FAQ. Noch Fragen? Und täglich grüßt der Dax

Was waren die letzten Wochen aufregend! Bricht der Dax die magische Rekordmarke? Die Medienwelt fieberte den 10.000 Punkten entgegen. Die Präsenz des Aktienindex ist Ausdruck einer gefestigten neoliberalen Hegemonie: Noch Mitte der 1990er Jahre wäre es undenkbar gewesen, dass vor Beginn der Tagesschau und vor der Wettervorhersage die Stimmung auf dem Börsenparkett ausführlich Thema sein könnte. Inzwischen hat es alle zu interessieren, wie die Großinvestoren die Lage einschätzen.

Den ersten Aktienindex brachte Charles Henry Dow 1885 auf den Weg. Der Wirtschaftsjournalist und Mitbegründer des Wall Street Journals wollte anhand einer Kennzahl messen, wie sich der noch junge US-Aktienmarkt entwickelt. Ökonomische Kennzahlen wurden mit der Jahrhundertwende zunehmend wichtig. Sie ermöglichen Vergleiche, sind die Basis der (Staaten-)Konkurrenz. Das zeigt das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das allerdings wesentlich jünger ist. Joseph Schumpeter schrieb noch in seinem 1939 erschienenen Buch zu Konjunkturzyklen, dass eine Größe wie das BIP vor allem ein »Produkt der Einbildung« sei. Eine derartige Meinung war damals weit verbreitet. So gab der Ökonom Karl Diehl 1926 empört zu Protokoll: »Nach unserer Kritik wird wohl der letzte Rest von Hochachtung gegenüber Versuchen, eine einfache Summe für Volkseinkommen und Volksvermögen zu nennen, verschwunden sein.«

Beim Aktienmarkt ist die Kondensierung von Marktbewegungen auf eine Zahl einfacher. Dow zog damals einfach den Durchschnitt aus den Schlusskursen der zwölf wichtigsten Aktienwerte. Die mathematische Formel wurde mit der Zeit ausgefeilter, etwa nachdem Dividendenzahlungen und Eigenkapital als Faktoren einbezogen wurden. Dafür sorgte bereits der Statistiker und Dows Geschäftspartner Edward David Jones, der das »sehr wichtige Börsenbarometer« (Jones) zu einem wichtigen Erfolgsmaßstab für BörsianerInnen machen wollte – der US-Aktienindex Dow Jones war geboren. Der Dax hingegen ist weitaus jünger. Er erschien erstmals 1988. Davor publizierten die Börsen-Zeitung und das Bankhaus Hardy & Co. einen Index, der seit Ende der 1950er errechnet wurde.

Neben den sogenannten Leitindizes, in denen die wichtigsten börsennotierten Unternehmen vertreten sind, gibt es eine Vielzahl weiterer Indizes, die sich entweder auf eine bestimmte Branche spezialisieren, etwa »Technologiewerte«, oder Indizes, die um die beste »Performance« wetteifern.

Im Kapitalismus wird nicht nur mit Aktien spekuliert, sondern jede produzierte Ware ist eine Spekulation darauf, ob sie zum kalkulierten Preis profitabel abgesetzt werden kann. Bei Aktien, die die Indizes ausmachen, »verdoppelt« sich diese Spekulation: Aktienpreise orientieren sich an Erwartungen, Erwartungen auf gute Profite und damit satte Dividenden oder allein an einem Anstieg des Preises. In der bürgerlichen Wirtschaftslehre ist deshalb der Aktienmarkt wie eine »Wettervorhersage«. Die meteorologische Metapher ist dabei kein Zufall. So hat Thomas Schwarz in einer Diskursanalyse herausgearbeitet, dass Dynamiken »in der Börsenberichterstattung durch einen Rückgriff auf den meteorologischen Diskurs naturalisiert« werden: Börsenfrühling, Hochs und Tiefs, die sich ablösen, und freundliche Tagesabschlüsse. (Siehe kultuRRevolution 36/1998)

Der Finanz- und damit auch der Aktienmarkt ist, so die VWL-Lehre im Anschluss an den Wirtschaftsnobelpreisträger von 2013, Eugene Fama, ein vollkommener Markt. Hier herrsche nahezu vollständige Information, weshalb jeder bekannte Faktor im Aktienkurs reflektiert sei. Auf diese Idee kam bereits Peter Hamilton, Dows Nachfolger beim Wall Street Journal. Er behauptete, dass der Aktienindex eine Art Barometer sei: Alle entscheidungsrelevanten Informationen über Vergangenheit und Zukunft seien bereits im Kursverlauf enthalten und ermöglichten so Prognosen, die wiederum relevant für den Kauf und Verkauf von Aktien sind.

Warum aber steigen die Aktienkurse in den letzten Jahren? Banken wurden von der EZB mit viel Geld versorgt, der Leitzins gesenkt. Eine nicht unbeträchtliche Menge des Geldes landet auf den Finanzmärkten, wo die Investoren in ihrer Jagd nach Profit renditeträchtige Wertpapiere kaufen: Aktien und Anleihen von Banken oder Staaten. Der Dax steigt.

Als »Wirtschaftsthermometer« ist der Dax aber auch eine Form, die Bevölkerung vor den Fernsehsendern einzubinden. Das ist jedoch nicht einfach »Ideologie«. Vielmehr sind die Lohnabhängigen in den letzten Jahren verstärkt in die Aktienmärkte integriert worden: Sie halten Beteiligungen an den Unternehmen, an die sie ihre Arbeitskraft verkaufen, und mit der Privatisierung der Rente ist der in die Ferne gerückte Ruhestand mit Wertpapieren »abgesichert«. Ist der Dax gesund, freut sich der Mensch.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 595 vom 17.6.2014.