Räuberzivil

Ich durfte mich heute mal wieder aufregen. Über die FAZ, die Seite 1 bzw. die Bildunterschrift: Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ist in Farbe abgelichtet, wie er eilig die Stufen der Villa Maximos hinaufeilt. Er trägt ein weißes Hemd, nicht in der Hose, und vielleicht sogar mit Doc Martens, sehr leger also. Für einen Finanzminister. Welches Synonym fällt der FAZ-Bildredaktion zu »leger« ein? Natürlich »Räuberzivil«. Das Wort kennt der Duden zwar, aber worauf die FAZ anspielt ist klar und wo sie mitspielt, auf BILD-Niveau. Mein Tweet hat einige Reaktionen hervorgerufen – und mich klüger gemacht. Danke!

Helmut Kohl gibt zu, Diktator gewesen zu sein

Die Aufregung um das Buch von Heribert Schwan ist groß; mehrere Passagen sollen aus Die Kohl-Protokolle geschwärzt werden. Zu anderen Zitaten steht Kohl scheinbar noch, so etwa zu der von Jens Peter Paul entlockten Kohl-Aussage, die in Pauls Promotion [PDF] einfloss:

Ich bin ein Machtmensch, okay – was heißt eigentlich: Wieso bin ich Machtmensch? Wenn einer Bundeskanzler ist, will etwas durchsetzen, muß er doch ein Machtmensch sein! Und wenn er gescheit ist, dann weiß er: Jetzt ist eine Zeit reif, um etwas durchzusetzen. Und wenn er gescheit ist, dann weiß er: Es gibt Sachen, da muß ich warten. Es ist mein volles Leben: In einem Fall war ich wie ein Diktator, siehe Euro , in einem Fall war ich ein Zauderer, habe alle Probleme ausgesessen. Ist immer noch der gleiche Helmut Kohl, von dem wir reden. Mit Machtmensch hat das nichts zu tun.

Ungleichheit und Chancengleichheit, Piketty und der Pontifex

Der Papst twittert (und liest wohl auch Thomas Piketty). Natürlich in vielen Sprachen. Nur, was sagte einst Umberto Eco zu Übersetzungen: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Das scheint vor allem dann so zu sein, wenn der Übersetzer ins Deutsche Mitglied der FDP ist.

Wie schrieben Anna Blume und Nick Sinakusch in ak 583:

Allerdings legitimiert das Ideal der Chancengleichheit die Herstellung von Ungleichheit »Ungleichheit lässt sich viel leichter tolerieren, wenn jeder das Gefühl hat, dass er es schaffen kann«, so der Würzburger Wirtschaftsprofessor Norbert Berthold in der FAZ. Nicht hinterfragt werden zudem die Bedingungen für den Erfolg. »Die naive Zustimmung zu einer Veranstaltung, in der Chancen gegeben werden, befördert daher vornehmlich den objektiven Nutzen solcher Interessengruppen, die die Bedingungen der Chancen hergestellt haben und kontrollieren.« (wikipedia) So ist die »Gerechtigkeit« da angekommen, wo die Herrschaft sie haben will. Erstens wird sie auf Abstand gebracht von der Idee der Gleichheit und aufgefächert in viele Einzelgerechtigkeiten, von der Anforderungs- über die Verteilungs- zur Generationen- und Chancengerechtigkeit. Zweitens wird klargestellt: Chancengerechtigkeit hat Vorfahrt. Und hier gilt: mehr Wirtschaftswachstum gleich mehr Chancen.

Zeitumstellung: Arbeitskraft soll geschunden werden

München, Montag, d. 1. Mai 1916. 10 Uhr vormittags, aber gestern um diese Zeit war erst 9 Uhr. Damit ist also der liebe Gott um 1 Stunde geprellt. Landauer verteidigte die Einführung der „Sommerzeit“ als vortreffliche Methode von Lichtersparnis. Ich werde aber das eklige Gefühl nicht los, daß Arbeitskraft geschunden werden soll, und wenn auch vorläufig von einer Verlängerung der Arbeitszeit nicht die Rede ist, so scheint mir doch die Verlängerung des Tageslichts als Verführung dazu höchst verdächtig, ganz abgesehn davon, daß die Verkürzung der Nacht allerlei volkshygienische Bedenken in mir weckt. Denn abgesehn von der gewonnenen Morgenstunde, die dadurch erzielt wird, daß [es] im Sommer zwei Stunden nach Sonnenaufgang ebenso hell ist wie drei Stunden danach, muß der Frühaufsteher, der doch auch Frühzubettgeher ist, künftig auf die ganze Stunde Schlaf verzichten, weil zu seiner Schlafengehenszeit um 9 Uhr abends im Hochsommer noch heller Tag ist. Sentimentale Bedenken gegen die neue Methode habe ich allerdings garnicht, da ja die Einführung der mitteleuropäischen Einheitszeit schon lange ein Betrug gegen die Sonne gewesen ist.

Erich Mühsam, Tagebücher

Rosa Luxemburg zu Berlin

Schlesisches_Tor,_Berlin_1880
Berlin, Schlesisches Tor im Jahr 1880.

»Berlin macht auf mich im allgemeinen den widrigsten Eindruck: kalt, geschmacklos, massiv – die richtige Kaserne; und die lieben Preußen mit ihrer Arroganz, als hätte jeder den Stock verschluckt, mit dem man ihn einst verprügelt!« (Rosa Luxemburg an Mathilde und Robert Seidl, 30. Mai 1898)

»Ich … hasse Berlin und die Deutschen schon so, dass ich sie umbringen könnte. Überhaupt braucht man anscheinend zum Leben eine Reserve an Gesundheit und Kräften.« (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 16. Mai 1898)

Heideggers Philosophie hat ganz konkret und ganz unmittelbar Farbe bekannt

Jürgen Kaube hat in der FAZ Martin Heideggers Schwarze Hefte besprochen, die gerade erschienen sind. Er fragt:

»War Martin Heidegger Antisemit? Die Antwort lautet spätestens von heute an: ja.«

Auch für Michae Brumlik ist klar: die Schwarzen Hefte formulieren eine Hoffnung auf eine Welt ohne Judentum.

heideggerstraße
CC-Lizenz, Maximilian Halstrup

Als ich mit dem Studium begann, habe ich mich der sperrigen Universitätssprache u.a. mit Adornos Vorlesungen zur philosophischen Terminologie angenähert, die er 1962/1963 in Frankfurt am Main hielt (und leider noch nicht im Rahmen der Nachgelassenen Schriften erschienen sind).

Im Sommer 1962 machte Adorno in einer Vorlesung deutlich, dass Martin Heidegger mit seiner Blut-und-Boden-Philosophie Farbe bekenne. Nach der Vorlesung zu Heidegger am 10. Juli 1962 bekam er einen »Hörerbrief«. Seine 14. Vorlesung (12. Juli 1962) beginnt wie folgt: Continue reading “Heideggers Philosophie hat ganz konkret und ganz unmittelbar Farbe bekannt”

Undemokratischer Antifaschismus

Heute morgen im Radio: Gregor Gysi (Die Linke) wird von Christoph Heinemann (Deutschlandfunk) zur Ukraine interviewt (Hinweis von Martin Krauss, Protokoll deutschlandfunk):

Gysi: »Unsere Regierung sagt einmal, die Verfassung gilt nicht richtig, es ist eine Revolution. Am nächsten Tag sagen wir aber, wir müssen ja die Verfassung einhalten in Bezug auf die Krim. Und wissen Sie, was mich an der Regierung wirklich stört? Da sitzen aber richtige fünf Faschisten drin. Ich habe ja gestern den Vorsitzenden der Swoboda-Partei zitiert. Ich bitte Sie! Und ich finde, gerade die Bundesregierung hätte sagen müssen, hier ist eine Grenze überschritten. Ich meine, der hat gesagt, ›An die Gewehre‹, und dann hat er gesagt, ›Russensäue, Deutsche, Judenschweine und andere Unarten‹. Ich bitte Sie! Das ist der Vorsitzende einer Regierungspartei in der Ukraine.«
Heinemann: »Und mit der sollte man nicht mehr reden, oder wie?
Gysi: Ich hätte zu den anderen gesagt, die müsst ihr wieder rausschmeißen.«
Heinemann: »Das wäre ja schon wieder undemokratisch?«

Zum Nachhören:

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/03/14/dlf_20140314_0811_2cb546fa.mp3

 

»Die Vermögenslage wird fleißig umgedeutet.«

FAZFAZ 1:

»Deutschlands Vermögen ist besonders ungleich verteilt – so heißt es. Doch wer die Rente richtig mitrechnet, kommt zu ganz anderen Ergebnissen. … Nirgendwo in der Eurozone sind die Vermögen von Arm und Reich so ungleich verteilt wie in Deutschland: So hieß es am Mittwochmorgen in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Forscher hatten alle möglichen Vermögensarten herangezogen: Bankkonten, Wertpapiere, Gold und Schmuck, das eigene Häuschen, auch die private Rentenversicherung – die gesetzliche Rentenversicherung und die Pensionen aber fehlten in der Rechnung. Dabei macht sie die Vermögen der Deutschen viel gleicher.«

FAZ 2:

»Die Deutschen sind längst nicht so reich, wie immer gesagt wird. Auch deutsche Politiker wollen das nicht wahrhaben. Die Vermögenslage wird fleißig umgedeutet. … Manche wollen die Deutschen nun sogar mit ihren angeblich üppigen Rentenansprüchen reich rechnen. Das ist putzig. Seit wann werden in einem Umlageverfahren Vermögen gebildet? Der heimische Rentner oder Pensionär mag einen Rechtsanspruch haben, aber aufbringen muss das Altersgeld die nachwachsende Generation aus dem laufenden Einkommen. Das ist nicht vergleichbar mit Kapitalbildung über Lebensversicherung, Fonds oder Sparbuch.«

Via Stephan Kaufmann

Wer hat es erfunden? Friedrich Engels zur Causa Schweiz

Sie beschäftigten sich in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keuschheit und Jodeln. Von Zeit zu Zeit hielten sie Volksversammlungen, worin sie sich in Hornmänner, Klauenmänner und andre bestialische Klassen spalteten und nie ohne eine herzliche, christlich-germanische Prügelei auseinandergingen. Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohlgefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade. Von Zeit zu Zeit wurden ihrer zuviel, und dann ging die junge Mannschaft »reislaufen«, d.h. ließ sich in fremde Kriegsdienste anwerben, wo sie mit der unverbrüchlichsten Treue an ihrer Fahne hielt, mochte kommen, was da wollte. Man kann den Schweizern nur nachsagen, daß sie sich mit der größten Gewissenhaftigkeit für ihren Sold haben totschlagen lassen.

Friedrich Engels, Deutsche-Brüsseler-Zeitung, Nr. 91 vom 14. November 1847 (zitiert nach MEW)

Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago

»An Marx interessiert mich wirklich nur dieser eine Gedanke, die Entdeckung der immanenten Widersprüche im kapitalistischen Produktionssystem.« (Paul Mattick)

Der 1904 geborene Paul Mattick emigrierte 1926 in die USA. Ihm verhalf damals der Kölner Bürgermeister zum nötigen Kleingeld, Deutschland zu verlassen – Konrad Adenauer. Mattick rechnete dem Bürgermeister vor, dass die zukünftige finanzielle Unterstützung mehr Kosten verursachen würde, als das Geld, das er für die Ausreise brauche. Das leuchtete Adenauer ein und sorgte umgehend für eine unbürokratische Lösung.

Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Michael Buckmiller dem Rätekommunisten Mattick im Sommer 1976 in einem dreitägigen Gespräch entlockte. Das Interview ist nun zusammen mit literarischen Texten von Paul Mattick und einem Nachwort von Michael Buckmiller in der Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung im Unrast-Verlag erschienen. Dafür ist dem Verlag, Michael Buckmiller, den Herausgebern Marc Geoffroy und Christoph Plutte und vielen HelferInnen zu danken. Das Buch eröffnen Einblicke in einen fast vergessenen Alltag der proletarischen Weimarer Republik, Kämpfe jenseits von KPD und SPD und Intellektualität, die mehr mit Punk als mit Universität zu tun hat. Continue reading “Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago”

Gramsci lesen

Diese Woche hat in Berlin der Gramsci-Lesekurs begonnen. Pünktlich ist auch ein Gramsci-Reader erschienen, der einen guten Einstieg in die Gefängnishefte bietet. Obwohl ich das Buch lobe, muss ich es noch nicht in der Hand gehabt haben. Das habe ich bei Gramsci gelernt, der gleich im ersten Heft (§6) seiner Gefängnishefte zustimmend Antoine de Rivarol zitiert:

»Um ein Buch zu loben, ist es keineswegs nötig, es zu öffnen; aber wenn man beschlossen hat, es zu kritisieren, ist es immer klug, es zu lesen. Wenigstens solange der Autor am Leben ist.«

Anton Tanter hat eine andere schöne Passage entdeckt, in der sich Gramsci (Heft 8, §57, §60, Seite 977f.) über das Rezensieren äußert:

Als einzelner kann keiner die ganze über eine Gruppe von Themen veröffentlichte Literatur verfolgen, ja nicht einmal die über ein einziges Thema. Der kritische Informationsdienst für ein mäßig gebildetes Publikum oder für eines, das ins kulturelle Leben einsteigt, über alle Veröffentlichungen zu der Gruppe von Themen, die es besonders interessieren können, ist eine Pflichtleistung. Wie die Regierenden ein Sekretariat oder eine Pressestelle haben, die sie periodisch oder täglich über alle Publikationen informiert halten, deren Kenntnis für sie unverzichtbar ist, so tut es eine Zeitschrift für ihr Publikum. Sie wird ihre Aufgabe festlegen, sie eingrenzen, aber das ist ihre Aufgabe: dies verlangt jedoch, daß ein organischer und vollständiger Informationsblock geboten wird: begrenzt, aber organisch und vollständig. Die Rezensionen dürfen nicht zufällig und unregelmäßig sein, sondern systematisch, und sie müssen unbedingt von rückblickenden »zusammenfassenden Übersichten« zu den wesentlichsten Themen begleitet sein.

Anschließend unterscheidet Gramsci zwei Typen von Rezensionen:

›zusammenfassende‹ Rezensionen zu den Büchern, von denen man glaubt, daß sie nicht gelesen werden können, und Rezensionen-Kritiken zu den Büchern, die man zur Lektüre zu empfehlen für notwendig hält, aber natürlich nicht einfach so, sondern nachdem man deren Grenzen bestimmt und die teilweisen Mängel angegeben hat usw. Diese zweite Form ist die wichtigere und wissenschaftlich angemessenere, und sie muß wie eine Mitarbeit des Rezensenten an dem vom rezensierten Buch behandelten Thema aufgefaßt werden.

Gramsci wird seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutiert und rezipiert. Das Interesse scheint derart groß zu sein, dass es sich auch lohnt, eine Biographie auf den Markt zu bringen. So legte Rotbuch die Gramsci-Biographie von Giuseppe Fiori neu auf. Auch ein gutes Buch. Und um es klarzustellen: Das Buch hatte ich nicht nur in der Hand, sondern habe es auch gelesen – allerdings die alte Auflage.

Das »ökonomische Niveau von Dampflokomotiven«, Konsolenspielen und Apps

Sabine Nuss und ich antworteten vor ein paar Wochen auf einen nd-Beitrag von Manfred Sohn, in welchem er die Produktivkraftentwicklung der elektronischen Datenverarbeitung und Kommunikationstechnologie als endgültige Krisenursache für den Kapitalismus festmacht:

Das lächerliche Handygebimmel hat weder akustisch noch ökonomisch das Niveau von Dampflokomotiven, Strommasten oder dem Model T

Jenseits der theoretischen Kritik, die wir in unserem Artikel skizziert haben (und Sabine auch in ihrem Buch Copyright & Copyriot ausgeführt hat), sind mir in den letzten Tagen zwei Zahlen untergekommen, die sehr deutlich zeigen, dass in Sachen Profit in der informationellen Industrie viel Luft nach oben ist:

Der Studie der Association for Competitive Technology zufolge sind allein in der sog. App-Industrie 529.000 Personen vollzeitbeschäftigt. In den letzten fünf Jahren sind in diesem Bereich in Europa etwa  800.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden. (futurezone.at)

Ein weiteres Beoispiel: Allein am ersten Verkaufstag brachte das Konsolenspiel »Grand Theft Auto V« zirka das Dreifache der Herstellungskosten ein, 800 Millionen US-Dollar. Dabei wurde es in vielen Ländern erst ein paar Tage angeboten und die Onlineversion ist noch gar nicht veröffentlicht (spiegel.de).

Kontrollbehörde

»Erlauben Sie, Herr Vorsteher, daß ich Sie mit einer Frage unterbreche«, sagte K., »erwähnten Sie nicht früher einmal eine Kontrollbehörde? Die Wirtschaft ist ja nach Ihrer Darstellung eine derartige, daß einem bei der Vorstellung, die Kontrolle könnte ausbleiben, übel wird.«

»Sie sind sehr streng«, sagte der Vorsteher. »Aber vertausendfachen Sie Ihre Strenge, und sie wird noch immer nichts sein, verglichen mit der Strenge, welche die Behörde gegen sich selbst anwendet. Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen. Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, daß es ein Fehler ist.«

»Das wäre etwas völlig Neues!« rief K.

Aus: Franz Kafka: Das Schloss, fünftes Kapitel.