»Where is my vote, Landeswahlleiter?«

Wahlbetrug an der Waterkant? Das ist zumindest nicht ausgeschlossen. Bei den Schleswig Holsteiner Landtagswahlen 2009 wurden im Stimmbezirk „Husum 3“ neun Zweitstimmen für die Linkspartei gezählt. Erstaunlich, gaben doch 42 WählerInnen bei ebenjener Wahl ihre Erststimme an die LINKE; bei der zeitgleich abgehaltenen Bundestagswahl machten 52 (Erststimme) und 47 (Zweitstimme) ihr Kreuzchen ganz links. Eine beachtliche Diskrepanz also. Nun muss nachgezählt werden.

Was wie ein Wahlbetrug im Miniaturformat aussieht, könnte ungeahnte Folgen haben. Denn tauchen bei der Nachzählung nur vier zusätzliche Stimmen für die Linkspartei auf, dann ändern sich die Machtverhältnisse im nördlichsten deutschen Landtag. Ein Sitz der FDP fiele an die LINKE, die Mehrheit der schwarzgelben Landesregierung schrumpfte auf nur eine Stimme Vorsprung.

Wenn Freitag nächster Woche die neue ak-Ausgabe ins Haus flattert, dann ist das eine gute Gelegenheit, sich an dieses Ereignis erinnern. Denn an ebenjenem Tag sollen die Stimmen aus „Husum 3“ im Kieler Landtag neu gezählt werden – öffentlich. Sollte sich nun ein Fehler bei der Neusichtung der bereits mehrfach gezählten Stimmen ergeben, rechnen wir mit spontanen Protesten gegen diese offensichtliche Manipulation auf den Straßen Kiels und Husums, der sich von dort übers ganze Land ausbreitet. Mit blau-weiß-roten Armbändern könnten die Schleswig-HolsteinerInnen lautstark Neuwahlen fordern, Teile der Kirche könnten sich auf die Seite der Protestbewegung schlagen, und die gefürchtete Eutiner Bereitschaftspolizei wüsste gar nicht mehr, wohin sie zuerst ausrücken soll. Ein realistisches Szenario für das Öl-Bundesland Schleswig Holstein? Die letzte Januar-Woche wird es zeigen.

Zu weit auseinander

In der Wochenzeitung Freitag wird seit einiger Zeit über ein ›Projekt‹ namens »linke Mitte« diskutiert. Ich habe mich in die Debatte eingemischt und dazu ein paar grundlegende Fragen aufgeworfen: »Wer nicht über die begrenzenden Logiken von Partei, Parlament und Staat reden will, sollte von einem linken Reformprojekt besser schweigen.«

Weiter beim Freitag.

Re-Sozialdemokratisierung und Parlamentarisierung

La Repubblica aus Italien bringt auf den Punkt, was nach der Wahl links der real existierenden SPD diskutiert wird:

»Das linkszentristische Lager braucht heute zwei Dinge: Die Ausarbeitung eines neuen politischen Gedankens, um die Probleme, die eine radikal veränderte Welt stellt, anzugehen, und die Fähigkeit, alle ihre Kräfte zu vereinen, indem sie der Trennung zwischen Gemäßigten und Radikalen (in ihren eigenen Reihen) ein Ende macht.« (La Repubblica, 29.9.09)

Auf der einen Seite wird eine Re-Sozialdemokratisierung der SPD gefordert. Aber ohne DIE LINKE und/oder die Grünen bleibt ein politische Machtperspektive abstrakt und leer. Kein Wunder also, dass von einigen SozialdemokratInnen eine Entkrampfung des Verhältnisses zur Linkspartei gefordert wird. Eine Entkrampfung, die sich aber nicht nur inmachtpolitischen Spielchen erschöpft, sondern eben auch gemeinsamen Debatten niederschlagen muss (By the way eine Entkrampfung, die plötzlich weder CDU noch FDP auf die Plame zu bringen scheint, sondern als demokratische Bürgerpflicht der SPD gutgeheißen wird). Die zu Zeit nur erahnbare Entwicklung bei der Sozialdemokratie verweist jedoch auch die zweite Seite der Medaille: Den Prozess, den diese neue Optionen bei der Linkspartei auslösen wird. Ein Prozess, der nicht ohne Grund von der SPD freigesetzt werden wird, wie Heribert Prantl bereits letztes Jahr feststellte:

»Es ist das schwere Schicksal der SPD, dass sie nach den Grünen nun wohl auch noch die Linkspartei parlamentarisieren muss.«

Bei den Grünen ist der Prozess der Parlamentarisierung schon länger abgeschlossen. Wohl auch deshalb ist in den letzten Wochen und spätestens seit der großen Anti-Atomdemo in Berlin Anfang September von den grünlackierten Liberalen verstärkt eine Koketterie mit der Macht der Straße zu vernehmen. Was also noch fehlt ist eine breit geführte Debatte innerhalb der radikalen und außerparlamentarischen Linken. Leider wird diese auf sich warten lassen. Leider, denn obwohl ein linker Block links von Schwarz-Gelb noch lange nicht in Sicht ist, stehen diese politischen Kräfte nicht außerhalb des Geschehens und eine kritische und differenzierte Position wird dringend notwendig sein bei der Organisierung von Widerstand gegen die soziale Kaltfront. Apropos kritische Position: Ich glaube ich hatte da mal eine.

Keine Steuerpolitik gegen Minderheiten

Im Anschluss an meine kurze Handreichung sei hier auf ein Chart aus der aktuellen DIE ZEIT hingewiesen, den weissgarnichts dankenswerterweise online gestellt und erweitert hat. Pink eingezeichnet ist die Einkommenshöhe, die nach den Vorhaben der LINKEN höhere Steuern zahlen sollten. Ich sag mal: Sozialismus sieht anders aus. Der rote Strich gaaaanz oben markiert die EinkommensbezieherInnen, die jährlich mehr als 125.000 Euro verdienen und nach den krass radikalen Vorschlägen der SPD mit einem höheren Spitzensteuersatz ausgepresst werden sollen. Nach der Einkommensteuerstatisik sind das ca. 1,6% aller SteuerzahlerInnen. So wie die Diskussionen gegenwärtig geführt wird, werden höhere Steuer für diese, nennen wir sie: Minorität, kaum durchgesetzt werden (Zur Erinnerung: Diese Minorität war es, die vom letzten Aufschwung maßgeblich profitiert hat).

Nachdem die Steuereinnahmen im Zuge der Krise einbrechen, weitere Kosten auf den Staat zukommen werden, stellt sich die Frage: wer soll das wie bezahlen? Wir ahnen schon: Sicherlich nicht die Wir-passen-in-keine-Einkommensgrafik-rein.

ZEIT-Chart zu Gehälter und Steuerpläne von DIE LINKE und SPD

Partei der LangschläferInnen

haengematte

Die FAZ scheint inzwischen gezwungen zu sein, die Linkspartei irgendwie ernst nehmen zu müssen. Wohl auch deshalb rechnet sie heute (16.9.09) im Wirtschaftsteil auf fast einer halben Seite vor, dass das, was DIE LINKE so vor hat alles, nur nicht bezahlbar ist. Eine andere Position hätte man auch nicht erwartet. Besonders lustig wird es gegen Schluss des Beitrags: Neben der Tatsache, dass alles nicht zu finanzieren sei, würde es zu einer »Deformation der Anreizstrukturen« kommen. Und weiter: »Wenn die Positionen der Partei DIE LINKE Politik würden, ließe dies erhebliche Ausweichreaktionen erwarten.« Auch das sind bekannte Argumente. Was aber sind nun die »deformierten Anreizstrukturen«? »Wenn große Gruppen der Beschäftigten weniger in der Woche und im Leben arbeiten oder aufgrund höherer Regelsätze ganz auf das tägliche frühe Aufstehen verzichten, wird insgesamt weniger produziert.« Ach so, das Aufstehen ist das Problem! DIE LINKE, Partei der Langschläfer.

Nachtrag: Die FAZ hat da wohl bei der Bild abgeschrieben: Dort äußerte sich letztes Jahr Berlins FDP-Fraktionsvorsitzender Martin Lindner zu Hartz IV zu Wort:

»Ich kann verstehen, dass sich Krankenschwestern, Erzieher oder neu eingestellte Busfahrer fragen, warum sie jeden Morgen aufstehen sollen, wenn ein Hartz-IV-Empfänger für gerade mal 50 Euro weniger den ganzen Tag im Bett liegen bleiben kann«.

CC-Lizenz, Foto: emzee

Wie sich die Bourgeoisie auf Rot-Rot-Grün vorbereitet

Die FAZ ist manchmal putzig. Heute (1.9.09) findet sich im Wirtschaftsteil (lies: wichtigwichtig!) ein Beitrag zu einem Papier von Andrea Nahles und Jon Cruddas: Die gute Gesellschaft. Das Projekt der Demokratischen Linken. Das Papier wurde in der Wochenzeitung der freitag abgedruckt und von links kritisiert und kommentiert. Es ist Teil einer des sog. Crossover-Diskurses und ist nun fast ein halbes Jahr alt. Aufschlussreich also, dass das Papier von der FAZ erst jetzt zur Kenntnis genommen wird. Aufschlussreich deshalb, weil weniger der Beitrag von Nahles/Cruddas so wahnsinnig interessant ist, sondern weil sich die FAZ nur wenige Tage nach den Landtagswahlen im Saarland, Thüringen und Sachen gezwungen fühlt, sich mit dem Szenario eines linken Parteienprojekts jenseits der Mitte auseinander zu setzen. Konsequenterweise hätte die Überschrift “Wie sich die Bourgeoisie auf Rot-Rot-Grün vorbereitet” heißen müssen. Nicht: “Wie sich die SPD auf Rot-Rot-Grün vorbereitet”. Was” Grün” in derartigen Überlegungen zu suchen hat, ist noch etwas unklar. Dass dem FAZ-Artikel ein Kasten zur Seite gestellt ist macht schon mehr Sinn: “Wirtschaft irritiert über Landesergebnisse”.

Aufgeblättert: Die parlamentarische Linke in Europa

Linke parlamentarische Politik in der Hauptstadt der EU, in Brüssel? Was wird da nochmal entschieden: wie krumm eine Gurke sein darf? Die EU ist dennoch alles andere als irrelevant, sie war und ist die politische Form, in der neoliberale Politik in Europa durchgesetzt wurde – als politisch organisierter Sachzwang. Um Licht ins Dunkel der Brüsseler Politik zu bringen, hat Martin Schirdewan anlässlich der Europawahl seine Dissertation popularisiert. Was es neben der Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/NGL) noch gibt, wissen nicht viele. Wer kennt schon die Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren (KSM), die in der Europäischen Linkspartei z.Zt. Beobachterstatus hat? Diverse Diskussions- und Strömungsplattformen und politische Spektren organisieren das politische Geschehen und verlaufen dennoch quer zur wichtigsten linken Partei in Brüssel, die Europäische Linke (EL). Vor allem deren Entstehung zeichnet Schirdewan nach. Neben Strömungen, Organisationsformen und der Zusammenarbeit in Brüssel stellt der Autor jedoch auch die Konflikte der politischen Spektren dar. Er unterscheidet hier vor allem zwischen reformsozialistischen Kräften (Nordisch Grüne Linke und Neue Europäische Linke), traditionellen KommunistInnen und dem – in Deutschland nicht so relevanten – Trotzkismus. Nach wie vor seien aber Kooperation und auch die Diskussionen zwischen linken Kräften in Brüssel rudimentär, auch wenn mit der Gründung der EL eine neue Qualität erreicht sei. Das Buch soll explizit eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Leider wird es gerade dieser nicht unbedingt weiter helfen, weil ganz grundsätzliche Fragen unter der akribischen Arbeit zu den unterschiedlichen politischen Akteuren und Foren begraben werden. Welchen Einfluss hat das Europäische Parlament überhaupt? Macht es Sinn, von links die Perspektive einer Demokratisierung der EU zu diskutieren? Was bedeutet Schirdewans Beobachtung, dass die linken Parteien sich zunehmend den Arbeitsmechanismen des Parlaments anpassen? Zudem setzt der Autor viele Rahmenbedingungen europäischer Politik, das Institutionengefüge und die Bedingungen linker Politik als bekannt voraus. Für eine breitere Öffentlichkeit wären weniger Details und der Mut zur Lücke sicher hilfreicher gewesen.

Ingo Stützle

Martin Schirdewan: Links – kreuz und quer. Die Beziehungen innerhalb der europäischen Linken. Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, 160 Seiten, 14.90 EUR

Erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 540 vom 19.6.2009

Die Gegenmacht kommt nicht aus den Regierungsbänken

Da hatte die FAZ erst den Rosa-Luxemburg-Komplex entdeckt, die Frauen in der Linkspartei, da lässt es sich Oskar nicht nehmen, den doppelten Lafontaine zu mimen. Im Superwahljahr 2009 will er nicht nur für den Bundestag, sondern auch für die Landtagswahlen im Saarland als Spitzenkandidat antreten. Schon die Tatsache, dass Saarlands Landeschef Rolf Linsler betont, dass Lafontaine auch ohne Chance auf den Stuhl des Ministerpräsidenten sein Landtagsmandat annehmen will, sollte stutzig machen. Continue reading “Die Gegenmacht kommt nicht aus den Regierungsbänken”

Vor zehn Jahren machte Oskar einen auf Lafontaine

Wie gereizt die Stimmung war und teilweise noch immer ist, macht ein Radiobeitrag bei Deutschlandradio deutlich. Die Stimme ist bei so manchem heißer geworden. Vor zehn Jahren trat Oskar Lafontaine als Finanzminister zurück. Er hatte erkannt, dass es sich eben nicht nach Gerhard Schröders Motto – »Man muss nur wollen! Dann wird das schon« – regieren lässt. Dass Lafontaine überhaupt Minister wurde – und sich gegen Stollmann durchsetzte – grenzte an ein kleines Wunder. Es war das letzte Aufbäumen eines linken Flügels innerhalb einer Partei, deren neuer Kurs schon mehr oder weniger feststand: Agenda 2010 und Hartz-Reformen. Zwar nahm RotGrün zunächst ein paar Reformen der Kohl-Regierung zurück (Rentenkürzung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), aber kaum waren ein paar Wahlversprechen eingelöst, ein Krieg geführt, nahm die neue Koalition eine Modernisierung vor, die bisher ihres Gleichens sucht. Die Sozialdemokratie ermöglichte damit aber zugleich ihre eigene Opposition – die Linkspartei. Wer nochmals en detail nachlesen will, wie es zu der Entscheidung am 11. März 1999 kam, dem sei das Kapitel “Schröder, Lafontaine und Rot-Grün” aus Lafontaines Linke von Wolfgang Hübner und Tom Strohschneider ans Herz gelegt. Vor dem Hintergrund seiner gegenwärtigen Rolle in der Parteienlandschaft und innerhalb der Linkspartei ist der fast endgültig klingende Nachruf von Günter Gaus aus dem damaligen Freitag geradezu trollig: “Das politische Comeback ist ausgeschlossen – oder es müssten Ostern und Pfingsten auf einen gemeinsamen Tag fallen -, weil der sozialdemokratische Parteivorsitzende Lafontaine beim Abschied spontan eine übermäßige Egozentrik an den Tag gelegt hat.” Die Egozentrik hat er noch lange nicht abgelegt; aber Ostern und Pfingsten scheinen auf eine gewisse Weise doch zusammen gefallen sein.

Erstveröffentlichung: freitag.de

Die Krise als Chance? Die Linke muss sich radikalisieren!

Auf einem blog bei Der Freitag ist ein weiterer Text zur Krise und die Linke zu finden: “Die Linke begreift die gegenwärtige Krise zwar als politische Chance, zugleich wird aber eine wichtige Frage nicht gestellt: Wie soll es einer Linken nach Jahrzehnten gesellschaftlicher und politischer Marginalisierung gelingen, die gegenwärtigen Herausforderung überhaupt zu meistern? Ohne die Diskussion dieser Frage wird linke und radikale Politik auf der Strecke bleiben.” >>> Weiter lesen bei freitag.de

Linke Krise. Eine Geschichte von klasse K[r]ämpfen

Genosse Olaf Bernau kritisierte im letzten ak, dass die Krisenanalyse “ökonomistisch imprägniert” sei und die neoliberale Epoche “primär im Horizont einer bis heute andauernden Verwertungskrise des Kapitals rekonstruiert (werde) – ohne substanzielle Einbettung in gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnisse geschweige denn soziale Kämpfe”. Damit drohe bei der Analyse ein schiefes Gesamtbild, da der Neoliberalismus nicht als ein “eingefädeltes” (sic!) und zugleich “politisch umkämpftes Projekt” thematisiert werde. Die Fokussierung auf subalterne Kämpfe macht jedoch blind für die Herausforderungen linker Politik. Continue reading “Linke Krise. Eine Geschichte von klasse K[r]ämpfen”

Der Staat, das verflixte Ding. Warum materialistische Staatstheorie für linke Politik hilfreich sein kann

Linke Politik findet, so selbstbewusst und kämpferisch sie auch sein mag, immer in einem staatlichen Kontext statt. Entsprechend machen die Partei DIE LINKE, Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International, soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder linksradikale Organisationsansätze wie die Interventionistische Linke sehr verschiedene Erfahrungen mit dem Staat. Sie sind aber mit denselben staatlichen Organisationsprinzipien wie dem bürgerlichen Recht, bürokratischen Verfahren, der parlamentarischen Demokratie, der Parteienkonkurrenz, der Trägheit staatlicher Verwaltung und dem Gewaltmonopol konfrontiert. Diese Organisationsprinzipien kapitalistischer Staaten versucht die materialistische Staatstheorie genauer zu verstehen, wobei „materialistisch“ einen positiven Bezug auf die marxsche Ökonomiekritik meint. Dabei bricht sie mit den Vorstellungen vom Staat als einer von der Gesellschaft getrennten Sphäre. Stattdessen unterstreicht sie, dass der Staat kein Gegenprinzip zur kapitalistischen Ökonomie darstellt, sondern sich beide Momente gegenseitig voraussetzen. Holzschnittartig formuliert: Kein Kapitalismus ohne staatlich garantiertes Eigentums- und Arbeitsrecht, kein Staat ohne kapitalistisch erwirtschaftete Steuern.

Gramsci, Poulantzas, feministische Staatsforschung

Was wie ein theoretisches Gedankenexperiment erscheinen mag, ist in der Geschichte der materialistischen Staatstheorie eng mit den politischen Erfahrungen derjenigen verbundenen, die aus einer materialistischen Sicht den Staat begreifen wollten. Antonio Gramsci analysierte vor dem Hintergrund der Niederlage der italienischen Arbeiterbewegung und dem Sieg des Faschismus das Verhältnis von Staatsapparaten und Zivilgesellschaft. Nicos Poulantzas markierte in Folge von 1968 und der Probleme der emanzipatorischen Kämpfe ab Mitte der 1970er die Grenzen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Kräfte, sich in die politische Ausrichtung des staatlicher Apparate einzuschreiben. Und die feministisch- materialistische Staatsforschung beschäftigte sich mit dem Staat, da sie vor dem Problem stand, dass die feministische Bewegung nicht nur repressiv unterdrückt, sondern auch politisch anerkannt wurde, und als Folge dessen feministische Bewegungsmomente in staatlicher Politik zu verschwinden drohten. Staatstheorie, die den Staat begreifen will, ist vor allem Begriffsarbeit, die sich in Begriffen wie dem „integralen Staat“ (Gramsci), dem Staat als der „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas), dem „Staat des Kapitals“ (Agnoli) oder dem „politischen Maskulinismus“ (Sauer) konkretisiert. Damit sind kapitalismus- und staatskritische Politikauffassungen verbunden, die eine andere Reflexion auf politisches Handeln zulassen, als die in der politischen Öffentlichkeit gängigen.

Linke Parteien

Dieses wollen wir anhand der Erfahrungen mit und von linken Parteien in aller Kürze skizzieren. Während im Mainstream die Gründung von Parteien als politische Option von interessierten BürgerInnen verhandelt wird, versteht die materialistische Staatstheorie sie primär als politischen Druck auf gesellschaftliche Akteure, die sich politisch organisieren wollen. Denn Parteien als Formen politischer Organisation kanalisieren, filtern und formatieren Interessen: Zur Parteiform gehören hierarchische Parteistrukturen, die Verfassungstreue (wozu u.a. auch die Unhinterfragbarkeit der Eigentumsordnung gehört), das parlamentarische Wirken innerhalb durch konservative Kräfte bestimmte parlamentarischen Strukturen und eine bürokratische Logik, die sich an den staatlichen Apparaten ausrichtet.

Prägend für die neuere staatstheoretische Debatte zur Frage von Parteien ist vor allem die Erfahrung mit den Grünen: Anfang der 1980er aus einer breiten, linken sozialen Bewegung zum „Marsch durch die Institutionen gestartet“, landete sie ab 1998 punktgenau bei der Zustimmung zum Kosovo-Krieg und zur neoliberalen Agenda 2010. Eine Erklärung für diese Entwicklung in Anschluss an Gramsci würde sich auf die Veränderung interner Positionen in der grünen Auseinandersetzung um hegemoniale Weltanschauungen fokussieren: Sie reichen von einer Transformation grüner Positionen von einer oppositionellen Bewegung zu einer oppositionellen Partei zu einer staatstragenden Partei, in der Positionen wie „außenpolitische Verantwortlichkeit“, „ökologische Modernisierung“ und „aktivierende Sozialpolitik“ schlussendlich wichtiger wurden als linke Positionen zu „Frieden“, “ökologischer Kapitalismuskritik”, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Selbstorganisierung“. Dabei ist zu beachten, dass das etablierte parlamentarische Spektrum durch die Parteienkonkurrenz und den daran angeschlossenen Medienapparat massiven Druck auf linke Kräfte ausübt, politische Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.

Poulantzas wiederum hat sich insbesondere mit der Materialität staatlicher Apparate beschäftigt, also der Frage, welche gesellschaftlichen Praktiken in Staatsapparate eingeschrieben sind, und inwiefern diese gesellschaftliche Kräfte formieren und Interessen verändern. Poulantzas beharrte darauf, dass politisches Handeln im Staat nicht in freien Willensbekundungen linker Kräfte aufgeht. Dies bezieht sich auf den existierenden Korpus an Gesetzen und Verfahren, an den linke Positionen „systematisch“ anschließen müssen, wollen sie „sinnvolle Politik machen“. Als Resultat davon kann es zu einer symbolischen Transformation linker Politik kommen, so dass diese auf Grund ihres staatstragenden Auftretens für rechtlich und verwaltungstechnisch nicht geschulte, außerparlamentarische linke Akteuren nicht mehr erkennbar ist.

Standbein und Spielbein

Soziale Bewegungen stellen über ihre eigenständige Selbstorganisierung hinaus eine gesellschaftliche Kraft dar, die linke politische Projekte legitimieren (z.B. Umweltpolitik entgegen bestimmter Kapitalinteressen) oder dafür sorgen können, dass linke Parteien gegenüber dem parlamentarischen Alltag politischen Rückhalt bekommen. Die grüne Partei diskutierte dieses in den 1980ern als Verhältnis von „Standbein und Spielbein“. Das Standbein stellt die organisierte außerparlamentarische Politik dar; das Spielbein die Repräsentation und Politik im Parlament. Diese Debatte war von dem Bewusstsein geprägt, dass dieses Verhältnis vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Handlungsterrains von parlamentarischer und außerparlamentarischer Politik und den divergierenden Reichweiten linker Forderungen alles andere als unproblematisch und konfliktfrei ist. Gegenwärtig müsste es daher darum gehen, sich eine derartige Perspektive wieder anzueignen, da DIE LINKE nicht aus einer breiten sozialen Bewegung entstanden ist, gleichzeitig jedoch auch nicht als linke Kraft im neoliberal-konservativen parlamentarischen Spektrum ohne soziale Bewegungen als außerparlamentarische Bündnispartner überleben wird. Zentral hierfür ist, die zu Beginn des Artikels geschilderten Interessenswidersprüche zwischen linken Akteuren in einem solchen Bündnis auszuhalten. Dieses beinhaltet einerseits, eine Zusammenarbeit oder gar Bezugnahme von Teilen der außerparlamentarischen Opposition mit oder auf die Partei nicht für prinzipiell unmöglich zu erklären und andererseits von einer widerspruchsfreien Symbiose in einem gemeinsamen politischen Projekt abzurücken. Realistischerweise müsste es gegenwärtig somit darum gehen, überhaupt eine derartige Perspektive wieder aufzumachen und sich über die Bedingungen einer solchen mit dem nötigen staatskritischen Rüstzeug zu verständigen.

Lars Bretthauer/ Ingo Stützle

Erschienen in: prager frühling. Magazin für Freiheit und Sozialismus, Nr.3, 2009, 9-10.

Stamokap und Linkspartei revisited

Verärgerung war noch nie ein guter Ratgeber. Rainer Rilling hat sich nicht nur über scheinbar verfehlte Kritik an der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) geärgert, sondern auch über meine Kritik an der Linkspartei. Diese würde ich um ihrer selbst Willen kritisieren, will heißen diffamieren. Kritik, so verstehe ich das zumindest, nimmt den Gegenstand seiner Kritik ernst. Aber der Reihe nach. Continue reading “Stamokap und Linkspartei revisited”

Auch gut: Linkspartei macht sich mit ihrer Krisenpolitik selbst überflüssig

Auf die Frage, warum die Linke zwar davon redet, die Krise als Chance zu begreifen, diese aber nicht nutzt, gibt es viele Antworten. Die reformistisch-staatstragende Linke – vor allem die Linkspartei – ist deshalb nicht wahrnehmbar, weil sie ständig nur unterstreicht, dass sie schon immer recht hatte. Um bei der gegenwärtigen Ausgestaltung der Feuerwehrpolitik mitzugestalten, verweigert sie sich jeder Radikalisierung. Schön zeigt dies wieder einmal eine aktuelle Presseerklärung der Linkspartei:

“DIE LINKE fordert seit Langem ein internationales Kreditregister. Genau diese Forderung haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nun als Ergebnis ihrer Expertengruppe Neue Finanzarchitektur präsentiert. Das ist ein Armutszeugnis”, erklärt Axel Troost. “Von einer Regierung, die eine teure Expertengruppe einberuft, sollte man deutlich mehr erwarten als das Aufgreifen längst bekannter Forderungen.”

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