Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago

»An Marx interessiert mich wirklich nur dieser eine Gedanke, die Entdeckung der immanenten Widersprüche im kapitalistischen Produktionssystem.« (Paul Mattick)

Der 1904 geborene Paul Mattick emigrierte 1926 in die USA. Ihm verhalf damals der Kölner Bürgermeister zum nötigen Kleingeld, Deutschland zu verlassen – Konrad Adenauer. Mattick rechnete dem Bürgermeister vor, dass die zukünftige finanzielle Unterstützung mehr Kosten verursachen würde, als das Geld, das er für die Ausreise brauche. Das leuchtete Adenauer ein und sorgte umgehend für eine unbürokratische Lösung.

Das ist nur eine von vielen Anekdoten, die Michael Buckmiller dem Rätekommunisten Mattick im Sommer 1976 in einem dreitägigen Gespräch entlockte. Das Interview ist nun zusammen mit literarischen Texten von Paul Mattick und einem Nachwort von Michael Buckmiller in der Reihe Dissidenten der Arbeiterbewegung im Unrast-Verlag erschienen. Dafür ist dem Verlag, Michael Buckmiller, den Herausgebern Marc Geoffroy und Christoph Plutte und vielen HelferInnen zu danken. Das Buch eröffnen Einblicke in einen fast vergessenen Alltag der proletarischen Weimarer Republik, Kämpfe jenseits von KPD und SPD und Intellektualität, die mehr mit Punk als mit Universität zu tun hat. Continue reading “Paul Mattick, das marxsche Kapital und die Arbeitslosenbewegung von Chicago”

Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde – eine Lesung

Nach der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt am Main müsste ein Name bekannt sein: Luiz Ruffato. Er war literarischer Eröffnungsredner, das Gastland war Brasilien. Sein Buch »Es waren viele Pferde« erschien 2012 im Hamburger Verlag Assoziation A. Am 27. Oktober 2013 las der Schauspieler Jörg Pohl im Hamburger GOLEM aus dem Roman. Im Anschluss führt Roger Behrens ein Gespräch mit Luiz Ruffato.

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Die Soundcloud-Seite des Golem (mit vielen anderen Mitschnitten) findet ihr hier.

Reaktionen auf und Buchvorstellung von »Austerität als politisches Projekt«

Inzwischen liegen für »Austerität als politisches Projekt« erste Besprechungen vor. Weitere wurden bereits angekündigt. Das freut mich sehr. Das Buch stelle ich im Rahmen von Veranstaltungen auch hier und da vor. Ich habe begonnen, alles hier zu sammeln.

Das marxsche Kapital: unlesbar für Laien?

»Wer ›Das Kapital‹ lesen will, stößt auf eine Überfülle von Schwierigkeiten. Ja, man darf sagen, für Laien ist es überhaupt unlesbar. Und die meisten Menschen sind doch nun mal Laien.« (Julian Borchardt, 1919)

Letzte Woche referierte Fritz Fiehler im Rahmen der Satellitenseminare der Kapitalkurse über Einführungen ins marxsche Kapital. In der Veranstaltungseinladung hieß es:

Eine Einführung in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ist immer schon eine Interpretation des Originals, eine bestimmte Lesart und eine Verdichtung des politisch-theoretischen Kontexts, in dem Marx jeweils rezipiert wurde. Das Kapital wird also immer neu gelesen – und anders. Warum? Welche Debatten, Auseinandersetzungen und Fragen bringen sie in spezifischer Form zum Ausdruck?

Der Vortrag ist inzwischen als Audiodokumentation verfügbar:

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Renner Fritz Fiehler konstatierte, dass sich frühe Einführungen meist auf die Darstellungen des ersten Bandes konzentrierten, auf die Darstellung der Wert- und Mehrwerttheorie. Das ist durchaus richtig. Leider gehen bei derartigen Verallgemeinerungen spannende Ausnahmen unter. Hierzu gehören im Fall der Einführungen bzw. popularisierender Darstellungen des Kapitals u.a. die »gemeinverständliche Ausgabe« des Kapitals (1919) von Julian Borchardt und der Band »Die Wirtschaft als Gesamtprozess und die Sozialisierung« (1924) von Karl Renner. Denn: Beide Bücher haben alle drei Bände zum Gegenstand. Continue reading “Das marxsche Kapital: unlesbar für Laien?”

We proudly present: PolyluxMarx. A Capital Workbook in Slides

polyluxmarx-en

For several years now, people have been starting to dust off Marx and return to his analysis of society. This is mainly due to the social turmoil in global capitalism, weaknesses in prevailing explanations of economic relationships and the harrowing crises the world has faced since the 1990s. In particular, a younger generation of readers – untainted by former ideological battles – is starting to read Capital. Whether in universities, educational institutions, unions, or in their own living rooms, small groups are discussing Marx’s critique of political economy. This is exactly what PolyluxMarx aims to support. This website provides a collection of annotated PowerPoint slides that illustrate the central arguments from Capital. We also use concise introductory texts and notes on methodology and learning to make Capital easier to read.

You can download all of the PowerPoint slides available on polyluxmarx.de/en/ and preview the first slide in a set by clicking on it.

Gramsci lesen

Diese Woche hat in Berlin der Gramsci-Lesekurs begonnen. Pünktlich ist auch ein Gramsci-Reader erschienen, der einen guten Einstieg in die Gefängnishefte bietet. Obwohl ich das Buch lobe, muss ich es noch nicht in der Hand gehabt haben. Das habe ich bei Gramsci gelernt, der gleich im ersten Heft (§6) seiner Gefängnishefte zustimmend Antoine de Rivarol zitiert:

»Um ein Buch zu loben, ist es keineswegs nötig, es zu öffnen; aber wenn man beschlossen hat, es zu kritisieren, ist es immer klug, es zu lesen. Wenigstens solange der Autor am Leben ist.«

Anton Tanter hat eine andere schöne Passage entdeckt, in der sich Gramsci (Heft 8, §57, §60, Seite 977f.) über das Rezensieren äußert:

Als einzelner kann keiner die ganze über eine Gruppe von Themen veröffentlichte Literatur verfolgen, ja nicht einmal die über ein einziges Thema. Der kritische Informationsdienst für ein mäßig gebildetes Publikum oder für eines, das ins kulturelle Leben einsteigt, über alle Veröffentlichungen zu der Gruppe von Themen, die es besonders interessieren können, ist eine Pflichtleistung. Wie die Regierenden ein Sekretariat oder eine Pressestelle haben, die sie periodisch oder täglich über alle Publikationen informiert halten, deren Kenntnis für sie unverzichtbar ist, so tut es eine Zeitschrift für ihr Publikum. Sie wird ihre Aufgabe festlegen, sie eingrenzen, aber das ist ihre Aufgabe: dies verlangt jedoch, daß ein organischer und vollständiger Informationsblock geboten wird: begrenzt, aber organisch und vollständig. Die Rezensionen dürfen nicht zufällig und unregelmäßig sein, sondern systematisch, und sie müssen unbedingt von rückblickenden »zusammenfassenden Übersichten« zu den wesentlichsten Themen begleitet sein.

Anschließend unterscheidet Gramsci zwei Typen von Rezensionen:

›zusammenfassende‹ Rezensionen zu den Büchern, von denen man glaubt, daß sie nicht gelesen werden können, und Rezensionen-Kritiken zu den Büchern, die man zur Lektüre zu empfehlen für notwendig hält, aber natürlich nicht einfach so, sondern nachdem man deren Grenzen bestimmt und die teilweisen Mängel angegeben hat usw. Diese zweite Form ist die wichtigere und wissenschaftlich angemessenere, und sie muß wie eine Mitarbeit des Rezensenten an dem vom rezensierten Buch behandelten Thema aufgefaßt werden.

Gramsci wird seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutiert und rezipiert. Das Interesse scheint derart groß zu sein, dass es sich auch lohnt, eine Biographie auf den Markt zu bringen. So legte Rotbuch die Gramsci-Biographie von Giuseppe Fiori neu auf. Auch ein gutes Buch. Und um es klarzustellen: Das Buch hatte ich nicht nur in der Hand, sondern habe es auch gelesen – allerdings die alte Auflage.

Aufgeblättert: Europas Revolution von oben

Steffen Vogel nimmt Angela Merkels Forderung einer »marktkonformen Demokratie«, die sie 2011 auf einer Pressekonferenz formulierte, als Ausgangspunkt, die letzten Jahre Austeriätpolitik Revue passieren zu lassen. In fünf Kapiteln zeichnet Vogel die Krise nach, die spezifischen Bedingungen in Spanien und Griechenland, wie die Troika in der Eurozone agierte und schließlich Deutschland die EU nach seinem Sparbilde formte: Schuldenbremse für alle. Vogel schließt mit einer solidarischen Referenz auf die Proteste der letzten Jahre: »Die Zukunft Europas wird heute in Sitzungssälen geschrieben. Ab morgen sollte sie auf den Straßen und Plätzen geschrieben werden.« Das Buch ist mit heißer Nadel gestrickt, will es doch am Puls der Zeit linken AktivistInnen und kritischen Köpfen eine Handreichung zur Eurokrise geben. Wer Details und wichtige Weichenstellungen der letzten Jahre Zeitungslektüre vergessen hat, wird für das Buch dankbar sein. Leider fehlt etwas analytischer Tiefgang. Nicht diskutiert wird, was ein Staat und was die EU als politisches Gebilde ist und wie sich Privatinteressen gesellschaftlich verallgemeinern. Für Vogel wird eine falsche Politik verfolgt bzw. eine, die bestimmten Interessen nützt. Wichtig für linke Gegenmacht ist jedoch zu verstehen, wie sich deutsche Interessen und die spezifischen Kapitalfraktionen als Allgemeininteressen europäisch verallgemeinern konnten und welche Rolle europäische Staatlichkeit dabei spielte.

Ingo Stützle

Steffen Vogel: Europas Revolution von oben. Sparpolitik und Demokratieabbau in der Eurokrise. Laika Verlag, Hamburg. 165 Seiten, 19,80 EUR.

Erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 587 vom 15.10.2013

FAQ. Noch Fragen? Gefährdet der Shutdown den Weltmarkt?

Lincoln Memorial during the Government Shutdown. (flickr/J. Sonderman)

Anfang Oktober 2013. Die Freiheitsstatue, Parks und Museen sind geschlossen – die USA pleite? Nur noch elementare staatliche Dienstleistungen werden garantiert. Selbst die Geheimdienste leiden unter dem zugedrehten Geldhahn. Der Finanzsoziologe Rudolf Goldscheid erklärte das Budget als das »aller verbrämenden Ideologie entkleidete Gerippe des Staates«. Die Medien interessierte jedoch weniger das aufklärerische Moment des Shutdown – nämlich dass offensichtlich wurde, was den Staat im Innersten zusammenhält: die organisierte Gewalt -, als vielmehr, ob die Weltwirtschaft am Abgrund stehe. Continue reading “FAQ. Noch Fragen? Gefährdet der Shutdown den Weltmarkt?”

Bitcoins: »Wahrscheinlich werden wir sie einfach liquidieren«

Anfang Oktober wurde die Handelsplattform Silk Road abgeschaltet. Die Website konnte man nur über das Anonymisierungsnetzwerk Tor erreichen. Silk Road wird verdächtigt, dem Drogenhandel zu dienen. Bezahlt wurde nur mit Bitcoins. »Das FBI geht davon aus, dass auf Silk Road illegale Güter in einem Umfang von 9,5 Millionen Bitcoin gehandelt wurden, das entspricht fast einer Milliarde Euro« heißt es bei golem.de.

Stellt sich die Frage, was das ermittelnde FBI mit den beschlagnahmten Bitcoins macht. Kommen sie in die Asservatenkammer? Gibt es bereits so etwas wie eine digitale Asservatenkammer? Zumindest den bekannten Suchmaschinen ist nichts bekannt. Aber vielleicht weiß Anton Tanter ja etwas.

Laut FBI blüht den beschlagnahmten Bitcoins ein ganz anderes Szenario: »Wir werden die Bitcoins herunterladen und aufbewahren«, antwortete eine laut SpiegelOnline eine FBI-Sprecherin. Wenn das Gerichtsverfahren beendet ist, soll mit den Bitcoins etwas passieren, was in Zeiten von NSA-Skandal, Big Data eher ungewöhnlich ist: »Wahrscheinlich werden wir sie einfach liquidieren.« Das FBI könnte also einfach die Delete-Taste drücken. So einfach. Ob sie das bei wirklichem Geld auch machen würden? Wohl eher nicht. Ich hatte mich ja vor einigen Tagen gefragt, ob Bitcoins Geld sind oder nicht viel eher Zahlungsversprechen. Wie auch immer: Über einen derartigen vom FBI angekündigten Delete-Vorgang würden sich so manche NetzaktivistInnen freuen – nur eben bei anderen angefallenen Daten.

Das »ökonomische Niveau von Dampflokomotiven«, Konsolenspielen und Apps

Sabine Nuss und ich antworteten vor ein paar Wochen auf einen nd-Beitrag von Manfred Sohn, in welchem er die Produktivkraftentwicklung der elektronischen Datenverarbeitung und Kommunikationstechnologie als endgültige Krisenursache für den Kapitalismus festmacht:

Das lächerliche Handygebimmel hat weder akustisch noch ökonomisch das Niveau von Dampflokomotiven, Strommasten oder dem Model T

Jenseits der theoretischen Kritik, die wir in unserem Artikel skizziert haben (und Sabine auch in ihrem Buch Copyright & Copyriot ausgeführt hat), sind mir in den letzten Tagen zwei Zahlen untergekommen, die sehr deutlich zeigen, dass in Sachen Profit in der informationellen Industrie viel Luft nach oben ist:

Der Studie der Association for Competitive Technology zufolge sind allein in der sog. App-Industrie 529.000 Personen vollzeitbeschäftigt. In den letzten fünf Jahren sind in diesem Bereich in Europa etwa  800.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden. (futurezone.at)

Ein weiteres Beoispiel: Allein am ersten Verkaufstag brachte das Konsolenspiel »Grand Theft Auto V« zirka das Dreifache der Herstellungskosten ein, 800 Millionen US-Dollar. Dabei wurde es in vielen Ländern erst ein paar Tage angeboten und die Onlineversion ist noch gar nicht veröffentlicht (spiegel.de).

Der süße Klang von Ordnung. 1973 als Jahr des Neoliberalismus

Auf Rainer Hank ist verlass. Wenige Tage vor dem Scheitern der FDP am 22. September machte er sich anlässlich der Verleihung des Karl-Hermann-Flach-Preises in der FAZ Gedanken über die Zukunft des Liberalismus und blickte deshalb zurück ins Jahr 1973 – das Jahr des Putsches in Chile vor 40 Jahren.

Das liest sich dann so:

Was war los in diesem Jahr der Zäsur 1973? Das dominierende Thema des Sommers war die sich zuspitzende Situation in Chile, die schließlich am 11. September 1973 zu jenem gewaltsamen Putsch führte, mit welchem General Augusto Pinochet den 1970 demokratisch an die Macht gekommenen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende entmachtete und mit seiner Junta eine Militärdiktatur errichtete, die sich bis 1990 halten konnte. Auf die Menschenrechtsverletzungen, darunter mehrere Tausende Ermordete, mehrere zehntausend Fälle von Folter und gewaltsam „verschwundenen“ Chilenen, reagierte die Welt mit großem Abscheu.

Ja, wirklich. Abscheu? Continue reading “Der süße Klang von Ordnung. 1973 als Jahr des Neoliberalismus”