Das Kapital sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszynski. Oder: Wer liest eigentlich Piketty (zu Ende)?

Das web.de-Team hat sich anlässlich der Buchmesse in Frankfurt am Main etwas ganz Lustiges einfallen lassen: eine Liste der Bücher, die man einfach nicht zu Ende lesen kann. Auf dem schsten Platz steht das marxsche Kapital:

Politische Literatur ist sowieso etwas für Fortgeschrittene. Wir wagten uns an Das Kapital von Karl Marx – und scheiterten. Als Urlaubslektüre taugt es auf gar keinen Fall: 15 Seiten waren für uns genug. Dafür waren einerseits die komplexen Gedankengänge verantwortlich und andererseits die kleine Schrift im Buch. So anstrengend muss das Lesen nun auch wieder nicht sein.

Das erinnert an eine Anek­dote, die von Isaac Deut­scher bzw. Ignacy Daszyn­ski über­lie­fert ist[1. Das Ori­gi­nal fin­det sich in Deut­schers Essay-Sammlung ›Mar­xism in Our Time‹. Die ange­führte Para­phrase fin­det sich hier.]:

Das Kapi­tal sei eine zu harte Nuss, meinte Ignacy Daszyn­ski, einer der bekann­tes­ten sozia­lis­ti­schen ›Volks­tri­bune‹ um die Jahr­hun­dert­wende, er habe es des­halb nicht gele­sen. Aber Karl Kau­tsky habe es gele­sen und vom ers­ten Band eine popu­läre Zusam­men­fas­sung geschrie­ben. Diese habe er zwar eben­falls nicht rezi­piert, aber Kelles-Krausz, der Partei-Theoretiker, habe Kau­tskys Buch gele­sen und es zusam­men­ge­fasst. Kelles-Krausz Schrift habe er zwar auch nicht gele­sen, aber der Finanz­ex­perte der Par­tei, Her­mann Dia­mand, habe sie gele­sen und ihm, Daszyn­ski, alles dar­über erzählt.

Es gibt jedoch einen weiteren Kapital-Band, der nicht zu Ende gelesen wird: Einem Bericht des Wall Street Journals zufolge, rangierte nach erscheinen in der englischen Übersetzung Pikettys Capital in the 21st Century nicht nur auf den Bestsellerlisten ganz weit vorne, sondern belegt auch Platz 1 im Ranking jener Bücher, deren Lektüre vorzeitig beendet wird (Abbruchquote: 97,6 Prozent) – das sagen zumindest die Amazon-Daten über das Leseverhalten auf dem hauseigenen E-Book-Reader Kindle. Piketty verwies damit den bisherigen ewigen Spitzenreiter Stephen Hawking (Eine kurze Geschichte der Zeit) auf Platz 2 (Abbruchquote 93,4 %).

→ Zum Dos­sier »Piket­tys Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert«.
Inhalts­ver­zeich­nis und eine Lese­probe zu: Ste­phan Kaufmann/Ingo Stützle: Kapi­ta­lis­mus: Die ers­ten 200 Jahre.  Tho­mas Piket­tys »Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert« – Ein­füh­rung, Debatte, Kri­tik (Ber­lin 2014).

Anmerkung:

Ist eine Tautologie ein Gesetz, Thomas Piketty?

Obwohl Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert einige Ausführungen zu ökonomischer Theorie macht, will er vor allem durch die Empirie und seine historischen Ausführungen bestechen:

Es ist ja eigentlich mehr ein Geschichtsbuch als ein Wirtschaftsbuch. Es geht um die Geschichte des Besitzes. (welt.de)

Piketty-KapitalDennoch gibt Piketty sich mit seinen empirischen Ergebnissen nicht zufrieden und extrapoliert aus empirischen Regelmäßigkeiten eine allgemeine Gesetzmäßigkeit (r > g) und sogar zwei »Gesetze des Kapitalismus«. Was Piketty als »Gesetze« anpreist, entpuppt sich jedoch als »tautologische Beschreibungen«, so taz-Redakteurin Ulrike Herrmann.

Piketty schreibt selbst, dass das erste Gesetz, »the law α = r × β is actually a pure accounting identity, valid at all times in all places, by construction«, also gar kein Gesetz sei. Warum er es dann trotzdem aufstellt, bleibt unklar. Das Gesetz ist nicht mehr als eine Definition, nämlich, dass der Anteil des Kapitaleinkommens am gesamten Volkseinkommen genauso groß ist wie das Produkt aus Kapitalrendite und dem Kapital-Einkommen-Verhältnis.

Ähnlich verhält es sich mit dem »zweiten Gesetz«. Continue reading “Ist eine Tautologie ein Gesetz, Thomas Piketty?”