Arbeitszeit und Arbeitskraft. Was Karl Marx über Ausbeutung und den Verkauf der eigenen Lebenszeit schreibt

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»Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf«, heißt es in »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx. Was meint er damit?

Menschen leben und überleben, indem sie füreinander da sind, mit- und füreinander arbeiten. Die Formen, wie Arbeitsteilung organisiert ist, sind jedoch sehr verschiedenartig. Nicht nur historisch, sondern auch unter den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen sind es recht unterschiedliche soziale Logiken, die da am Werke sind.

In der Wohngemeinschaft regelt die Putzuhr, wann wer was zu tun hat. Die patriarchal geprägten Geschlechterverhältnisse bestimmen, dass vor allem Frauen im Haushalt ihre Lebenszeit für sogenannte reproduktive Arbeiten opfern müssen. Damit aber auf dem Herd überhaupt etwas gekocht werden kann, müssen Lebensmittel vorhanden sein. Die erhält man im Supermarkt gegen einen Teil des Lohns. Diesen bekommt man nur dann, wenn man einen Teil der eigenen Lebenszeit jemand anderem als Arbeitszeit zur Verfügung stellt. In einer von Herrschaft geprägten Gesellschaft verfügt man nur selten über die eigene Lebenszeit. Selbst dann, wenn man keine Arbeit hat: Das Arbeitsamt will nicht, dass man in Urlaub geht, man soll sich »zur Verfügung« halten. Die sozialen Logiken, die über Teile unserer Lebenszeit verfügen, sind aber durchaus verschieden – und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen institutionalisiert: (Sozial-)Staat, Haushalt oder Kapital.

In seinem Hauptwerk, »Das Kapital«, konzentriert sich Marx auf die Analyse der Herrschaft des Kapitals. Wie aber sieht die Herrschaft des Kapitals aus und was hat das mit Arbeitszeitverkürzung zu tun? Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nimmt im Kapitalismus eine besondere Form an: Sie ist sachlich vermittelt und bekommt einen natürlichen Anstrich. Dass das Essen auf dem Tisch vorher mal Waren waren, dass man dafür Geld bezahlen muss, erscheint als das Natürlichste der Welt – und schon immer so gewesen zu sein. Ist aber nicht so. Das perfide daran: Erstmals erscheint die Ausbeutung als beglichen. Wie das?

Marx stellt sich die Frage, wie in einer Tauschgesellschaft aus Geld überhaupt mehr Geld werden kann, das heißt Profit. Schließlich werden beim Warentausch immer gleiche Wertgrößen ausgetauscht. Wo soll da ein »Mehr« herkommen? Marx ist es zu einfach, Ausbeutung dadurch zu erklären, dass irgendwer irgendwen aufgrund irgendwelcher Gewaltverhältnisse übers Ohr haut. Marx will der Ausbeutung in einer Gesellschaft auf die Schliche kommen, die keine persönlichen Knechtschaftsverhältnisse kennt, sondern in der die Menschen formal frei und gleich sind. Wie ist Ausbeutung unter diesen gesellschaftlichen Voraussetzungen möglich?

Unter all den Waren, die getauscht werden, gibt es eine Ware, die einen besonderen Gebrauchswert hat, nämlich Quelle von Wert zu sein: die Arbeitskraft. Marx macht im weiteren seiner Analyse deutlich, dass »Arbeitskraft« eben nicht »Arbeit« sei. Die Arbeitskraft sei Arbeitsvermögen, also eine Potenz. Arbeit sei dagegen der Vorgang selbst und führt süffisant hinzu: »Wer Arbeitsvermögen sagt, sagt nicht Arbeit, so wenig als wer Verdauungsvermögen sagt, Verdauen sagt. Zum letzteren Prozess ist bekanntlich mehr als ein guter Magen erfordert.«

Fürs Arbeiten braucht es bekanntlich auch mehr, nämlich Produktionsmittel. Im Kapitalismus sind die Arbeitskraft und die Produktionsmittel getrennt und es liegt beim Kapital, den Eigentümern der Produktionsmittel, dass das Arbeitsvermögen auch realisiert, gearbeitet wird, Kontrolle über fremde Arbeit ausgeübt wird. Wie findet nun Ausbeutung statt? Die Arbeitskraft bekommt nur das als Lohn, was ihre Reproduktion ermöglicht. Die Zeitspanne, die dafür gearbeitet werden muss, nennt Marx »notwendige Arbeit«. Sagen wir bei einem Acht-Stundentag vier Stunden. Alles, was darüber hinausgeht, also die restlichen vier Stunden, ist die »Mehrarbeit«. Das in der Zeit entstandene Wertprodukt (Mehrprodukt) streicht das Kapital ein – die Arbeitskraft verkauft sich zu ihrem Wert, wird nicht beschissen und dennoch ist Profit möglich. Während in vorkapitalistischen Gesellschaften die Ausbeutung immer auf Grundlage persönlicher Herrschaftsverhältnisse organisiert war, ersichtlich war, wann (auf dem Feld des Herrn) und was (»Zehnter«) für die »Herren« geschuftet wurde, sind die Verhältnisse im Kapitalismus sachlich vermittelt und die Mehrarbeit erscheint als bezahlt: Im Lohn gilt der Acht-Stunden-Tag als entgolten, die geleistete Arbeit – kaum eine Gewerkschaft unterscheidet heutzutage zwischen Arbeitskraft und Arbeit. Sie nähren stattdessen in ihren Forderungen (»gerechter Lohn für Arbeit«) die Vorstellung, man werde für die geleistete Arbeit, nicht für die Arbeitskraft bezahlt. Als Skandal erscheint nur, dass zu lange oder zu intensiv gearbeitet wird. Marx hingegen wollte auch die Ausbeutung im Museum wissen, die auf Grundlage »gerechter Löhne« organisiert wird.

Der Kampf für eine kürzere Wochenarbeitszeit und weniger Lebensarbeitszeit ist dennoch ein sehr wichtiger gesellschaftlicher Kampf. Er hat zum Ziel, die Kontrolle des Kapitals über die Lebenszeit zurückzudrängen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das, was als lebensnotwendig gilt, nicht gleichermaßen sinkt. Und nicht erst seit Hartz IV wird genau hier Hand angelegt. Ein gewerkschaftlicher Kampf für kürzere Arbeitszeit muss deshalb einhergehen mit einem Kampf für gute Lebensbedingungen für diejenigen, die nicht arbeiten können oder wollen, nicht ihre Arbeitskraft verkaufen. Wenn die Politik über »Zumutbarkeitsregelungen«, das »Lohnabstandgebot« und soziale Leistungen oder die Höhe der menschenwürdigen Mindestsicherung diskutiert, dann hat sie immer auch das Lohnniveau im Blick – ein Grund, warum sich gewerkschaftliche Kämpfe nicht allein um Arbeitszeit und Löhne drehen sollten, sondern auch um ein gutes Leben für diejenigen, die keine Arbeit haben.

Erschienen in: neues deutschland, 11.9.2015.