Aufgeblättert: Der Hund hat die Hausaufgaben gefressen. Der Ökonom und Ideologiekritiker Philip Mirowski geht der Kugelsicherheit des Neoliberalismus nach

MirowskiMit der Krise vor über fünf Jahren witterten so manche Linken Morgenluft. Die Risse in der Hegemonie des Neoliberalismus würden größer. Inzwischen ist deutlich geworden, dass der Neoliberalismus alles andere als infrage steht. Dieser Hartnäckigkeit widmet Philip Mirowski sein neues Buch. Der Wirtschaftswissenschaftler war bereits zu Beginn der Krise gern gesehener Interviewpartner oder Autor in der FAZ, als noch der verstorbene Frank Schirrmacher dem Feuilleton vorstand. Dieser verstand jedoch nie, dass Konservative wie er für Mirowski ein Teil des Problems sind – nämlich als Verteidiger des Status quo. (1) Das zeigt das neue Buch, das bereits 2013 in englischer Sprache erschien.

Das Buch »soll die Strategien der Neoliberalen dokumentieren und ihre Erfolge begutachten, zu denen häufig auch die Wirtschaftswissenschaftler beigetragen haben.« Hierfür hält der Autor einen ganzen Strauß an Erklärungen bereit. Ein Großteil davon besaß jedoch auch schon vor der Krise Gültigkeit: Mirowski zeichnet nach, wie sich der Neoliberalismus etablierte und festigte und nach und nach alle Poren der Gesellschaft besetzte.

Die neoliberale Wirtschaftslehre charakterisiert Mirowski additiv. Dies liege auch daran, so der Autor, dass das »neoliberale Denkkollektiv« selbst ein eher verschwommenes Bild abliefere, was wiederum eine seiner Stärken sei. Es werde Heterogenität suggeriert, obwohl man im Grundsatz am gleichen Strang ziehe. Mit dem »neoliberalen Denkkollektiv« meint er ein unzusammenhängendes Ensemble von Akteuren aus Wissenschaft und Öffentlichkeit, die als »öffentlich wirkende Wissenseliten« etwa in Thinktanks, Medien, Forschungs- und Beratungseinrichtungen die neoliberale Fahne hochhalten.

Kritik und Häme gegenüber der Mainstreamwissenschaft, die die Krise von 2008 nicht kommen sah und wenig an Erklärungen zur Hand hatte, begegnet dieses Denkkollektiv mit der Produktion von Scheinwahrheiten und Verwirrungsstrategien, wie Mirowski an vielen Wortmeldungen nachzeichnet. Die Ökonom_innen kämen meist mit Entschuldigungen daher, die der in nichts nachstünden, dass der Hund die Hausaufgaben gefressen habe.

Der Mainstream sei auch deshalb so mächtig geblieben, weil es eine recht große Drehtür zwischen der Wall Street und der US-Regierung und zudem eine ausgeprägte Abhängigkeit der Wissenschaft von staatlichen Forschungsaufträgen, etwa der US-Zentralbank Fed, gebe. Mirowski spricht hier von einem »akademisch-staatlich-finanziellen Komplex«. Die Stärke des Neoliberalismus begründet sich weiter darin, dass viele seiner Protagonisten bereit waren, den Markt temporär zu »suspendieren«, um die Herrschaft des Marktes zu erhalten – etwa als Banken gerettet wurden.

Zugespitzt laufen Mirowskis Ausführungen jedoch leider auf eine relativ simple Argumentation hinaus – nämlich auf das, was er Agnotologie nennt, die Herstellung und Aufrechterhaltung von Unwissen mittels Manipulation. Leider fällt er hier hinter den auch von ihm geschätzten Michel Foucault zurück, der allein negative Praktiken der Absicherung für ungenügend hielt und immer wieder nach positiven Verfahren zur Herstellung von Macht fragte.

Erfrischend ist es dennoch, wenn Mirowski vor diesem Hintergrund etwa die als links geltenden Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz (oder Vertreter_innen der sogenannten Verhaltensökonomie) auseinandernimmt, die von Linken gerne als Kronzeugen dafür herangezogen werden, dass eine »falsche Wirtschaftspolitik« praktiziert werde. Dass die beiden alles andere als dem Neoklassikkritiker John M. Keynes verpflichtet sind, fällt dabei gerne unter den Tisch, was wiederum für Mirowski ein Grund ist, warum sich die neoklassische Lehre so hartnäckig hält: Oberflächlich werden Zugeständnisse gemacht, ohne jedoch auch nur ansatzweise die Prämissen der Neoklassik zu hinterfragen.

Interessant wäre zu hören, was Mirowski etwa zu Thomas Piketty sagt, dem französischen Ökonomen, der bei vielen Linken mit seinem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« für Hofknickse sorgte, aber bei genauerer Betrachtung auf neoklassischer Grundlage argumentiert. (2) Bleibt die Frage, warum selbst die noch so aufmüpfigen Ökonom_innen nicht bereit sind, die neoklassischen Prämissen hinter sich zu lassen?

Dass die Wirtschaftswissenschaften von der Neoklassik durchsetzt sind, ist relativ bekannt. Die Frage ist aber deshalb, wie etwa Universitäten, die Lehrbücher und der Markt für dieses Mittel der Ausbildung, die Simplifizierung in Form von Formalisierungen, der Arbeitsmarkt für angehende Ökonom_innen und so weiter als Filter und Disziplinierungsinstanz wirken, also die Vorherrschaft der Neoklassik reproduzieren. (3)

Hier liegt bei allem informativen Gehalt die Schwäche des Buchs. Täuschungen und »Mauschelei« reichen als Erklärung für die anhaltende Dominanz des Neoliberalismus nicht aus. Vielmehr müsste die Frage beantwortet werden, warum derartige Praktiken überhaupt funktionieren. Sicher ist die neoliberale Interpretationsfolie allgegenwärtig, auch im Alltag präsent. Aber auch hier stellt sich die Frage, warum sie sich so hartnäckig halten kann. Vieles von dem, was Mirowski als Erklärung präsentiert, ist eigentlich das, was er erklären müsste.

Philip Mirowski: Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist. Matthes & Seitz, Berlin 2015 325 Seiten, 29,90 EUR.

Anmerkungen:
1) Siehe hierzu etwa den Schirrmacher-Nachruf von Ulrike Herrmann in der taz (2.7.2014).
2) Ingo Stützle und Stephan Kaufmann: Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« – Einführung, Debatte, Kritik. Berlin 2014.
3) Die Frage stellte bereits vor 20 Jahren David Gordon in seinem Aufsatz »Zwischen Kelch und Lippe: Die Rolle der Mainstream-Ökonomie bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik«. Siehe PROKLA 99.

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 611 vom 15.12.2015