FAQ. Noch Fragen? Deutschland arm gerechnet

Nach dem 1. Mai 2013 titelte die Süddeutsche Zeitung: »Trotz europäischer Schuldenkrise: Deutsche so reich wie nie«. Nur einen Monat zuvor war in der gleichen Zeitung zu lesen: »EZB-Studie zu Wohlstand in Europa: Zyprer reicher als Deutsche«. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, weiß der Volksmund.

Statistiken sind mit der Durchsetzung bürgerlicher Herrschaft entstanden. Bereits Marx stellte fest: »Die Statistik ist die erste politische Wissenschaft! Ich kenne den Kopf eines Menschen, wenn ich weiß, wieviel Haare er produziert.« Der Staat muss wissen, wie er seine Bevölkerung möglichst produktiv im Sinne des Kapitals zurichten kann. Dafür bedurfte es einheitlicher Längen (in Preußen galten im 18. Jahrhundert noch über 20 unterschiedliche Definitionen des Längenmaßes Fuß), Menschen wurden gezählt und ihre Wohnstätten dem postalischen und polizeilichen Zugriff gefügig gemacht: die Hausnummer wurde geboren. Menschen wurden Rechtspersonen und zur Steuerbasis. Die Entstehungsbedingungen des Wissens über »Land und Leute«, die Statistik, ist in diesem Sinne auch eine Form von Politik und Herrschaft.

Daher verwundert es nicht, wenn etwa taz-Autorin Ulrike Herrmann in ihrem Buch »Hurra, wir dürfen zahlen« feststellt, dass viele Vermögensstatistiken nichts taugen, weil der Datenzugriff oft schwierig ist und in manchen Erhebungen Einkommen ab einer gewissen Höhe erst gar nicht berücksichtigt werden – das ist kein Statistikproblem, sondern eine Form der Umverteilung.
Die erwähnte EZB-Studie über die armen Deutschen hat auch so ihre Tücken, die hinter der Schlagzeile schnell verschwanden. So zählt sie etwa das Vermögen pro Haushalt, nicht pro Kopf – wenn man berücksichtigt, dass wieviele Köpfe unter einem Dach wohnen, sieht die Vermögenswelt schon anders aus. Auch der Erfassungszeitraum der Studie ist unterschiedlich. In Deutschland wurden die Daten 2010/2011 erhoben, in Spanien hingegen 2008, als die Immobilienpreise noch nicht eingebrochen waren. Die Datensätze sind zudem nicht statistisch ermittelt, etwa auf Basis von Steuererklärungen, sondern gehen auf Umfragen (etwa Anrufe) zurück. Ob die freiwilligen Angaben stimmen, kann niemand nachprüfen.

Auch was überhaupt als Vermögen anerkannt wird, macht die Deutschen arm. Während Immobilien hinzugezählt werden (und in Spanien 90 Prozent der angeführten Vermögen aus Immobilen bestehen, die seit Zählung um über 25 Prozent an Wert verloren haben!), wurden die staatlichen Versorgungssysteme (Rente, Gesundheit) nicht berücksichtigt. Laut Wirtschaftsforschungsinstitut DIW summiert sich das Vermögen pro deutschen Kopf allein durch diesen Effekt auf rund 70.000 Euro. Aber weil die EZB das nicht mitzählt, wundert es nicht, dass das mittlere Vermögen der deutschen Haushalte laut EZB-Umfrage bei nur 50.000 Euro liegt und in Spanien mehr als dreimal so hoch ist.

Ist Deutschland also arm? Dazu passt nicht, dass laut dem 16. World Wealth Report von 2012 die Zahl der sogenannten High Net Worth Individuals (HNWI) in Deutschland im Vergleich zu Jahr 2011 um rund drei Prozent gestiegen ist und Deutschland damit hinter den USA und Japan auf dem dritten Platz der Länder mit den meisten Millionären liegt. In den genannten Ländern leben insgesamt 53,3 Prozent aller HNWI.

Das zeigt: Das Vermögen ist vor allem ungleich verteilt. Das reichste ein Prozent der Deutschen besitzt über ein Drittel des gesamten Vermögens – die reichsten zehn Prozent besitzen zusammen sogar zwei Drittel. Die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat demgegenüber nahezu nichts oder sogar Schulden. Noch bevor Rot-Grün sich der Sache annehmen konnte, wurde bereits 1996 die allgemeine Vermögenssteuer abgeschafft. Mit Folgen: 1980 trugen die Steuern auf Vermögen 3,3 Prozent zu den gesamten Abgaben bei, 2008 war es ein Prozent weniger. Bei den Steuern auf Eigentum (u.a. Vermögen-, Erbschafts- und Grundsteuer) liegt Deutschland mit 0,9 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (2007) weit hinter anderen Ländern – 27 der 33 OECD-Staaten bitten ihre Vermögenden stärker zur Kasse als Deutschland.

Auch der Spitzensteuersatz korrigiert daran wenig, gilt er doch seit ein paar Jahren nur noch für Lohneinkommen, Mieteinnahmen, Unternehmenseinkommen von Selbstständigen, soweit sie nicht reinvestiert werden. Fallen Kapitalerträge und Gewinne in Kapitalgesellschaften oder Familienunternehmen an, fällt kein Spitzensteuersatz an, sondern nur Körperschaftsteuern von 15 Prozent für Gewinne sowie Solidaritätszuschlag, Gewerbesteuer oder Steuern auf Auslandseinkünfte. Laut dem DIW bedeutet dies im Endeffekt nur eine Belastung von etwa 30 Prozent.

Ingo Stützle

Erschienen in: ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 583 vom 17.5.2013