FAQ. Noch Fragen? Schuld und Sühne

Deut­sche in Athen. Foto: like­tobite (CCBY2.0)
Deut­sche in Athen. Foto: like­tobite (CCBY2.0)

Ein deutscher CDU-Politiker, der Vorsitzende des Europa-Ausschusses des Bundestages, Gunther Krichbaum, bezeichnete die griechischen Reparationsforderungen als Ablenkungsmanöver, mit der »nur von der eigenen Unfähigkeit« mit dem Ziel abgelenkt werden solle, »sich selbst in eine Opferrolle« zu begeben. Deutschland zeigt damit ein weiteres Mal, dass es nicht nur Exportweltmeister ist, sondern auch Weltmeister in der Disziplin Täter-Opfer-Umkehrung.

Am 6. April 1941 überfiel die Wehrmacht Griechenland. Der Überfall war ein regelrechter Beutezug, ein raubwirtschaftlicher »Kahlfraß«, so die Wirtschaftsoffiziere der Wehrmacht in ihren Tagebüchern. Die gesamte Tabakernte der Jahre 1939 und 1940 wurde de facto enteignet: 85.000 Tonnen im Wert von 175 Millionen Reichsmark (RM). Bis zum Frühjahr 1942 wurden 270.000 Tonnen Tabak nach Deutschland geschafft. Das brachte Hitler dank Tabaksteuer nicht nur bis zu 2,5 Milliarden RM ein. Der Tabak war auch ein wichtiger Rohstoff, um die Moral der Mörderbanden der Wehrmacht und SS im Krieg aufrechtzuerhalten. Auch andere wichtige Rohstoffe wurden nach Deutschland »exportiert«: sämtliche Erze, Mineralöl- und Kohlevorräte, Olivenöl, Baumwolle und Korinthen sowie Seide für die Fallschirmproduktion.

Die Ausplünderung hatte nach Angaben des Wehrwirtschaftsstabs zur Folge, dass 1941 etwa 40 Prozent des griechischen Realeinkommens von den Besatzungs- und Staatskosten in Anspruch genommen wurden. 1942 waren es bereits 90 Prozent! Die Ausplünderung verursachte eine Destabilisierung der Wirtschaft und eine Hungersnot. Im Hungerwinter 1941/42 starben über 100.000 Menschen. Danach setzte eine andere Form der Ausplünderung ein. 1942 wurde Griechenland dazu gezwungen, den deutschen Besatzern einen Kredit zu gewähren. Nach 1945 waren noch 476 Millionen RM offen, die nie bezahlt wurden. Diese Zwangsanleihe soll aus Sicht Griechenlands bedient und getilgt werden – sie entspräche heute etwa 11 Milliarden Euro.

Szenenwechsel: Im Juni 2000 beschließt der Deutsche Bundestag, dass Griechenland in die Eurozone aufgenommen werden soll. Auf dem EU-Gipfel am 19. Juni wird bestätigt, dass Athen alle gewünschten Kriterien erfüllt und zum 1. Januar 2001 den Euro einführen darf. Anfang 2015 lehnte das Verwaltungsgericht Berlin eine Klage des Stern ab. Das Magazin drängte auf die Herausgabe eines Briefwechsels aus der damaligen Zeit zwischen den Duz-Freunden Kostas Simitis (dem damaligen griechischen Premier) und dem seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder. »Ich hoffe auf deine Unterstützung bei den nun folgenden Verfahren«, schrieb Simitis – den Rest ließ das Kanzleramt schwärzen.

Als Begründung führten dessen Hausjurist_innen unter anderem an, dass es »nicht absehbar« sei, »wie eine Offenlegung der genauen Umstände des Beitritts Griechenlands zur Eurozone bei öffentlichen und privaten Investoren aufgenommen würde«. Was ein offenes Geheimnis ist: Vom EU-Statistikamt bis zur Bundesregierung war eigentlich allen klar, dass Griechenland die formalen Kriterien für einen Eurobeitritt nicht erfüllte. Bleibt die Frage: Wieso unterstützte Schröder Kostas trotzdem?

2014 lieferte der griechische Unternehmensberater Alexandros Avatangelos einen plausiblen Grund: Der Eurobetritt sei Teil eines Koppelgeschäfts mit der deutschen Rüstungsindustrie gewesen. Mit den frisch eingeführten Euro kaufte nämlich Athen 170 Leopard-2-Panzer und U-Boote. Aber ein weiteres »Geben« und »Nehmen« liegt nahe: Anfang Mai 2000 bestätigte das Oberste Gericht Griechenlands, dass den Hinterbliebenen des NS-Massakers in Distomo 54 Millionen D-Mark auszuzahlen seien. Die rot-grüne Bundesregierung weigerte sich. Sie wollte keinen Präzedenzfall schaffen. Die Weigerung führte zu einer Eskalation: Das Vermögen des deutschen Goethe-Istituts in Athen sollte beschlagnahmt und im September 2000 zwangsversteigert werden.

Wenige Wochen zuvor gab der griechische Justizminister, Michalis Stathopoulos, noch ein paar Interviews. So machte er Ende Juli 2000 gegenüber der Berliner Zeitung deutlich, dass »die allgemeine Frage von Reparationen auch 55 Jahre nach Kriegsende politisch als nicht abgeschlossen betrachtet wird«. Und dem Magazin Spiegel sagte er: »Ich bedaure, dass Kultureinrichtungen von diesem Streit nicht ausgenommen werden, aber ich kann von Amts wegen nichts dagegen tun.«

Von Amts wegen tat er dann aber wenige Wochen später doch etwas anderes: Er verweigerte seine Unterschrift. Der eigentlich rechtskräftige Beschluss zur Beschlagnahme deutschen Vermögens konnte deshalb nicht in die Tat umgesetzt werden. Die gleichzeitig eingeleitete Zwangsversteigerung des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen wurde ebenso abgesagt – just von der Gerichtsvollzieherin, die noch kurz zuvor die Enteignung des Goethe-Instituts angeordnet hatte. Ein aussagekräftiger Zufall, dass plötzlich die NS-Vergangenheit ruhen durfte, als der griechische Eurobeitritt dank deutscher Unterstützung unter Dach und Fach war. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 604 vom 21.4.2015