Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren neun Exzerpthefte.

Vor ziemlich genau 150 Jahren, um den 23. März 1865 herum, bekam Karl Marx Post aus Deutschland. Der Philosoph und Ökonom lebte da bereits seit 15 Jahren in London. Mit dem Schreiben des Otto-Meißner-Verlags kamen auch die Vertragsunterlagen für ein Buch, das später zu einem der weltbekanntesten werden sollte: »Das Kapital«. Ein Erscheinen war für den Herbst 1867 geplant.

Etwa 20 Jahre vor diesem einschneidenden Ereignis betrat Marx das erste Mal englischen Boden. Eine Studienreise führte ihn zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels nach Manchester, wo Engels schon einige Zeit verbracht hatte. Beide planten die Herausgabe einer »Bibliothek der vorzüglichsten sozialistischen Schriftsteller des Auslandes« und wollten hierfür Material sichten. Marx plante zudem eine Schrift, die nie erschien: »Zur Kritik der Politik und Nationalökonomie«.

Was während des Aufenthalts in Manchester entstand, waren jedoch neun Exzerpthefte. Vier der sogenannten Manchester-Hefte sind jetzt in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erschienen (die Hefte 1 bis 5 bereits 1988) – sie markieren einen Übergang in Marx’ Arbeit und Selbstverständnis. Die Herausgeber des neuen MEGA-Bandes bezeichnen die Zeit ab 1845 deshalb auch als »formative Phase«: »Marx begibt sich in dieser Phase ganz bewusst auf das Feld der politischen Ökonomie und damit auf die Ebene eines Wissenstyps, der gerade erst seine Formierung und Kanonisierung abgeschlossen hat und maßgeblich das Gesellschaftsdenken des 19. Jahrhunderts prägen wird.« Der Untertitel des Kapitals wird nicht ohne Grund »Kritik der politischen Ökonomie« sein.

1845 rechneten Marx und Engels mit ihrem »philosophischen Gewissen« ab, wie Marx es selbst formulierte. Marx lässt ein bestimmtes theoretisches Selbstverständnis hinter sich, wendet sich zunehmend der Ökonomiekritik zu – und auch das »Proletariat« ist nicht mehr einfach ein philosophischer Begriff, sondern eine reale, soziale Größe, die wirkliche Assoziation der kämpfenden Arbeiterklasse. »Man muss die ›Philosophie beiseite liegen lassen‹«, schrieben Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie«, die fast zeitgleich entstand. Beide sind geradezu berauscht von der gesellschaftlichen Realität und der Empirie, von realen Auseinandersetzungen und der Materialität gesellschaftlicher Praxis – und »der Produktion« im umfassenden Sinn. Etwas, was 1845 in Manchester auch außerhalb der Studierstube zu erfahren war. Manchester war eines der industriellen Zentren der Welt. Aber nicht nur deshalb gingen die beiden Revolutionäre nach Manchester und nicht etwa nach London. Die englische Weltmetropole hatte zwar ungleich mehr Literatur zu bieten, aber ein Bibliotheksbesuch hätte nicht nur Geld gekostet, sondern er war zudem alles andere als einfach: Man brauchte eine persönliche Empfehlung, um überhaupt eine Besucherkarte zu bekommen. In Manchester kannte sich Engels zudem gut in den Bibliotheken aus, Bücher waren einfach auszuleihen und auch Genossen im Vorort hatten Material, das man sichten konnte. Continue reading “Formative Phase: zum neuesten MEGA-Band und die »Manchester Hefte«”