FAQ. Noch Fragen? (A)typisch: Prekarität als neue Normalität

siestaLaut einer neuen DGB-Studie (»Arbeitsqualität aus der Sicht von jungen Beschäftigten«) gehen etwa 30 Prozent der unter 35-Jährigen einer »atypischen« Beschäftigung nach – bei den unter 25-Jährigen ist es sogar fast die Hälfte. Unter »atypisch« versteht man befristete oder Teilzeitjobs, Zeitarbeit oder Minijobs. Laut dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) waren 2014 sogar fast 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs tätig. Selbst im öffentlichen Dienst schreitet die atypische Beschäftigung voran – und nicht nur im Wissenschaftsbetrieb. Das zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit von 2015 (»Befristete Beschäftigung im öffentlichen Dienst«). Ihre Untersuchung zeigt, dass der Anteil der befristeten Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Sektor über zehn Prozent höher ist als in der Privatwirtschaft. Untersucht wurde der Zeitraum von 2004 bis 2014.

Bereits 2008 stellte die Gruppe Blauer Montag heraus, dass auch in Großbetrieben die Prekarität steigt, indem Arbeitsabläufe reorganisiert und verstärkt indirekt gesteuert werden und die Beschäftigten zunehmend gespalten werden. (ak 532) »Atypische Beschäftigung« ist also nicht nur eine Form der verschärften Ausbeutung und Disziplinierung von Arbeitskräften, sondern auch ein Mittel der Herrschaft und Kontrolle über die Arbeiterklasse insgesamt. Und: Atypische Beschäftigung hat auch ein Geschlecht: Sie ist weiblich. Allerdings holen die Männer in den Beschäftigungsverhältnissen auf, die für viele Frauen seit Jahrzehnten normal sind.

Eigentlich ist das alles ein alter Hut: In den letzten Jahrzehnten ist das reguläre Beschäftigungsverhältnis erodiert, prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben sich ausgeweitet. Prekarisierung ist inzwischen selbst zur Normalität geworden – sie prägt die Arbeitsverhältnisse insgesamt. Das müssen Eltern erfahren, die ihren Kindern monatelang unbezahlte Praktika finanzieren, und Großeltern, die auf die Frage, was die Enkelkinder von Beruf seien, nur ein Schulterzucken als Antwort bekommen.

Mit Prekarisierung wird nicht nur die Zunahme an Unsicherheit (in) der Arbeit bezeichnet, sondern aufgrund der Entgrenzung von Leben und Arbeit die umfassende Verunsicherung des menschlichen Daseins. Dabei steht weniger Verarmung im Mittelpunkt des Interesses – auch wenn klar ist, dass die Einkommen aus atypischer Beschäftigung meist unter dem Durchschnitt liegen. Armut ist vielmehr ständig als Damoklesschwert präsent und liefert der ideologischen Anrufung des Neoliberalismus eine soziale Grundlage: »You can get it if you really want«. Vor diesem Hintergrund stellt sich indes die Frage, was hieran neu sein soll. Schließlich schrieb bereits Karl Marx vor über 150 Jahren: »In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Pauper (Armer; Anm. ak) ist: virtueller Pauper«. Dass Menschen dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf den Markt zu tragen, bedeutet also immer schon die Möglichkeit, dass die Ware Arbeitskraft entweder gar nicht oder nur zu einem nicht existenzsichernden Lohn verkauft werden kann. Ständige Produktivkraftentwicklung und die Einführung neuer Technologien entwerten die Arbeitskraft und setzen sie einem ungeheuren Anpassungsdruck aus – man geht dann auch mal krank zur Arbeit.

Wer also Marx gelesen hat, weiß, wie prekär die kapitalistische Normalität für all diejenigen ist, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Für die andere Seite des Kapitalverhältnisses, das Kapital, das sich die Mehrarbeit aneignet, ist diese Normalität nur von Vorteil: »Schon der Begriff atypisch ist völlig falsch und an der Sache vorbei. Es gibt keine atypische Beschäftigung« – so Roland Wolf, Geschäftsführer der Abteilung Arbeits- und Tarifrecht bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Befristung eröffne schließlich den Einstieg in eine Entfristung.

Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) vom November 2015 (»Atypische Beschäftigung – ein europäischer Vergleich«) arbeitet mehr als ein Drittel der europäischen Erwerbstätigen inzwischen in »atypischen« Beschäftigungsformen. In 20 von 28 EU-Ländern ist im Zeitraum von 2006 bis 2014 der Anteil an atypischer Beschäftigung gestiegen – auch dank der Eurokrise. In der FES-Studie ist zu lesen: »In den Programmländern der Troika, insbesondere in Griechenland, Portugal und Spanien, wurden Maßnahmen wie die rechtliche Erleichterung von atypischer Beschäftigung, die Herabsetzung von Mindestlöhnen, die Schwächung der Tarifbindung sowie der Abbau von Kündigungsschutz eingesetzt, die zu sozialen Schieflagen führen und sozialpolitische Zielsetzungen wie den Abbau von Armut konterkarieren.« Zeit, dass die Arbeiterklasse die sogenannte Eurokrise nicht als Staatsschuldenkrise interpretiert, sondern als einen Angriff des Kapitals auf Lebens- und Arbeitsverhältnisse.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 612 vom 19.1.2016.