Hilflosigkeit selbst Thema werden würde. Wird sie aber nicht. Die Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass die Politik Roosevelt allein als kluge Wirtschaftspolitik mit dem nötigen Durchsetzungswillen verkauft wird. War sie das? Mitnichten.

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US-working class disarmed. Grafik von Doug Henwood.

Noch bis 1932 hatte Roosevelt schuldenfinanzierte Staatsintervention abgelehnt. Was überzeugte ihn, einen anderen Kurs einzuschlagen? Es waren die Klassenkämpfe, die in den USA wüteten und viele Menschen politisierten: Neben einer radikalen, großen Arbeitslosenbewegung, die auf Selbstorganisierung setzte, streikten trotz drohendem Jobverlust Millionen von ArbeiterInnen (vor allem in der Autoindustrie). Ein effektives Mittel in den Fabriken waren die berühmten Sit-Down-Streiks. Die Arbeitskämpfe zogen weitere Kämpfe nach sich und machten die Gewerkschaften stark. Die Zahl der Mitglieder vervielfachte sich. Vor diesem Hintergrund war das Kapital gezwungen, die Gewerkschaften als ›Tarifpartner‹ anzuerkennen, und die Demokratische Partei dazu, einen Mindestlohn und die 40-Stunden-Woche zu verabschieden.

Die Arbeitskämpfe und sozialen Konflikten bei der »Geschichtsschreibung« zum New Deal auszublenden, reduziert diesen auf eine »gute Idee« – als eine Verschiebung wollen Willensverhältnissen, statt von gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen, Kräfte, die es in den 1930ern durchaus gab, aber derzeit eben nicht – weder in den USA oder der EU und noch weniger in Deutschland oder Österreich.

USA, 1934: Open battle between striking teamsters armed with pipes and the police in the streets of Minneapolis.

Aufgeblättert: Tödliche Austerität

Stuckler-BasuEs geht um Leben und Tod in der groß angelegten Studie der beiden Autoren, die Gesundheit als genuin politisches Thema verstehen. David Stuckler und Sanjay Basu analysieren nicht nur die Entwicklungen in Island und Griechenland nach Ausbruch der jüngsten Krise, sondern nehmen sich auch älteres Material vor. Nach 1929 weigerten sich in den USA einige Bundesstaaten, den New Deal umzusetzen. Was zeigt: »Die eigentliche Gefahr für die Gesundheit der Allgemeinheit lauert nicht in Rezessionen an sich, sondern in den Sparprogrammen, mit denen diese häufig bekämpft werden.« Wie für angelsächsische Sachbücher mit wissenschaftlichem Anspruch üblich, handelt die gut geschriebene Studie von Selbstmordraten, Lebenserwartungen, Krankheiten, aber auch Stress und Krankheit infolge von drohenden Zwangsräumungen: »Schon einige Zeit, bevor jemand sein Haus verliert, kann bereits eine drohende Zwangsräumung das Krankheitsrisiko erhöhen.« Aber nicht nur kapitalistische Krisen wirken sich negativ auf Leib und Leben aus. Das Buch zeigt eindringlich, dass in ehemaligen realsozialistischen Ländern, die nach 1990 sich dem IWF unterwarfen oder sich möglichst schnell zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft transformieren wollten, die Lebenserwartung teilweise dramatisch zurückging. Leider wollen sich die Autoren weder rechts noch links positionieren und hoffen stattdessen auf einen »demokratischen Weg«, der allein Zahlen und Fakten gehorcht.

Ingo Stützle

David Stuckler und Sanjay Basu: Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit. Wagenbach Verlag, Berlin 2014. 224 Seiten, 19,90 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 594 vom 20.5.2014, Seite 36.