Die Herrschaft des Privateigentums

Ingo Stützle schreibt zu Mythos und Realität der »Chicago Boys« bei der Durchsetzung der neoliberalen Agenda nach dem Militärputsch in Chile vor 50 Jahren.

um ein Text, der sich kritisch mit der Geschichte und der Durchsetzung des Neoliberalismus beschäftigt, der nicht den Militärputsch in Chile vor 50 Jahren und die sogenannten Chicago Boys erwähnt. So schreibt David Harvey in seiner »Kleinen Geschichte des Neoliberalismus«: »Damals wurde ein Team von Ökonomen nach Santiago beordert, das der chilenischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen sollte. Man nannte sie die ›Chicago Boys‹«. Die chilenischen Ökonomen, ausgebildet bei neoliberalen Größen wie Milton Friedmann und Friedrich August von Hayek, so die gängige Erzählung, hätten damals das neoliberale Handwerkszeug von Privatisierung bis Deregulierung im Handgebäck gehabt, das sie unter Laborbedingungen ausprobieren sollten. Für Liberale ist die solidarische Begleitung der mörderischen Militärdiktatur, nicht mehr als ein »Sündenfall«, so Rainer Hank, dessen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS, 26.3.2023) auch mit den »Chicago Boys« betitelt ist. Wenn auch so einiges, was hierzu geschrieben wird, stimmt, so zeigt sich, dass das konterrevolutionäre Bündnis aus Militär und Wissenschaft nicht so »organisch« und fest war, wie gerne behauptet wird – und der Faschismus ist auch keine »Ursünde« der liberalen Tradition, wie es etwa Hank behauptet, sondern ihr als Potenzialität eingeschrieben.

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Pausenlose Profitlogik

Wer die Ursachen für die Erwerbszentrierung der Gesellschaft ergründen will, kommt am Mehrwert nicht vorbei

»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf« heißt es in Karl Marx‘ »Grundrissen «. Was meint er damit? Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander »arbeiten«. Die Formen, wie diese Arbeitsteilung organisiert ist, sind jedoch sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, also über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind da recht unterschiedliche soziale Logiken am Werk.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Wird sie von wem ignoriert, kann man zumindest daran erinnern, dass man sich einmal gemeinsam auf diese Form der Arbeitsteilung verständigt hat. In Haushalten von Kleinfamilien gibt es eine Putzuhr eher selten. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen hier, dass meist Frauen ihre Lebenszeit für reproduktive Arbeiten opfern müssen. Vor allem an Wochenenden, so zeigen Studien, haben Männer Freizeit – Frauen weniger. Damit aber auf dem Herd überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen ein Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt – als Arbeitszeit in einem Unternehmen, indem die eigene Arbeitskraft verkauft wird, gegen Lohn. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Lohnarbeit hat, arbeitslos ist: Das Jobcenter will nicht, dass man unangekündigt in Urlaub geht, man soll sich »zur Verfügung« halten.

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Die Leidenschaft am Eigeninteresse. Adam Smith und die Politische Ökonomie auf der Suche nach ihrem Gegenstand

Auch wer von Adam Smith noch nie etwas gehört hat, kennt wahrscheinlich die fixe Idee, dass die Marktkräfte wie eine „unsichtbare Hand“ wirken und dafür sorgen, dass die Wirtschaft effizient und gerecht funktioniert.[1] Diese Metapher wird gerne dann strapaziert, wenn wahlweise Staats- oder Marktversagen beklagt und eine neue „Balance“ angemahnt wird – oder Adam Smith gewürdigt werden soll, dessen 300. Geburtstag in diesen Tagen zu feiern wäre. Wann genau, weiß man bis heute nicht, denn der Tag seiner Geburt ist nicht überliefert. Das Datum, an dem er getauft wurde, hingegen schon. Es war der 5. Juni – zumindest nach dem julianischen Kalender, einem der ältesten Sonnenkalender, dem Vorläufer des heute gebräuchlichen gregorianischen.[2] Die Umstellung vom einen auf den anderen sollte dem Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr entgegenwirken – quasi zweier Zeitrechnungen, einer abstrakten und einer „natürlichen“, ein Gegensatzpaar, das geradezu symptomatisch für die Zeit steht, in der Smith sich den Kopf über den „Wohlstand der Nationen“ zerbrach.

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Material für Theoriearbeit: Was Karl Marx und Friedrich Engels in England suchten und fanden

»In England ist immer Wales eingeschlossen, in Großbritannien England, Wales und Schottland, im Vereinigten Königreich jene drei Länder und Irland.«

Karl Marx: Das Kapital, MEW, Bd. 23, S. 683, Fn. 107.

Im Vorwort zur Erstauflage des »Kapitals« von 1867 schreibt Karl Marx, dass die »klassische Stätte« der kapitalistischen Produktionsweise England ist. Dies sei der Grund, warum er es zur »Hauptillustration« seiner »theoretischen Entwicklung« herangezogen habe. Wer glaube, mit den Achseln zucken zu müssen, so Marx weiter, dem rufe er zu: »Über dich wird hier berichtet!« Sein Hauptwerk »Das Kapital« erschien fast 20 Jahre nachdem er auf die Insel geflüchtet war; die englische Übersetzung des ersten Bandes des »Kapitals« sollte er jedoch nicht mehr erleben. Sie erschien vier Jahre nach seinem Tod im Jahr 1883. Warum fand Marx England so zentral für die Analyse des Kapitalismus, stellte diese aber auf Deutsch an?

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Wie die Mathematik in die Wirtschaftswissenschaften kam und die Verhältnisse mystifiziert

Wenn jeder Mensch auf eine Zahl reduziert wird, kann das Unternehmen niemals die ganze Person sehen«, heißt es im Harvard Business manager (7/2022, S. 28), womit das Magazin eine gängige Kritik formuliert, warum der Kapitalismus unmenschlich ist, nämlich, dass von all dem, was einen Menschen ausmacht, abstrahiert wird und am Ende nur eine Zahl übrig bleibt. Ein Businessmagazin hat selbstredend keine Gesellschaftskritik im Sinn. Wer diese jedoch formuliert, kommt nicht umhin, auch die Wirtschaftswissenschaften zu kritisieren, die beanspruchen, die herrschende Wirtschaftsweise zu verstehen.

Nicht ohne Grund trägt Marx’ Hauptwerk »Das Kapital« den Untertitel »Kritik der Politischen Ökonomie«, womit der Kapitalismus und die Wissenschaft gemeint sind. Und die Disziplin, selbst die Strömungen, die sich als »heterodox«, also nicht dem Mainstream folgend, verstehen, zeichnen sich heute durch Mathematik aus: Formeln, Gleichungssystem, Kurven und Matrizen. In einem verhältnismäßig weit verbreiteten heterodoxen VWL-Lehrbuch heißt es: »Es gibt Vertreter in der Zunft der Volkswirte, die davon ausgehen, dass erst mit der Einführung der Mathematik die Volkswirtschaftslehre zur Wissenschaft geworden ist und theoretische Aspekte, die nicht mathematisch formulierbar sind, in der Volkswirtschaftslehre keinen Platz haben sollten.«

Die marginalistische Revolution

Mathematik fasste erst im 19. Jahrhundert Fuß in den Wirtschaftswissenschaften, während aus political economy die Selbstbezeichnung economics wurde, und mauserte sich zur tonangebenden wissenschaftlichen Methode. Das lässt sich anhand der Verwendung in Fachzeitschriften aufzeigen. So wurden 1930 in zehn Prozent der Beiträge in den Fachzeitschriften Economic Journal und American Economic Review Formeln verwendet, während es 50 Jahre später bereits 75 Prozent waren. Im Jahr 1892 wurden in 95 Prozent aller Artikel in den vier führenden Wirtschaftszeitschriften weder geometrische Darstellungen noch Formeln verwendet, während etwa hundert Jahre später sich das Verhältnis umgedreht hatte.

Dieser Prozess ging mit der sogenannten marginalistischen Revolution einher, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzog und die neue Fragestellungen etablierte. Die gesellschaftliche Konfliktlinie war nicht mehr die zwischen grundbesitzendem Feudaladel und industriellem Kapital, wie zur Zeit der ökonomischen Klassik (von William Petty bis David Ricardo), sondern der Kapitalismus hatte sich bereits etabliert und die zentrale Konfliktlinie war nunmehr die zwischen Lohnarbeit und Kapital – zwischen formal Freien und Gleichen, die gleichermaßen nach Glück streben.

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Profit-Preis-Spirale

In den letzten Tagen hatten sich einige in den sozialen Medien darüber empört, dass die DAX-Konzerne nicht nur hohe Gewinnen ausweisen, sondern diese auch noch in Form von Dividenden an die Anteilseignerïnnen weitergeben: »Einer Prognose zufolge werden sie so viel Geld an ihre Aktionäre ausschütten wie noch nie« heißt es bei tagesschau.de. Die Rede ist von 54 Milliarden Euro; das sind nochmal sechs Prozent mehr als in diesem Jahr.

Die Empörung rührt daher, dass angesichts der hohen Inflationsraten immer wieder das Gespenst der Lohn-Preis-Spirale beschworen wird, das dazu dienen soll, Lohnzurückhaltung einzufordern, um die Preissteigerungen nicht noch weiter anzuheizen: »Mit der Warnung »Lohn-Preis-Spirale!« wird dem Lohn nicht die Schuld an der hohen Inflation gegeben; aber die Verantwortung dafür zugeschrieben, die Inflation zu senken«, so Stephan Kaufmann.

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Ist Kriegswirtschaft ein gutes Beispiel für eine »andere« Wirtschaft?

»Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.« – Ein Satz des frühen Marx. Die Revolution von 1848 war noch ein paar Jahre hin, die Politische Ökonomie hatte er als Gegenstand noch nicht für sich entdeckt und das Proletariat war nicht mehr als ein philosophischer Demiurg, zumindest im Text, aus dem das Zitat stammt. Ich musste an den Satz nach einer Lektüre eines Textes von Ulrike Herrmann in den aktuellen Blättern denken (ein Auszug aus ihrem neuen Buch). Darin formuliert sie einige Ideen „Raus aus der Wachstumsfalle“, anhand der britischen Kriegswirtschaft. Diese soll illustrieren, dass es funktioniert, wenn Staaten wirtschaftliche Prozesse planen, statt sie der Marktlogik zu überlassen.

An das Marx-Zitat musste ich denken, weil es kein Zufall ist, dass das Beispiel Kriegswirtschaft gewählt wird. Auch die Ökonomin Mariana Mazzucato greift in ihrem neuen Buch (»Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft«) zu den Sternen, indem sie die Möglichkeiten umreißt, was wirtschaftspolitisch alles möglich ist, wenn der Staat sich nur ein Herz nimmt, und sie stellt die Frage: »Wenn uns all das zu Kriegszeiten gelingt, warum dann nicht auch zu Friedenszeiten, wenn es dringende gesellschaftliche Schlachten zu schlagen und gemeinsame Ziele zu erfüllen gilt?« (S. 205) Einen Aufsatz zur Umsetzung eines Green New Deal titeln zwei MMT-Ökonomïnnen mit einer Referenz auf Keynes berühmten Arbeit „How to Pay for the War“ von 1940 (ein Text, den Herrmann in ihrem Buch interessanterweise nicht rezipiert). Dahingestellt, was von all diesen Vorschlägen zu halten ist. Eine radikale Abkehr von der zerstörerischen kapitalistischen Wirtschaftsweise ist in jedem Fall notwendig. Es springt jedoch ins Auge, dass sie mit politischen Konstellationen argumentieren, die sich dadurch auszeichnen, dass sich die Exekutive teilweise verselbstständigt hat, gesellschaftlich-demokratische Aushandlungsprozesse blockiert oder autoritär formiert sind und ein nationalistischer Korporatismus herrscht, aufgrund einer „Ausnahmesituation“, (Kalter) Krieg, die wesentlich bestimmt, was das „öffentliche Interesse“ ist, damit wesentliche Bedingung der Möglichkeit dieser gelobten Wirtschaftspolitiken ist.

Dass es einen inneren Zusammenhang gibt, zeigt auch Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch »Entfernte Verwandtschaft« (von Faschismus und New Deal), in dem er in einem Unterkapital die Bedeutung der Kriegsmetaphorik für den New Deal unter Franklin D. Roosevelt diskutiert. Vor dem Hintergrund der Inaugurationsrede im März 1933 kommt er zu dem Schluss:

„Die wirtschaftliche und soziale Bekämpfung der Krise genügte nicht. Es musste ihr regelrecht den Krieg erklären werden. Ohne diesen Akt, der die Nation vereinte und verpflichtete, ließen sich die notwendigen Energien und Opfer nicht aufbringen.“

Wolfgang Schivelbusch: »Entfernte Verwandtschaft«, Frankfurt/M. 2008, S. 43f.

Wie Schivelbusch weiter schreibt, war es nicht allein Rhetorik.

Wirtschaftspolitische Vorschläge, die keine Rechenschaft darüber ablegen, unter welchen Prämissen die formulierten Ideen gelten und was das gesellschaftlich und demokratietheoretisch bedeutet, sind leider nicht nur stumpfe Waffen gegen den Irrsinn des Kapitalismus, sondern zudem nicht aufklärerisch in der Frage, wie eine andere Wirtschaft gegen die herrschenden Herrschafts- und Kräfteverhältnisse durchgesetzt werden können.

Money makes the world go green? Eine Kritik der Modern Monetary Theory (MMT) als geldtheoretisches Konzept

In der aktuellen PROKLA (202) ist mein Beitrag zu MMT (Modern Monetary Theory) erschienen. Bisher nur im gedruckten Heft zugänglich.

In den letzten Jahren ist ein geldtheoretisches Konzept prominent geworden, das für sich beansprucht, mit den Irrtümern der ökonomischen Orthodoxie zu brechen und eine Antwort auf die Frage zu geben, wie etwa ein Green New Deal finanziert werden kann: Modern Monetary Theory (MMT). Der Beitrag diskutiert vor dem Hintergrund der marxschen Theorie die geld- und kapitalismustheoretischen Prämissen von MMT. Entgegen ihrer Bezeichnung ist MMT weder modern noch spielt bei ihr Geld für das Verständnis der kapitalistischen Ökonomie eine zentrale Rolle, was zu analytischen, politischen und strategischen Fehlschlüssen führt.

Hier geht es zum Heft: https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/issue/view/206

Schulden, ohne Sühne

Man kann sich etwas zu Schulden kommen lassen und Schulden haben. Auch wenn hier das gleiche Wort verwendet wird, so liegen dem Satz ganz unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene zugrunde. Im Folgenden soll es allein um das ökonomische Phänomen der Schulden gehen, die Schulden, die mit Geld beglichen werden können. Und damit ist man bereits mitten drin, denn Schulden bezeichnen wesentlich eine soziale Beziehung, eine zwischen Schuldnerinnen und Gläubigerinnen. Die Beziehung endet erst, wenn die Schuld beglichen wird, mit Geld. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum Geld. Wechselt eine Ware die Hände und wird unmittelbar mit Geld bezahlt, ist die Beziehung zwischen Käuferin und Verkäuferin bereits wieder aufgelöst. Anders bei einer Schuldbeziehung. Sie besteht, solange das Kreditverhältnis besteht. Zudem setzt eine Schuldnerinnen-Gläubigerinnen-Beziehung immer Geld voraus, d.h. ein Medium, das laut Kontrakt die Kreditbeziehung beendet.

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Hexen verbrennen, Geldfälscher hängen

»Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.« (MEW 23: 783)

Karl Marx stimmt mit diesem Satz an, wie die moderne Eigentums- und Geldordnung durchgesetzt wurde, blut- und schmutztriefend, als Resultat eines gewaltsamen Prozesses. Er wendet sich damit gegen die Selbstverklärung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte – etwa in der Politischen Ökonomie – gern als eine von Fortschritt und Zivilisation zeichnet und idealisiert. Dieses Bild zurecht zu rücken, fällt vor allem bei den Kategorien Geld und Eigentum schwer, die als etwas Selbstverständliches, immer schon Vorhandenes gelten. In der Vergangenheit werden nur die modernen Formen wiedererkannt, statt diese in ihrer historischen Spezifik zu begreifen. Marx hatte für diese Form der Rückprojektion oft beißenden Spott übrig. Während Marx die historische Durchsetzung der modernen Eigentumsordnung im Kapital kritisch nachzeichnet, bleiben seine Ausführungen zu Geld auffällig spärlich. Für die PROKLA bin ich der Genese nachgegangen und wollte dem historischen Hintergrund des Zitats zu Hexerei und Geldfälschung nachgehen. Leider war hierfür kein Platz und der Exkurs hätte etwas vom Thema des Beitrags weggeführt. Deshalb möchte ich meine Notizen hier zugänglich machen.

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Neuerscheinung: Mythen über Marx. Die populärsten Kritiken, Fehlurteile und Missverständnisse

200 Jahre Karl Marx, 150 Jahre Das Kapital, 100 Jahre russische Revolution – anlässlich der Jubiläen erscheinen fast täglich Einschätzungen und Kommentare zum Werk des großen Denkers. In der Regel wird Marx kritisiert und verworfen. Und wenn er gewürdigt wird, dann nur mit einer gewissen gönnerhaften Nachsicht. Schließlich sind sich fast alle einig: Marx hat zumeist falsch gelegen. Er hat den Untergang des Kapitalismus prophezeit, heißt es. Sein Werk beschreibe nur eine bestimmte historische Phase und beruhe auf einer überholten Arbeitswertlehre. Marx wollte alles verstaatlichen, er habe die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen ebenso ignoriert wie die ökologische Frage und stattdessen den industriellen Fortschritt verherrlicht.
Einige dieser Urteile sind zumindest fragwürdig, manche schlicht falsch, andere Kritiken treffen einen wunden Punkt. So geläufig vielen der Name Marx ist, so unbekannt ist oftmals sein Werk. Der vorliegende Band will in knapper und leicht verständlicher Form für Aufklärung sorgen und dafür werben, sich mit Marx´ Theorie zu beschäftigen. Hat er wirklich die fortschreitende Verelendung der Arbeiter∗innen prophezeit? Gibt es heute keine Klassen und keine Ausbeutung mehr? Führt ein direkter Weg von seiner Theorie zum Gulag? Ob und inwieweit Marx doch richtig lag, ist nicht bloß von historischem Interesse. Denn die Haltung zu seinen Analysen spaltet heute noch die politischen Lager in aller Welt. Und anhand von Marx´ Werk wird noch immer die Frage diskutiert: Ist eine andere Welt möglich?

Das Autor*nnenkollektiv sind: Valeria Bruschi, Jakob Graf, Charlie Kaufhold, Anne-Kathrin Krug, Antonella Muzzupappa und Ingo Stützle. Erschienen sind die 136 Seiten bei BERTZ + FISCHER.

Leseproben

Pressestimme

  • »Marx hat viele Texte hinterlassen und seine Gedanken oft revidiert. Allein deswegen kann das Buch die Frage ›Hatte Marx recht?‹ nicht abschließend beantworten. Aber das ist kein Mangel. Denn die heiße Frage ist ja nicht, ob Marx unfehlbar war. Sondern ob der Kapitalismus eine feine oder zumindest alternativlose Sache ist. Dazu hat Karl Marx einiges gesagt, mit dem man sich beschäftigen sollte. Dieses Buch lädt dazu ein.« (Stephan Kaufmann, der freitag)
  • »Nicht jeder wird sich auf die umfangreicheMarx-Literaturstürzen wollen – wohl aber ein paar aktuelle Fragen haben. Dafür empfiehlt sich das Büchlein „Mythen über Marx“, verfasst von einem „Autor_innenkollektiv“ marxistischer Provenienz. Sei’s drum; das Büchlein, das Fragen in Aussageform wie „Es gibt keine Klassen mehr“ formuliert und ohne längliche Zitierung von geheiligten Marx-Sentenzen beantwortet, sorgt zumindest für erste Aha-Erlebnisse – etwa jenes, dass das Kollektiv bei Fragen wie nach dem „Untergang des Kapitalismus“ ins Schleudern gerät. Samt einem nur mit Humor zu nehmenden Verweis auf die „Blauen Bände“ der DDR-Marx-Engels-Ausgabe: „MEW 23: 657 Fn 77c“. Jetzt schnell mal nachschlagen!« (Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel)

 

Marx’ Achtzehnte Brumaire, seine Aktualität und die neuen Bonapartisten

Martin Beck und Stützle, Ingo (Hrsg.): Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen. Karl Dietz Verlag Berlin, 272 Seiten.

Nach dem Brexit, dem Sieg Donald Trumps in den USA und den Wahlerfolgen rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Deutschland, Frankreich, Österreich und den Niederlanden hat eine hektische Suche nach Erklärungen für diese Entwicklung eingesetzt. Dabei wurde und wird auch immer wieder auf den 18. Brumaire von Karl Marx rekurriert. Wie weit das Bonapartismus-Konzept trägt, um die Wiederkehr von Autoritarismus und Nationalismus zu verstehen, wird im gerade erschienenen Band Die neuen Bonapartisten in historischer Rückschau und aktuellen Länderuntersuchungen etwa zu Großbritannien, Polen, den USA, Russland oder der Türkei diskutiert, in Beiträgen von Hauke Brunkhorst, Frank Deppe, Axel Gehring, Felix Jaitner, Bob Jessop, Horst Kahrs, Michele Nobile, Sebastian Reinfeldt, Dorothea Schmidt, Ingar Solty, Rudolf Walther, Gerd Wiegel und Przemyslaw Wielgosz.

Im Achtzehnten Brumaire, einer seiner bedeutendsten politischen Schriften, beschrieb Marx detailliert, wie und warum die Februarrevolution von 1848 in Frankreich in einer Konterrevolution endete. Er führt somit seine Untersuchung Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 fort, wobei die Revolution von 1848 Marx zufolge auch eine unmittelbare Folge der Wirtschaftskrise von 1847/48 war. Marx ging in seiner damaligen Einschätzung sogar noch weiter: mit der nächsten größeren Krise werde die nächste Revolution kommen. Nicht zufällig erschien die erste Fassung des 18. Brumaire in der deutschsprachigen Wochenzeitschrift mit dem programmatischen Titel Die Revolution. Dass diese in Nordamerika erschien und von dem dorthin migrierten 1848er-Revolutionär Joseph Weydemeyer gründet wurde, ist bereits das Echo der Niederlage einer ganzen politischen Generation. Der Zusammenhang von ökonomischer Krise und Revolution lag für Marx zu dieser Zeit auf der Hand, was ihn, gerade im Londoner Exil eingetroffen, zu erneuten Studien motivierte. Es entstanden 24 Exzerpthefte (Londoner Hefte, 1850–1853 , vgl. MEGA2 II.7–11) und in seiner 1859 erschienenen Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie berichtete er davon, dass das „ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im British Museum aufgehäuft“ war, ihn dazu nötigte, „ganz von vorn wieder anzufangen und mich durch das neue Material kritisch durchzuarbeiten“. Für Marx löste sich in den kommenden Jahren der unmittelbare Zusammenhang von ökonomischer Krise und Revolution, der 1851, zum Zeitpunkt des Staatsstreichs des Louis Bonaparte für ihn noch prägend war.

Mit dem Putsch am 2. Dezember 1851 begann sogleich ein intensiver Briefaustausch zwischen Marx und seinem Freund Friedrich Engels. Eine erste Einschätzung Engels schlug sich sogar bis in die Formulierungen des Anfangs im 18. Brumaire nieder. Der Marx’sche Text entstand zwischen Mitte Dezember 1851 und 25. März 1852. Weil Marx‘ Handschrift unleserlich war, diktierte er seiner Frau Jenny den Text oder sie besorgte die Reinschrift. Im Hause Marx galt in dieser Frage die klassische patriarchale Arbeitsteilung. Trotz aller Mühen war der Text ein Flop – ökonomisch wie politisch. Adolf Cluß, ein anderer befreundeter „Forty-Eighter“, musste Geld zuschießen, damit überhaupt eine Auflage von 1.000 Exemplaren zustande kam, was das publizistische Unternehmen nicht davor bewahrte, dass die Hälfte der mit vielen Fehlern gespickten Exemplare erst später ausgelöst werden konnte und solange von der Druckerei zurückgehalten wurde. Die Rechnung wurde nicht bezahlt. In Europa kam nur eine unbedeutende Menge der Revolution-Ausgabe mit Marx’ Text an: Sie gingen verloren oder kamen aufgrund von Zensur nicht in den Buchhandel. Sie landeten eher gezielt bei Freunden und Kampfgenossen – sowie bei der preußischen Polizei. Marx wartete lange auf seine Belege. Eine französische Übersetzung von Marx Schrift erschien erst nach seinem Tod 1890.

Trotz dieser für Marx’sche Texte sehr typische Geschichte wurde der 18. Brumaire zu einer bis heute bedeutendsten Analysen dessen, was sich damals ereignete: Nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands im Juni 1848 wurde noch im gleichen selben Jahr der im Volk beliebte Louis Bonaparte zum Präsidenten gewählt. Am 2. Dezember 1851 putschte Bonaparte und sprach er sich selbst diktatorische Vollmachten zu. E, ein Jahr später ließ er sich nach einem Plebiszit zum Kaiser ernennen und firmierte fortan als Napoleon III. „Zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren und wo die Arbeiterklasse diese Fähigkeit noch nicht erworben hatte“, habe sich, so Marx, in Gestalt Bonapartes „der Staat gegenüber der Gesellschaft verselbstständigt“, ohne die soziale Herrschaft der Bourgeoisie infrage zu stellen. Dabei habe sich die Regierung Bonapartes auf das „Lumpenproletariat“ gestützt, den „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“,   sowie auf einen großen Teil der konservativen Parzellenbauern, die – voneinander isoliert – keine Klasse bildeten, deshalb ihre Interessen nicht vertreten konnten und vertreten werden mussten. Verhält es sich heutzutage in den vielen deindustrialisierten Regionen der USA, Englands, Deutschlands oder Polens ähnlich, wo Menschen entweder um ihre Arbeitsplätze fürchten oder sich in Jobs verdingen, die mehr als das Überleben nicht zulassen? Und nutzen charismatische Figuren diese Lage aus, um autoritäre Regimes unter ihrer Führung zu etablieren? Unter anderem diese Fragen sind Gegenstand des Bandes Die neuen Bonapartisten.

Das Inhaltsverzeichnis (PDF).

Eine erste Besprechung von Tom Strohschneider findet sich im neuen deutschland: Bunte Klassen. Hilft Marx’ «Achtzehnter Brumaire» dabei, den aktuellen Rechtsruck zu verstehen?

Ein nagelneuer blauer Band, die MEW Nummer 44, ist aus dem Druck

Nach fast 30 Jahren ist es jetzt wieder soweit: Ein nagelneuer blauer Band, die MEW Nummer 44, ist aus dem Druck und glänzt, nicht nur mit den goldenen Lettern auf dem Titel, sondern auch mit Vorwort, Register, etc.pp., ediert und kommentiert von Rolf Hecker und mir – mit einem interessanten Entstehungskontext.

Rechtzeitig zum 200. Geburtstag von Karl Marx erscheint damit erstmals ein weiterer Band der Marx-Engels-Werke. Mit dem neuen Band MEW 44 liegt das 23 Hefte umfassende Manuskript »Zur Kritik der politischen Ökonomie« in den Marx-Engels-Werken nun fast vollständig vor. Teile davon sind bereits in den Bänden MEW 26.1-3 und 43 erschienen. Marx schrieb dieses Manuskript in den Jahren 1861 bis 1863. Es ist die größte zusammenhängende Ausarbeitung, die Marx zwischen den »Grundrissen« und dem »Kapital« verfasst hat. Die Manuskripte, die jetzt als MEW 44 erscheinen, erlauben einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Marx mit der Darstellung der Mehrwertproduktion und der Akkumulation des Kapitals gerungen hat. Aus der Perspektive des »Kapital« gelesen, kann man hier nachvollziehen, wie Marx manchen theoretischen Problemen bei der Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse einerseits einen Schritt näher war, andere Probleme, wie die Verwandlung von Mehrwert in Profit, jedoch noch nicht lösen konnte. Die Manuskripte gewähren damit einen intimen Blick in das Forschungslabor von Marx. → Zum Karl Dietz Verlag.

Weiche Schale, harter Kern. Vor 150 Jahren erschien der erste Band des »Kapitals« von Karl Marx

Von Ingo Stützle

»Das Kapital« sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski (1), er habe es deshalb nicht gelesen. Aber Karl Kautsky habe es gelesen und vom ersten Band eine populäre Zusammenfassung geschrieben. Diese habe er zwar ebenfalls nicht rezipiert, aber Kazimierz Kelles-Krauz, der Parteitheoretiker, habe Kautskys Buch gelesen und es zusammengefasst. Kelles-Krausz Abriss habe er zwar auch nicht gelesen, aber der Finanzexperte der Partei, Hermann Diamand, habe sie gelesen und ihm, Daszynski, alles darüber erzählt.

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Even closer to the truth

Why we ought to read Keynes with Marx in mind, and why doing so can help us learn – from Keynes. A response to Michael Roberts.

To many who subscribe to Marx’s theory and critique of political economy, the economist John M. Keynes is a provocation: aside from Marx, hardly any other scholar so fundamentally challenged the predominant economic theory of his time. ⇒ http://marx200.org/en/debate/even-closer-truth