Zeitumstellung: Arbeitskraft soll geschunden werden

München, Montag, d. 1. Mai 1916. 10 Uhr vormittags, aber gestern um diese Zeit war erst 9 Uhr. Damit ist also der liebe Gott um 1 Stunde geprellt. Landauer verteidigte die Einführung der „Sommerzeit“ als vortreffliche Methode von Lichtersparnis. Ich werde aber das eklige Gefühl nicht los, daß Arbeitskraft geschunden werden soll, und wenn auch vorläufig von einer Verlängerung der Arbeitszeit nicht die Rede ist, so scheint mir doch die Verlängerung des Tageslichts als Verführung dazu höchst verdächtig, ganz abgesehn davon, daß die Verkürzung der Nacht allerlei volkshygienische Bedenken in mir weckt. Denn abgesehn von der gewonnenen Morgenstunde, die dadurch erzielt wird, daß [es] im Sommer zwei Stunden nach Sonnenaufgang ebenso hell ist wie drei Stunden danach, muß der Frühaufsteher, der doch auch Frühzubettgeher ist, künftig auf die ganze Stunde Schlaf verzichten, weil zu seiner Schlafengehenszeit um 9 Uhr abends im Hochsommer noch heller Tag ist. Sentimentale Bedenken gegen die neue Methode habe ich allerdings garnicht, da ja die Einführung der mitteleuropäischen Einheitszeit schon lange ein Betrug gegen die Sonne gewesen ist.

Erich Mühsam, Tagebücher